Im Westen nichts Neues (2022)

UM ELF UHR IST DER KRIEG VORBEI

6,5/10


imwestennichtsneues© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, USA, GROSSBRITANNIEN 2022

REGIE: EDWARD BERGER

CAST: FELIX KAMMERER, ALBRECHT SCHUCH, AARON HILMER, EDIN HANASOVIĆ, DANIEL BRÜHL, DEVID STRIESOW, ADRIAN GRÜNEWALD, ANDREAS DÖHLER U. A. 

LÄNGE: 2 STD 28 MIN


Sie sitzen sich gegenüber: Der Sozialdemokrat Matthias Erzberger (Daniel Brühl) von den Rechten als Novemberverräter später ermordet, und die französische Delegation, in einem Zug nahe Compiègne. Deutschland akzeptiert seine Niederlage und unterzeichnet den Waffenstillstand für den elften November um elf Uhr vormittags. So leicht geht das. Einfach die Unterschrift auf ein Blatt Papier setzen, und die wenigen Soldaten, die das Schlachten im zermürbenden Stellungskrieg in Nordfrankreich jahrelang geführt hatten, dürfen endlich heimkehren – sofern manch rechtsgesinnter General nicht auf die Idee kommt, diesen weitreichenden Entschluss zu ignorieren. Auf der einen Seite: das gesittete Schachern um Menschenleben, auf der anderen Seite das entmenschlichte Grauen. Mit dieser erschreckenden Diskrepanz weiß Regisseur Edward Berger geschickt zu arbeiten, und gerade in diesen Szenen, wenn der sattgefressene Oberbefehlshaber Friedrich (Devid Striesow) sein mehrgängiges Dinner verzehrt, während auf der anderen Seite Soldaten ihren Durst mit verdrecktem Regenwasser stillen, erinnert so manches an die grotesken Episoden aus Karl Kraus Den letzten Tagen der Menschheit, und wäre es nicht ein so erschütternder Teil der europäischen Geschichte, ließe sich fast eine Satire draus machen, wie Starship Troopers von Paul Verhoeven, der seine in Propagandawerbespots eingebetteten Rekruten für aussichtslose Kämpfe gegen Superinsekten verheizt. Doch das hier, Im Westen nichts Neues, ist realer Stoff, während das andere nur Mittel zum Zweck erscheint, die naive Euphorie einer Hurra-Kriegsführung den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen. Berger lässt es bleiben, seine Schlachtplatte als künstlerisch motivierte Ansage gegen die Verrohung des Menschen zu inszenieren, wie es Francis Ford Coppola in Apocalypse Now getan und damit eine humanphilosophische Metaebene geschaffen hat. Im Westen nichts Neues ist, was es ist, bis auf seine letzten Szenen vielleicht, denn da erlaubt sich Berger eine frappante Änderung gegenüber der Vorlage. Der sinnlose Tod des Paul Bäumer wird dadurch noch sinnloser, falls das überhaupt möglich ist. Der Wille der Mächtigen zum Krieg noch bizarrer, falls man auch hier noch steigern kann. Bis dahin aber liefert ein opulent ausgestatteter, fast schon konventioneller Eventfilm Bilder von selten gesehener Detailperfektion, die an Sam Mendes‘ Schlachtenszenen in 1917 erinnern. Mendes aber setzt den Fokus sofort auf seine beiden Hauptdarsteller George McKay und Dean Charles Chapman und findet mit diesen Identifikationsfiguren sofort den richtigen Zugang zum Publikum. Die großen Schlachtfelder bleiben dort meistens irgendwo im Peripheren, die Odyssee der beiden durch eine unwirklich scheinende Apokalypse besitzt die nötige Subjektivität, um näher an die Protagonisten heranzukommen.

In der Verfilmung von Erich Maria Remarques Roman ist zwar auch Paul Bäumer die zentrale autobiographische Figur des Geschehens, doch Berger lässt gleich mehrere Rollen gleich wichtig erscheinen, wird flächendeckender und zieht seinen Radius viel weiter. In dieser Verfilmung wird, so unpassend es auch klingen mag, ein groß angelegtes Gemetzel zu großem Kino. Die Kamera blickt wie auf ein akribisch gesetztes Diorama, von links rücken die Tanks über das endzeitliche Schlachtfeld, rechts stürmen Miniaturen von Soldaten die mit allerlei Leichen und ausgebrannten Trümmern übersäte Landschaft. Und dann im Detail, wie bei Sam Mendes: Die Entbehrungen im Schützengraben. Verstümmelte Opfer, Blut, Mord, Totschlag. Wer sowas aushält, bekommt einiges serviert. So hat der erste Weltkrieg auszusehen, und mit Sicherheit hat sich das Team um Berger allerhand Experten zurate gezogen, um jeder Authentizitätsprüfung standhalten zu können. Der Einklang mit den tatsächlichen Ereignissen wird hingegen soweit gebogen, dass er gerade mal nicht bricht. Und dennoch: Ungefähr so muss es gewesen sein, und wenn all den Frischlingen beim ersten Granatenhagel das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben steht, wird einem selbst etwas mulmig.

Den Kreislauf des Tötens und Getötet-Werdens unterstreicht Im Westen nichts Neues bereits eingangs mit ernüchternder Erkenntnis, um sich am Ende zu beklemmendem Irrsinn hinreißen zu lassen, der nicht im Buche steht. Dazwischen: Krieg von seiner malerischsten Seite, in atemberaubenden Aufnahmen zwischen Giftgas und schlammverkrusteten Gesichtern. Manche Szenen sind meisterlich in ihrer Intensität, vor allem jene, die Paul Bäumer das ganze Unrecht begreifen lassen.

Im Ganzen aber muss Berger mit Remarques Vorlage arbeiten, und kann diese nicht komplett anders gestalten, denn dann wäre es nicht mehr Im Westen nichts Neues. Was daraus geworden ist, sind mitunter zeitgemäße Betrachtungen zum Wesen der modernen Kriegsführung und des Krieges an sich, bleibt aber sonst traditionelles, fürchterliches Schlachtenkino für die große Leinwand. Beeindruckend, bis in die Nebenrollen erstklassig besetzt, aber distanziert wie der Blick auf eine monumentale Miniatur in einem Glaskasten irgendwo in einem Museum für Heeresgeschichte.

Im Westen nichts Neues (2022)

Berlin Alexanderplatz

FAREWELL FÜR DEN DEUTSCHEN TRAUM

6/10

 

berlinalexanderplatz© 2019 eOne Germany

 

LAND: DEUTSCHLAND 2019

REGIE: BURHAN QURBANI

CAST: WELKET BUNGUÉ, ALBRECHT SCHUCH, JELLA HAASE, JOACHIM KRÓL, ANNABELLE MANDENG, NILS VERKOOIJEN U. A.

 

Dreimal strauchelt Franz, dreimal fällt er, dreimal steht er wieder auf, bis er endgültig niederbricht. Mit diesen ähnlich klingenden einleitenden Worten aus dem Off, gesprochen von Jella Haase, die ab Mitte des dreistündigen Opus Magnum noch wichtig werden wird, lädt uns Burhan Qurbani zu einer Achterbahnfahrt des Schicksals, inklusive einiger Faustschläge in die Magengrube. So, wie Jella Haase das sagt, klingt es wie aus einem Märchen, aus einer dunklen, unheilvollen Parabel über die Qualen einer determinierten Existenz, wie die von Flüchtling Francis eine sein muss.

Teilt sich die literarische Vorlage von Alfred Döblin in neun Teile, so beschränkt Qurbani seine epische, fast schon griechisch anmutende Tragödie der leichteren Verdaulichkeit wegen in fünf Teile. Was aber meines Erachtens immer noch zu massig scheint, da es auch so sichtlich schwerfällt, die narrativen Milestones an die richtige Stelle zu setzen. Berlin Alexanderplatz ist für wilde Dramatik ein üppiges Buffet, das nicht zur Neige zu gehen scheint. Eine Versuchung für Filmschaffende, ein Gabentisch freier Interpretation. Klar, dass man sich da voller Inbrunst hineintigert. An allen Ecken und Enden stehen Gleichnisse, Metaphern und Wendungen zur Schau. Es geht um Liebe, Emotionen, vor allem um Versuchung. Doch letzten Endes ist die Versuchung aber das Verhängnis, für den Filmemacher selbst wie für den Protagonisten Francis, der, wie wir bald ahnen werden, seine Seele dem Teufel verkauft, und nicht mehr von ihm loskommt. Von dieser Versuchung kommt Qurbani auch nicht los, er pinselt wie wild zwischen nächtlichem Neonschein, Halogenkreuzen und Zitaten aus der Bibel seine farbintensiven, schweren Kleckse auf die Leinwand, die jedoch in einem nicht ganz stimmigen Arhythmus die eigene Geschichte immer wieder ausbremsen. Die Apokalypse aus dem Off mag gewichtig sein, die wummernden Rhythmen durchtanzter Nächte bedeutungsschweres Parabelkino ordentlich abfeiern – vom Schicksalskitsch ist Berlin Alexanderplatz manchmal nicht weit entfernt.

Aber: Wie setzt man unter diesem begleitenden Brimborium mehrere Höhepunkte, ohne den dramaturgischen Höhepunkt vorwegzunehmen? Wann kommt der Breakeven, das Ende des Ereignishorizonts bei einem Film wie diesen? Natürlich gegen Ende. Doch was, wenn der vermeintliche Gipfel der Zuspitzung gar nicht der ist, für den wir ihn halten? Dann sumpft das, was danach kommt, in einem ausgewalzten Epilog, der gar nicht mal ein solcher ist, vor sich hin. Das eigentliche Nachspiel kommt dann übrigens noch. Und das ist wiederum eines, das ich gar nicht gebraucht hätte. Das ist eines, das die wuchtige Tragik von Francis´ Teufelskreis ad absurdum führt.

Trotz des verpeilten dramaturgischen Timings: Berlin Alexanderplatz ist fleissige Arbeit – zeitgemäß und vielschichtig. Der Kniff, besagten Franz mit einem Afrikaner zu besetzen, verpasst dem Film schlagartig mehrere Metaebenen. Nicht nur, dass Francis zu einem Werkzeug finsterer Ideen wird, die diesen auch bewusst faszinieren und verlocken, wie der Teufel eben fasziniert, wenn er nichts tut außer zu verführen. Francis ist auch ein Opfer seiner gebrandmarkten Biografie, ein sich selbst überlassener Eindringling. Das vorverurteilende Klischee des dealenden Schwarzen bedient er dennoch. Und fast wäre es ein thematisches Eigentor, ein stereotypes Gesellschaftsbild, das den Nationalisten des Landes auf den ersten Blick gelegen käme, gäbe es da nicht den Verführer und Blender himself – den verkrüppelten Psychopathen Reinhold, der für Flüchtlinge den deutschen Traum kolportiert. Der neugierig macht. Erst Francis, später dann seine große Liebe Mieze. Reinhold ist ein weißer Deutscher, ein perfides, unberechenbares Rumpelstilzchen voller eigentümlicher Manierismen. Albrecht Schuch hofiert diese Figur mit schillernder Intensität. Qarbani sieht in seiner Version einen Herrenmenschen, der die ethnische Fluktuation selbst initiiert hat, als Kolonialherr im fernen Afrika. In der Szene des Maskenballs wird auf groteske Weise deutlich, wo all diese Figuren im freien Spiel aus Betörung und der Gier nach Erlösung ihren Platz einnehmen müssen. Damals wie heute. Und diese Etikette lässt sich schwer aus dem Stoff entfernen, den die europäische Geschichte für jeden gewoben hat.

Berlin Alexanderplatz