Der Schacht (2019)

DRUNTER UND DRÜBER

7/10


derschacht© 2020 Netflix Österreich


LAND / JAHR: SPANIEN 2019

REGIE: GALDER GAZTELU-URRUTIA

BUCH: DAVID DESOLA, PEDRO RIVERO

CAST: IVÁN MASSAGUÉ, ANTONIA SAN JUAN, ZORION EGUILEOR, EMILIO BUALE, ALEXANDRA MASANGKAY U. A.

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Wie kommt der Hunger in die Welt? Der Schweizer Globalisierungskritiker Jean Ziegler hat mit genau diesem Titel ein Buch an seinen Sohn geschrieben, da sich dieser nicht erklären konnte, wie es so viel Ungerechtigkeit auf Gottes Erden geben kann. Der spanische Science-Fiction-Film Der Schacht erklärt die Grunddynamik der Klassengesellschaft und ihre Folgen auf eine vermutlich viel simplere Art, dafür aber kontrastreich genug, um im Gedächtnis zu bleiben. Der Schacht (auf englisch: The Platform) ist allein schon aufgrund seiner genialen Idee ein denkwürdiges Ereignis – ein Kammerspiel zwischen menschengemachten Horror und surrealer Satire.

Die Kammer, in der das Ganze spielt, könnte einem Drama des absurden Theaters von Beckett oder Ionesco als dramaturgischer Unterbau gereichen. Vielmehr ist es eine Art Turm (wir wissen nicht, ob dieser unter- oder oberirdisch errichtet wurde) mit scheinbar unendlichen Ebenen, die weder Aus- noch Einstieg besitzen, die jeweils ungefähr quadratisch groß sind und in der Mitte eine Aussparung besitzen, durch welche täglich eine Plattform vorbeirauscht, die, beladen mit den köstlichsten Speisen, die man sich nur vorstellen kann, den Freiwilligen oder unfreiwilligen Teilnehmern den Magen füllt. Allerdings gibt es da ein kleines Problem: Die oberen Ebenen, beginnend bei 1, können sich noch die Bäuche vollschlagen, während die jeweils darunter liegende Kammer nur das bekommt, was die obere übriggelassen hat. Man kann sich also vorstellen, wie es, sagen wir, Ebene Nummer 48 ergeht – oder gar Ebene 100. Die müssen sehen, wie sie überleben, denn da ist außer abgenagten Knochen und leergegessenem Gedeck nicht mehr viel übrig.

Goreng – einer, der mit dem Vertikalen Zentrum für Selbstverwaltung einen Deal ausgehandelt hat, um einen Studienabschluss zu bekommen, wacht eines Tages also auf Ebene 48 auf. Das ist zwar nicht so glücklich gewählt, als wäre man drüber, aber besser als drunter. Ihm gegenüber ein älterer Herr, der schon lange Zeit festsitzt. Jeden Monat erwachen beide auf einer neuen Ebene, die mal besser, mal schlechter sein kann. Ein Ding darf jeder mitnehmen, Goreng hat Don Quichotte, sein Mitinsasse ein Messer. Man kann sich denken, wohin das führt, sitzen beide mal tiefer. Denn die Nahrungsbeschaffung in der Not kann letztlich nur eines bedeuten.

Wer mit Kannibalismus im Film überhaupt nicht umgehen kann, sollte Der Schacht tunlichst meiden. Andererseits ist dieser blutige Umstand Teil eines höchst durchdachten Konzepts zur Veranschaulichung eines sozialen Gefälles und gleichzeitig eines Phänomens, dass die Satten gieriger werden lässt und die Hungrigen verzweifelter. Dabei sollte der üppigst beladene Tisch für alle hier Anwesenden genug Essen zur Verfügung stellen, damit niemand mehr darben muss. Allein: Am menschlichen Verhalten scheitert es. Jesus wäre mit seiner wunderbaren Brot- und Fischvermehrung wohl gescheitert, hätte er den Korb durch die Reihen gehen lassen. Solidarität ist ein rares Gut. Warum teilen, wenn man selbst nichts davon hat? Altruismus ist nicht leicht zu verstehen.

Der Schacht ist zynisch, brutal und pessimistisch. Aber nicht ganz hoffnunsglos, obwohl der Streifen versucht ist, die Hoffnung auf den besseren Menschen aufzugeben. Da ist ein Streben in diesem Film, ein Vorwärtskämpfen und der Wille zum Stürzen geltender Systeme. Auch das ist dem Menschsein inhärent. In seiner mit scharfer Klinge geschriebenen Dialogen und absurden Plot-Highlights so wie jenem, die Panna Cotta als Botschaft des Umbruchs zu erwählen, mag Galder Gaztelu-Urrutias Film seine im Widerspruch zur klinischen Kulisse archaische Gewalt und deftige Exzesse manchmal zu sehr entarten zu lassen – im Grunde aber bleiben diese Elemente Teil einer höheren Bedeutung, nämlich die einer lustvollen bis gar leidenschaftlichen Zurschaustellung der Gier, der Macht und des Eigennutzes. Da dies so hell und klar durch den Schacht strahlt, lässt sich die Hölle ertragen, solange die Suche nach der Erlösung anhält.

Der Schacht (2019)

High-Rise

MIT DER MIETE IM RÜCKSTAND

3/10

 

highrise© 2016 Thimfilm

 

LAND: Grossbritannien 2016

Regie: ben Wheatley

Mit Tom Hiddleston, Jeremy Irons, Sienna Miller, Luke Evans u. a.

 

Habe ich irgendetwas verpasst, oder erfreut sich der legendäre Oberlippenbart, kurz genannt Oliba, tatsächlich wieder modischer Beliebtheit? Mann trägt tatsächlich wieder vermehrt die Rotzbremse, die seit Tom Selleck´s vollendeter Formschönheit gestutzter Körperbehaarung niemand wirklich versuchen sollte. Na gut, mit Ausnahme von Finanzminister Schelling. Der Oberlippenbart ist eine haarspalterische Wissenschaft, man kann Kunstwerke daraus erstellen oder einfach nur den Status einer Pornobürste a la John Holmes belassen. Am Liebsten noch mit Koteletten, die immer den Trend zur Ungepflegtheit anstreben und die eine Aura des Perversen umgibt. Ben Wheatley ist zwar Vollbartträger mit hervorgehobenem Schnauzer, seine eigentümliche Affinität für die Gesichtsbehaarung im Stile der späten Siebziger ist unübersehbar. Diesen Modestil hat der englische Filmemacher später in seiner Ballerorgie Free Fire beibehalten, samt Glockenhosen und Sonnenbrillen Marke Flaschenböden. Es ist ja nicht so, dass wir darauf gewartet haben. Der Modetrend aus den Siebzigern kann uns im Grunde gestohlen bleiben, maximal reicht diese anschauliche Eskapade gerade mal für einen Film, zwecks peinlich berührter Belustigung des Publikums. Doch der verzichtbare Trend schraubt sich in der Gesellschaftsparabel High-Rise bis ins oberste Stockwerk. Dort begegnen wir Jeremy Irons als Architekt eines Wohnbauprojekts, das im Vergleich zu Alt Erlaa eben diese direkt behaglich erscheinen lässt. Das fingerähnliche Knick-Gebilde aus High-Rise lädt wahrlich nicht zum Wohnen ein, und dabei reden wir nicht mal noch von den Bewohnern dieses ungemütlichen Anti-Sozialbaus. Irons verzichtet auf Schnauzer und Altkleidersammlung. Darauf verzichtet auch „Loki“ Tom Hiddleston. Muss er ja auch. Seine Umzugskartons packt er den ganzen Film hindurch nicht aus. Warum nur? Eine von vielen Fragen, die ich mir bei Sichtung von Wheatley´s entbehrlicher Filmkunst stellen musste. 

Neben den archaischen Filzgoscherln frönt das Ensemble des Films exzessiven Nikotinkonsums. Die Raucherlobby dankt – endlich wiedermal ein Film, wo wirklich jeder seine Lunge ruiniert. Doch Tschick und fragwürdige Mode alleine machen noch keine Gesellschaftskritik. Da schrammt Ben Wheatley in weit ausholendem Bogen am Anspruch vorbei, anhand eines hierarchischen Gleichnisses soziale Unterdrückung, Machtgehabe und Kapitalismus in auffordernder Kritik zu plakatieren. Außer Chaos zwischen den Etagen bringt der Film nichts zustande. Diesem Chaos fehlt die vorangegangene Eskalation der Ereignisse. Plötzlich herrscht Anarchie, auch hier weiß keiner, warum eigentlich genau. Tom Hiddleston rudert ratlos im schwammigen Gewand seiner Rolle mit den Armen, ohne sichtlich zu wissen, was das Ganze überhaupt soll. Hätte er doch statt Chris Evans die Rolle in Snowpiercer angenommen – einer ähnlich gelagerten Allegorie auf die zivilisierte Menschheit und ihrem Weg in den Abgrund, allerdings von notwendiger Stringenz und weit weniger affektiert. 

Was den Mietern in einer Trostlosigkeit von Wohnviertel bleibt, ist abgesehen von einer mangelnden Hausverwaltung die Lust an der Anarchie und einer nicht enden wollenden Neuzeit-Orgie, bei welchen der römisch-antike Adel vor Neid erblassen würde. Wenn schon die Reichen Partys feiern, können das die Ärmeren im Untergeschoss wohl auch. Allerdings – können vor Lachen. Außer hysterischen Eskapaden und arroganten Unsympathlern gerät die Wohnungsbesichtigung zu einem flüchtigen Lokalaugenschein ohne Substanz, stattdessen mit gelacktem Avantgarde-Gehabe. High Rise ist eine langatmige Enttäuschung, die den steten Blick auf die Uhr geradezu herausfordert und meist nur so tut als ob. Für so etwas würde ich nicht mal die halbe Miete bezahlen.

High-Rise