The Animal Kingdom (2023)

VERLOREN AN DIE WILDNIS

6,5/10


animal-kingdom© 2023 StudioCanal


ORIGINAl: LA RÈGNE ANIMAL

LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: THOMAS CAILLEY

CAST: ROMAIN DURIS, PAUL KIRCHER, ADÈLE EXARCHOPOULOS, TOM MERCIER, BILLIE BLAIN, NATHALIE RICHARD, SAADIA BENTAÏEB U. A.

LÄNGE: 2 STD 10 MIN


Tiere sind auch nur Menschen – und umgekehrt: Dass wir alle durch Zellteilung entstanden sind und es so überhaupt erst erreicht haben, als höheres Wesen Teil eines Vorgangs zu werden, der als Makro-Evolution bekannt ist, müsste man sich immer wieder mal in Erinnerung rufen, um nicht als überheblicher Gierschlund auf Planet Terra herumzutrampeln. Leider machen das gerade die, auf die es ankommt und die genug Einfluss hätten, am wenigsten. Tiere sind nicht Menschen und die Erde ist der Untertan. Ein verhängnisvolles Zitat aus der Bibel, womöglich falsch übersetzt und zu Gunsten der Eroberer, aber was solls: Es ist Zeit, nicht nur das Klima zu bekleben, sondern sich auch rückzubesinnen auf die genetischen Mechanismen unserer Existenz. Die natürliche Ordnung sieht somit vor, dass Homo Sapiens nicht aussieht wie ein Gorilla und ein Gorilla nicht aussieht wie ein Fisch. Die Zellen wissen, was zu tun ist, sie haben ihren genetischen Code, also eben ihren Bauplan, und so gehen sie auch vor: Akkurat, mathematisch und logisch. Wenn diesen Bauplan aber niemand mehr lesen kann, auch Zellen nicht, könnte es zu einem Chaos kommen, und jene Lebewesen, die am Ende der Nahrungskette stehen, ihre Position verlieren. Der Sturz vom Podest in die Niederungen der Kriechtiere ist zum Greifen nah, der genetische Code eines Reptils vermischt sich mit dem eines Menschen, wir haben neue Baupläne, alles wird anders.

In The Animal Kingdom, einem hochbudgetierten und verdammt gutaussehenden Science-Fiction-Drama, passiert genau das: Otto Normalverbraucher von nebenan mutiert zum Tier, die Palette der Arten ist umfangreich, man könnte alles sein: Wolf, Bär, Katze, gar ein Insekt oder ein Vogel, denn fliegen wollte der Mensch schon immer. Eine genetische Pandemie macht sich breit, überall auf der Welt, insbesondere in Frankreich, denn dort bekommen wir Einblick ins Geschehen. Filmstar Romain Duris gibt den besorgten Vater namens François, der mit Teenager Émile (souverän und sensibel: Paul Kircher) gerade unterwegs ist, um Ehefrau und Mutter zu besuchen, die im Krankenhaus mit ihrer Mutation klarkommen muss – einer Mutation in ein Säugetier unbestimmter Art, mittlerweile hat sie bereits das Sprechen verlernt und kann sich gerade noch an ihre Liebsten erinnern. Zur Behandlung dieser Phänomene fehlt das rechte Kraut, allerdings gibt es spezifische Einrichtungen, und in ein solches soll Mama/Gattin auch hin. Doch auf dem Weg in Frankreichs Süden, während eines heftigen Unwetters, überschlägt sich der Mutanten-Transport und einige der Individuen können in die Wälder fliehen. François macht sich auf die Suche, denn auch wenn die Liebe seines Lebens ausssieht wie ein Bär, ist sie immer noch die Ehefrau. Émile hingegen macht währenddessen seine eigene, gänzlich andere Erfahrung mit einer wie wild herumpanschenden Biologie.

Dabei erinnert mich das Szenario an ein ein aus zwei Staffeln bestehendes, dystopisches Serienformat namens Sweet Tooth, in welchem die Menschheit mal grundlegend von einem recht letalen Virus dahingerafft wurde, die Zivilisation darniederliegt und, wie das bei Endzeitszenarien nun mal so ist, neue, soziale Gruppierungen erstarkt sind. Jene, die immun zu sein scheinen gegen das Virus, sind Hybride aus Tier und Mensch – und werden gejagt. Nur sehen die Mischlinge allerdings so aus, als hätte die- oder derjenige, der diese Kreaturen geschaffen hat, keine Ahnung von Anatomie. Das sieht in The Animal Kingdom schon ganz anders aus. Da flattern fluguntaugliche Harpyien durch den Forst, da schleimt ein menschlicher Oktopode im Supermarkt die Fischtheke voll. Da klammert sich ein kindliches Chamäleon an den Baumstamm und hofft, nicht gefunden zu werden, indem es Mimikry macht. All die täuschend echt kreierten Entwürfe erinnern mitunter an die Kunstwerke der Künstlerin Patricia Piccinini, die mit ihren hyperrealistischen Skulpturen aus Silikon, Plastik und Echthaar den evolutionären Richtungswechsel, angereichert mit sozialphilosophischen Gedanken, vorwegnahm.

Thomas Cailley, der mit seiner Romanze Liebe auf den ersten Schlag 2015 so einige Preise abräumen konnte, bettet die gar nicht so absurde Vision einer genetischen Vereinigung aus Menschen und Tier in ein moderates Katastrophenszenario, in welchem die Weltordnung noch nicht ganz aus den Angeln gehoben wurde. Die Infrastruktur funktioniert noch, die „Erkrankten“ lassen sich im Grunde noch an einer Hand abzählen. Mit dem Fokus auf den jungen Émile und der Metamorphose vom Menschen zum Tier sowie den einhergehenden Verlusten der Eigenschaften, die einen Menschen ausmachen, trifft Cailley so manches Mal den Nerv der Zeit und den Stolz einer Herrenrasse, die, schnell kann es gehen, ihren Status verliert. Der ökologische Gedanke ist dabei sekundär, die Besinnung darauf, dass wir immer noch Tiere sind, der eigentliche Anspruch. Doch so prachtvoll The Animal Kingdom sein zutiefst berührendes und überraschend melancholisches Familiendrama auch erzählt, so konventionell kommt es daher. Neben all den Schauwerten ist jener Film, der zur Closing Night des Wiener Slash Festivals erstmals in Österreich präsentiert wurde, eine zwar emotionale, aber kaum wagemutige Fantasy, die sich am Rande der Science-Fiction bewegt. Überraschung ist The Animal Kingdom keine, dafür ein gefälliges Szenario, das sich weniger naiv präsentiert als Sweet Tooth, das Abenteuer rund um den Jungen mit dem Hirschgeweih.

The Animal Kingdom (2023)

Final Cut of the Dead (2022)

DER FILMDREH ALS OLYMPISCHER GEDANKE

8,5/10


finalcutofthedead© 2022 Filmladen / Lisa Ritaine


LAND / JAHR: FRANKREICH 2022

REGIE: MICHEL HAZANAVICIUS

BUCH: SHIN’ICHIRÔ UEDA, MICHEL HAZANAVICIUS

CAST: ROMAIN DURIS, BÉRÉNICE BEJO, FINNEGAN OLDFIELD, MATILDA LUTZ, GRÉGORY GADEBOIS, SÉBASTIEN CHASSAGNE, RAPHAËL QUENARD, LYES SALEM, SIMONE HAZANAVICIUS, JEAN-PASCAL ZADI U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Eines gleich vorweg: One Cut of the Dead, das japanische Original aus dem Jahr 2017, kenne ich nicht – ein Low Budget-Zombiefilm, der bei genauerer Betrachtung eigentlich gar keiner ist, oder eben nur zum Teil. Schließlich handelt das unkonventionelle Machwerk ja eher darum, wie leicht oder schwer es fallen mag, einen Genrefilm wie diesen, und sei er auch nur eine halbe Stunde lang, im Kasten zu haben. Die besondere Erschwernis bei diesem Vorhaben ergibt die Anforderung, dass dieses online und gleichermaßen live zu erscheinende Horrorschmankerl eine einzige Plansequenz sein muss. Will heißen: Ein One oder Single Cut, was beinhaltet, dass kaschierte Schnitte wie bei Alejandro Gonzáles Iñárritus Birdman gar nicht mal in Frage kommen. Sollte möglich sein, oder? Theoretisch schon. Wie das beim Filmemachen eben so ist, gibt es dabei viel zu viele Variable, mit denen man rechnen kann oder auch nicht, die das Projekt versenken können – oder das leidenschaftliche Improvisationstalent aller Anwesenden herausfordert.

Die schier kongeniale Originalität des Drehbuchs darf sich Michel Hazanavicius nicht an die Fahnen heften. Das ist schließlich nicht sein Verdienst, sondern der von Shin’ichirô Ueda und Ryoichi Wada. Aus Japan winken schließlich so einige Ideen, auf die man im Westen womöglich nie gekommen wäre. Wer würde sich auch erlauben, einen Zeitreisefilm wie Beyond the Infinite Two Minutes zu erzählen? Wer würde es auch nur wagen, das Genre so dermaßen zu verbiegen, um etwas Neues entstehen zu lassen, auf die Gefahr hin, das zahlende Publikum zu irritieren? Generell ist da Ostasien der Vorreiter und bietet westlichen Filmemachern die Chance, in einer Neuinszenierung ihr eigenes Couleur darüberzutünchen. Hazanavicius, einstmals mit The Artist groß gefeiert und Wegbereiter für die Karriere von Jean Dujardin, hat genau das gemacht: Dasselbe nochmal inszeniert. Als Liebeserklärung fürs Filmemachen stellt Final Cut of The Dead Damien Chazelles Babylon – Rauch der Ekstase in den kinematographischen Museumswinkel, obwohl ich auch dort kaum etwas über die orgiastische Filmdrehsequenz inmitten der kalifornischen Wüste kommen lasse, die aus dem Chaos wahre Wunder des frühen Stummfilms entstehen lässt.

Final Cut of the Dead schlägt diese Liebeserklärungen scheinbar alle. Begeisterungen für den Film und für die Handhabung des künstlerischen Mediums gibt es genug, zuletzt ließ sich auch in Pan Nalins Das Licht, aus dem die Träume sind ganz gut nachvollziehen, was den eigentlichen Antrieb für die Leidenschaft zum bewegten Bild darstellen kann. Dieser Film hier geht aber noch einen Schritt weiter. Und offenbart seinem nicht weniger leidenschaftlichen Publikum mit schierem Aberwitz eine ganze Handvoll Wahrheiten hinter der Illusion, die wir alle niemals oder nur ansatzweise vermutet hätten.

Dabei erhalten wir, die im Auditorium des Kinos sitzen, zuallererst mal die Warnung, dass wir wohl dem schlechtesten Zombiefilm aller Zeiten beiwohnen, nach einer halben Stunde aber das ganze Unding besser verstehen und sowieso nicht ahnen werden, was da für Überraschungen auf uns zurollen. Und tatsächlich: Die erste halbe Stunde ist ein Film-im-Film-Trash mit ganz viel Kunstblut und obskuren Dialogen, die wohl The Room-Maestro Tommy Wiseau erfreut hätten. Es wird schlecht gekreischt, europäische Schauspieler tragen japanische Namen und das Timing ist zum Vergessen. Doch irgendwie hat das Ganze Charakter, als wäre es eine durchgetaktete parodistische Komposition auf das Genre schlechthin. Was dann folgt, ist die Entstehung des Ganzen, das Zusammenbringen der Crew und Einblicke ins Privatleben von Regie-As Rémi (Romain Duris als energischer Wirbelwind). Man ahnt schon: mit diesem Haufen unmotivierter, aber auch sich selbst überschätzender Fachidioten lässt sich schwer einen One Cut drehen, ohne nachher nicht aus dem Fenster springen zu wollen. Oder ist gerade diese Ansammlung unpässlicher Nerds der Garant für das Gelingen so einer Sache? Die Antwort liefert das letzte Drittel, wo wir die erste halbe Stunde als Making Of betrachten können. Und es fällt tatsächlich wie Schuppen von den Augen, wenn uns Filmkonsumenten gewahr wird, was eigentlich alles gar nicht mal im Drehbuch stand.

Hazanavicius (und natürlich auch Ueda) feiern nicht nur das Filmemachen, sondern vor allem auch den Teamgeist. Zu dieser Gruppe will man gehören, von dieser schrägen Begeisterung will man sich anstecken lassen. So ein Abenteuer will man unbedingt mal selbst erleben. Final Cut of the Dead ist zum Brüllen komisch und wohl einer der lustigsten Filme der letzten Zeit. Er bringt die spielerische Improvisation und die Not, aus der allerlei Tugenden entstehen, auf Augenhöhe zu unserem Alltag und lässt sie nicht als elitäre Blase unserer Wahrnehmung entfleuchen. Es lässt sich danach greifen, es lässt sich nachfühlen, wie so vieles eigentlich gar nicht (und auch im Wahrsten Sinne) in die Hose gehen kann, weil alle an einem Strang ziehen, um das künstlerische Ziel zu erreichen. Final Cut of the Dead ist wie der Blick hinter die Illusionskunst eines Zauberers, ohne aber dessen Magie zu entreißen. Er steht für Begeisterung, Hysterie, Träumerei und Enthusiasmus. Aber auch für alles, was nur schiefgehen kann. Gerade diese Fehler, das Unerwartete und Missglückte – kurzum: der Zufall und der sich daraus ergebende kollektive Willen, es hinzukriegen, machen Filme erst lebendig. Geahnt haben wir das immer schon – so offen wie hier wurde uns das aber noch nie demonstriert.

Final Cut of the Dead (2022)

Warten auf Bojangles

DAS LEBEN FEIERN BIS DER ARZT KOMMT

7/10


© 2022 StudioCanal


LAND / JAHR: FRANKREICH 2021

REGIE: RÉGIS ROINSARD

CAST: VIRGINIE EFIRA, ROMAIN DURIS, GRÉGORY GADEBOIS, SOLAN MACHADO-GRANER U. A.

LÄNGE: 2 STD 5 MIN


Das Melodrama ist zurück! Schon lange habe ich im Kino keinen Film mehr gesehen wie diesen. Man hätte ja meinen können, dieses Genre gilt bisweilen als obsolet, und lediglich Romanzen der jugendlichen Sorte, die gerne gewissen erfolgsgarantierten Formeln folgen, hätten ihr Publikum. Normalerweise lasse ich mich zum Melodrama nicht unbedingt hinreißen. Die ersten Echos aus diversen filmkritischen Quellen haben mich dann doch dazu bewogen, mir Warten auf Bojangles anzusehen. Und das nicht zuletzt wegen der so charismatischen wie sinnlichen Hauptdarstellerin Virginie Efira und vor allem auch wegen den zaghaften, aber doch vorhandenen Vergleichen mit Der fabelhaften Welt der Amelie.

Nun, eine auch nur irgendwie geartete Verbindung zu letzterem konnte ich nicht feststellen. Mit Jeunets märchenhafter Bildsprache hat Warten auf Bojangles weniger etwas zu tun, sondern viel mehr mit Geschichten, die von der Koexistenz mit psychisch kranken Menschen erzählen. In diesem Fall gibt Virginie Efira, zuletzt ausgiebig hüllenlos in Paul Verhoevens Klosterdrama Benedetta, einen manisch-depressiven Wirbelwind, der mit allen möglichen Namen, nur selten mit dem eigenen, angesprochen und darüber hinaus gesiezt werden will. Auch vom Gatten Romain Duris und ihrem kleinen Sohn. Da erkennt man schon: diese verlorene Seele wird wohl allein mit der innerfamiliären Liebe, die ihr entgegengebracht wird, nicht gesunden können. Da braucht es andere Methoden. Das Wissen der Psychiatrie. Doch inmitten der Sechziger Jahre wähnte diese sich noch mit Sedativen und Eisbädern auf der sicheren Seite. Hilft gar nichts mehr, dann nur noch die Lobotomie. Bevor es jedoch soweit kommt, ist das ausschweifende Partyleben der beiden bedingungslos Liebenden auch eine Art Peter Pan-Abenteuer für den kleinen Gary (bezaubernd: Solan Machado-Graner), der sich trotz der oder gerade wegen der unorthodoxen Wunderwelt, die seine Eltern da errichtet haben, so richtig geborgen fühlt. Das Leben zu genießen und im Moment zu leben, ist eine Sache. Durchaus lobenswert natürlich, aber nicht ausschließlich. Die andere Sache ist das Entgleiten einer verantwortungsvollen Existenz, ohne die ein Leben unweigerlich im Chaos mündet.

Régis Roinsard (unbedingt ansehen: Mademoiselle Populaire – ein bezauberndes kleines Meisterwerk) hat Olivier Bourdeauts bittersüßen Roman wie eine schwerelos-überzeichnete und stellenweise auch rücksichtslos überdrehte französische Komödie adaptiert, die, sobald das Dilemma offenbar wird, zwar deutlich tragischer und ernsthafter wird, jedoch niemals in seiner existenzialistischen Schwere versinkt. Diese Leichtigkeit gäbe es in anderen Filmnationen wohl nicht. In Warten auf Bojangles, bezugnehmend auf das wiederholt zu hörende, schmachtvolle Lieblingslied des nonkonformen Liebespaares, lädt die Unmöglichkeit, mit einer massiven Krankheit wie dieser glücklich in die Zukunft hineinzuleben, zu eskapistischen Kapriolen ein. Dabei wundert es gar, dass der Film nicht in eine phantastische Alternativwelt abgleitet – insbesondere für den kleinen Gary. Der Junge ist letzten Endes der eigentlich Leidtragende der ganzen Tragödie, und der Verlust elterlicher Obhut führt zur Entrüstung, welche die sonst gelungene, teils untröstliche, weil traurige Tragikomödie unverstanden in den Abspann entlässt.

Warten auf Bojangles