Falcon Lake (2022)

DIE SCHRECKEN EINES SOMMERS

8/10


falconlake© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, KANADA 2022

REGIE: CHARLOTTE LE BON

DREHBUCH: CHARLOTTE LE BON, FRANÇOIS CHOQUET, NACH DER GRAPHIC NOVEL VON BASTIEN VIVÈS

CAST: JOSEPH ENGEL, SARA MONTPETIT, MONIA CHOKRI, ARTHUR IGUAL, KARINE GONTHIER-HYNDMAN, THOMAS LAPERRIERE, ANTHONY THERRIEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Es ist ein Sommer wie damals. Zumindest fühlt es sich so an, auch wenn Smartphones oder andere mobile Endgeräte der Zerstreuung dienen. Es fällt nicht schwer, diese Dinge zu übersehen. Man will sie in dieser anregenden Zeitkapsel gar nicht als inhärent wissen – man will nur den beiden jungen Menschen zusehen, die sich anscheinend gefunden haben und sich gegenseitig faszinierend finden. Da gibt es Bastien, gerade mal Teenager, der bald seinen 14. Geburtstag feiert und mit Eltern und jüngerem Bruder irgendwo in Kanada an einem See Urlaub macht. Da gibt es Chloe, ein 16jähriges Mädchen mit langem dunklem Haar und gern auf Partys. Die Eltern der beiden sind befreundet, beide Familien teilen sich eine Hütte, und bald teilen die beiden Teenies auch die meiste Zeit des Tages miteinander, indem sie um den See strawanzen, sich Geschichten erzählen und Fotos machen, die den Geist eines ertrunkenen Jungen abbilden, der an den Ufern und verhüllt in weißes Laken immer wieder erscheint, da er selbst noch nichts davon weiß, eigentlich gestorben zu sein. Diese Idee beruht auf keinen wahren Begebenheiten, Chloe hat sich das einfach ausgedacht. Und dennoch verlässt einen nicht das Gefühl, dass der Ort ein Geheimnis birgt, welches, von der Zeit losgelöst, irgendwann in Erscheinung treten könnte. Wie das nun mal so ist bei jungen Menschen, erlebt der junge Bastien seine erste Romanze, seine ersten sexuellen Erfahrungen und erste Eifersucht. Probiert Verbotenes, fühlt noch nie Dagewesenes. Lässt die Nähe zu einem Menschen zu, der sie sucht.

Charlotte Le Bon, die man bislang nur als Schauspielerin zu schätzen gelernt hat, wagt sich mit dieser bittersüßen Ballade über die Gefühle junger Menschen an die Verfilmung einer Graphic Novel von Bastien Vivès heran. Dabei gelingt ihr das Kunststück einer stimmungsvollen Romanze, die sich niemals mit oberflächlichen Klischees abgeben will, sondern durch die greifbaren Bedürfnisse der Protagonisten hindurch bis auf ihre verborgenen Ängste stößt. Da ist viel Sorge, alleingelassen zu werden oder nirgendwo dazuzugehören. Da ist viel Angst vor Peinlichkeiten oder dem Umstand, dem anderen nicht zu genügen. Wie Joseph Engel als Bastien es meistert, so unverkrampft und wahrhaftig diesen Sommer so zu erfahren, als wäre er tatsächlich Teil seiner Biografie, bildet das Herzstück des Films, gemeinsam mit der inspirierenden Chemie zwischen ihm und Sara Montpetit, die an Ali McGraw erinnert und einen ungestümen Lebens- und Leidensdrang mit sich bringt.

Es passiert nicht viel am Falcon Lake. Es passieren Dinge, die wir alle auf eine ähnliche Weise selbst schon erlebt haben, die auch einfach so passieren, weil es eben Sommer ist, und der Tag lang genug für Müßiggang, Philosophieren und kindlichen Wagemut. Und dennoch ist der letztes Jahr in Cannes erstmals gezeigte Geheimtipp mehr als nur Stimmungsbild und Beobachtung. Hier liegt etwas Metaphysisches zugrunde – eine Dimension, die keiner so recht greifen kann, die Bastien und Chloe aber umgeben, als wären sie Teil einer höheren Bestimmung. Diese geheimnisvolle, impressionistische Welt lässt den See als Tor in eine andere Welt erscheinen, den Wald drumherum als Ereignishorizont. Hier ist vieles im Gange, dass zwischen den gesprochenen Zeilen liegt und sich meist nur in der Haltung der Figuren oder im malerischen Naturalismus eines Ortes so richtig andeutet. In seiner von Licht und Wärme, Regen und Gewitter durchdrungenen Weise erinnert Falcon Lake dabei an das intensive Erwachen Timothée Chalamets aus Call Me By Your Name.

Die Schrecken eines Sommers sind alles andere als banaler Horror – sie sind die unerwarteten Gefühle, die man zulassen muss, sich ihnen aber nicht gänzlich hingeben darf. Sie sind der Glaube an Dinge, die man nicht sehen kann. Wie die eigene Zukunft.

Falcon Lake (2022)

O Beautiful Night (2019)

MIT DEM TOD EINEN TRINKEN

3/10


obeautifulnight© 2019 NFP marketing & distribution GmbH


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2019

REGIE: XAVER BÖHM

BUCH: ARIANA BERNDL, XAVER BÖHM

CAST: NOAH SAAVEDRA, MARKO MANDIĆ, VANESSA LOIBL, EVA-MARIA KURZ, JOHANNA POLLEY, PETER CLÖS, GERHARD BÖS, SVEN HÖNIG, SOOGI KANG U. A. 

LÄNGE: 1 STD 26 MIN


Normalerweise, wenn der Tod an die Tür klopft, wird, wenn es nach der mittlerweile leider in Rente gegangenen Austro-Band EAV geht, etwas zu trinken geben. Zum Beispiel Jagatee. Am besten etwas, wonach man nach dem vierten oder fünften Nachschlag nicht mehr so ganz den Überblick hat. Wie passend für eine Wesenheit, die arme Seelen abholen will ins Jenseits, und dann nicht mehr weiß, wer nun als nächstes ins Gras beißen soll. Den Tod kann man auch ganz leicht überlisten, wie jenes alte Mütterchen, das den Gevatter innigst darum bittet, morgen wiederzukommen, und dieser sein Ehrenwort noch dazu an die Tür des Hauses kritzelt. So lebt die Alte ewig, und der Sensenmann muss klein beigeben.

Im Falle dieser nachtaktiven Tragikomödie mit Mystery-Touch kommt der Tod für einen Angsthasen wie Juri (Noah Saavedra, u. a. Egon Schiele: Tod und Mädchen) gerade recht, ist dieser doch fest davon überzeugt, dass seine Albträume, die einen unmittelbar bevorstehenden Herzinfarkt ankündigen, sehr bald wahr werden. Die Furcht vor dem Leben lähmt ihn – doch der Tod, das Objekt der Furcht schlechthin, weicht in O Beautiful Night von seiner eigentlichen Aufgabe ab. Eines Nachts erscheint er dem schlotternden Hypochonder wie aus dem Nichts, um ihn mitzunehmen. Zuvor aber soll der, der eigentlich nie wirklich erfahren hat, was es heißt, zu leben, das Dasein nochmal genießen. Vom Tod würde man sowas nicht erwarten. Man würde aber auch nicht erwarten, dass dieser in Gestalt eines mit slawischem Akzent sprechenden Vagabunden hier aufschlägt. Statt bleichgesichtig und schwarz ummantelt wie bei Ingmar Bergman ist dieser in Feierlaune und holt den verängstigten Juri aus seinem Schneckenhaus, um ihn durch die Nacht zu geleiten. Dabei ist ein Besuch bei Stripperin Nina, jener Frau, der Juri sein Herz geschenkt hat, mit inbegriffen.

O Beautiful Night hätte so werden können wie Jan-Ole Gersters Berlin-Ballade Oh Boy mit Tom Schilling als orientierungsloser Tagedieb, der durch die Facetten einer Großstadt mäandert. Doch Xaver Böhm, der auch am Drehbuch mitschrieb, verfängt sich in einer Episodenhaftigkeit, die zum Stückwerk wird. Vielleicht liegt es dabei auch an der Darstellung der Figur eines angreifbaren Todes, welcher der Slowene Marco Mandić ein allzu weltliches Gesicht gibt. Dafür frönt dieser viel zu sehr den irdischen Gelüsten, und jede Szene, in der Mandić performt, schreit danach, niemals anzunehmen, dass es sich dabei um eine Entität wie den Tod handeln könnte. Als Teufel wäre die Figur, die wie Lucifer aus gleichnamiger Serie den Lastern des Lebens nicht abgeneigt ist, nachvollziehbar genug. Der Tod aber ist etwas anderes. Zwar auch nicht unbedingt so, wie Neil Gaiman sich diesen in der Serie Sandman vorstellt, aber weiser, ruhiger und doch irgendwie anders als wir Menschen, die nur so umherirren in ihrem beschränkten Radius der eigenen Wahrnehmung. Mandić verleiht der Figur bis auf kleine Ausnahmen keinen größeren Radius, vielleicht weiß er manchmal mehr als andere und taucht ganz plötzlich dort auf, wo er vorher noch nicht gestanden hat. Sonst aber fällt es mir schwer, dieser Figur ein gewisses Maß an Respekt entgegenzubringen.

Wenn schon dieser Tod die recht sperrigen Episoden nicht auf einen Nenner bringen kann – wer tut es dann? Eigentlich niemand. Weder Noah Saavedra, der als Anti-Jedermann in Sachen Hedonismus ziemlich verloren wirkt und sich vom Tod herumschubsen lässt, noch die unnahbare Vanessa Loibl, die völlig unmotiviert zu den beiden schrägen Vögeln ins Auto steigt. Was bei O Beautiful Night nicht funktioniert, sind die nur in Ansätzen vorhandenen Charakterbilder der Figuren, die nicht zu dem werden, was sie eigentlich sein sollten. Die nicht den Film tragen wollen, der aber genau darauf setzt. Saavedra und Loibl lassen sich treiben, währen Mandić als Tod seinen Job scheinbar satthat. Die feine Klinge blitzt manchmal auf, wenn der Bote des Jenseits mit ein paar Russen ebensolches Roulette spielt. Doch auch in diesen Szenen ist die Motivation für das große Ganze zu selbstgefälliges Kunstkino, das seine einzelnen Szenen liebt, seine Figuren aber halbfertig auf eine existenzialistische Tour schickt, die sich niemals so anfühlt, als ginge es um Leben und Tod.

O Beautiful Night (2019)

The New Mutants

PRÄVENTIVNACHSITZEN FÜR ANDERSBEGABTE

6/10


© 2020 The Walt Disney Company


LAND: USA 2019

REGIE: JOSH BOONE

CAST: BLU HUNT, MAISIE WILLIAMS, ANYA TAYLOR-JOY, CHARLIE HEATON, ALICE BRAGA, HENRY ZAGA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


„Sie sehen in uns einen Schlaukopf, einen Muskelprotz, eine Prinzessin, eine Ausgeflippte und ein Freak.“ Kinder der Achtziger und darüber hinaus wissen: diese Worte standen im Brief an den Schulleiter, der in John Hughes ewigbestem Teeniedrama fünf aus der Rolle gefallene Oberstufler zum Nachsitzen verdonnert hat. Gegen Konventionen verstoßen kann schon mal passieren, schlimmer ist noch, wenn man nicht aus seiner Haut kann. Zumindest noch nicht – später dann, im Erwachsenenalter, vielleicht doch. Die fünf ganz anders gelagerten Teenies im etwas anderen Nachsitzdrama, die legen ein Verhalten an den Tag, das auch Tage später nicht anders sein wird. Denn diese fünf, die können wirklich nicht anders. Denn sie sind – salopp gesagt – Mutanten. Kein schönes Wort, fast schon diskriminierend. Drei Mädels, zwei Jungs – die müssen ihren jugendlichen Alltag in einem obskuren Heim zubringen, das von einer ebenfalls recht obskuren, aber augenscheinlich sehr verständnisvollen jungen Ärztin geführt wird, die den ganzen Laden im Alleingang schmeißt. Das ist schon mehr als seltsam. Und es wird noch seltsamer, nachdem Neuzugang Dany das Quintett komplett macht. Was sie für Superkräfte hat, weiß keiner, nicht mal sie selbst. Die anderen? Die können schon mal heiß gehen, ihr Wunschportal öffnen oder den Mond anheulen. Doch bald wird dieses düstere Gemäuer zu einem Schauplatz paranormaler Ereignisse, die alles gemeinsam haben: sie lassen die Ängste der Insassen real werden.

Klingt nach Freddy Krüger? Oder nach dem mit Hohn leicht besiegbaren Irrwicht aus dem Harry Potter-Universum? Der Endeffekt ist ähnlich. Was also tun, um den eigenen Ängsten entkommen? Klar doch – sich ihnen stellen. Das ist Coming of Age auf der Psycho-Schiene, das ist wie schon erwähnt, The Breakfast Club fürs Marvel-Zeitalter. Das The New Mutants kurze Zeit im Giftschrank Hollywoods landete, um dann streckenweise neu nachgedreht zu werden, um dann wieder gefühlt x-mal in punkto Kino-Release verschoben zu werden, mag ich kaum glauben. So komplex ist das Konzept dieser Teenie-Fantasy nun wirklich nicht. Ein waschechter Horror ist Josh Boones Film – anders als angekündigt – auch nicht geworden, ein paar stimmige Genre-Momente gibt es, aber die wählen den Weg des geringsten CGI-Know-Hows. Highlight des Films sind die grinsenden Männer in Schwarz: formschön entworfen, herrlich schrecklich und noch dazu von Marilyn Manson vertont. Alles andere orientiert sich, um nicht ganz den Anschluss ans X-Men-Universum zu verlieren, an das Look and Feel der bereits bekannten und etablierten Welten rund um Charles Xavier, Magneto und Co.

Misslungen ist The New Mutants aber nicht. Maximal hat der Film sein Thema verfehlt, doch bleibt man als Zuseher flexibel, ärgert das wenig. Dafür sorgen zum Beispiel ganz in sich ruhende Momente zwischen „Arya Stark“ Maisie Williams und Blu Hunt, sorgt das aufgesetzt exaltierte Freakverhalten Anya Taylor-Joys. Die beiden Jungs bleiben da eher etwas blass. So gesehen gehört der Film voll und ganz den Mädels, die genauso wenig als Stereotypen der Jugend angesehen werden wollen wie die uns bekannten Fünf aus dem Breakfast Club. Am Ende des Films von John Hughes wird ja bekanntlich David Bowie zitiert: „…And these children that you spit on as they try to change their worlds are immune to your consultations. They’re quit aware of what they’re going though…” Genau das trifft auch auf die neuen Mutanten zu. Und so gesehen macht das obskure Kammerspiel durchaus Sinn.

The New Mutants