Maria (2024)

DIE DIVA HINTER DER DIVA

5/10


© 2024 STUDIOCANAL GmbH / Pablo Larraín


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, ITALIEN, USA 2024

REGIE: PABLO LARRAÍN

DREHBUCH: STEVEN KNIGHT

CAST: ANGELINA JOLIE, PIERFRANCESCO FAVINO, ALBA ROHRWACHER, KODI SMIT-MCPHEE, HALUK BILGINER, STEPHEN ASHFIELD, VALERIA GOLINO, VINCENT MACAIGNE, ALESSANDRO BRESSANELLO U. A.

LÄNGE: 2 STD 4 MIN


Im Abspann des biographisch angehauchten Spät-Portraits Maria zeigt Pablo Larrain zahlreiche kurze Videosequenzen, auf welchen die echte Maria Callas zu sehen ist. Ich stelle fest: So divenhaft wirkt sie gar nicht. Gut, die schicke Kleidung, das perfekt frisierte Haar, die Entourage, die sie umgibt, zeugt davon, wie angesehen die Dame wohl gewesen sein muss. An ihrer Seite der steinreiche Reeder Onassis, doch sie selbst, La Callas eben, gibt sich locker, auffallend natürlich, augenzwinkernd, menschlich. Sagen so wenige Szenen mehr über eine Person aus als es der ganze Film, in welchem die Filmdiva schlechthin, nämlich Angelina Jolie, so tut, als wäre sie Angelina Jolie, die wiederum so tut, als wäre sie Maria Callas?

Nach Spencer hat der Chilene Pablo Larraín abermals den Skriptschreiber Steven Knight dazu beauftragt, der bedeutenden Sopranistin eine biographische Stimme zu geben – allerdings mit der Tendenz in Richtung eines zwischen Realität und Imagination changierendes Psychodrama und subjektives Portrait, eingefasst in einen Zeitrahmen von einer Woche, nämlich der letzten Lebenswoche einer viel zu früh verstorbenen, die, so wie es dem Film nach scheint, sowieso nichts mehr zu verlieren gehabt hätte nach dem Verlust ihres hallenfüllenden, kräftigen Organs und der Bewunderung, von der manche Stars leben können, als wäre es das Nahrhafteste auf der Welt. Die finalen Tage gestalten sich entsprechend ereignislos, das vermittelt auch der Film. Um als Zuseher nicht in den Standby-Modus abzugleiten, bereichern Larrain und Knight ihre Hommage mit der allgegenwärtigen, fleischgewordenen Präsenz eines Rauschmittels, genannt Mandrax, das angeblich gegen Angststörungen und Schlaflosigkeit helfen soll. Süchtig wird man davon allemal, in Afrika nimmt man das Zeug immer noch ein, Ende der Siebziger genügt es Maria Calls immerhin noch, um einen imaginären Interviewer auferstehen zu lassen, in diesem Fall Kodi Smit-McPhee, der die in edle Gewänder gehüllte Dame auf ihren Spaziergängen begleitet, nur nicht in die Pariser Oper, denn dort sitzt Jeffrey Tate, einst Assistent von Karajan und Chefdirigent überall auf der Welt. Er unterstützt die Diva dabei, ihre Stimme wiederzufinden – letztendlich leider vergebens, obwohl Haushälterin Bruna (Alba Rohrwacher, La Chimera) stets ganz anderes Feedback gibt. Die herzensgute Seele in den Gemächern der Künstlerin sieht ihre Komplimente als Balsam für Marias enttäuschtes Gemüt, ihr zur Seite steht der Diener Ferruccio, sowieso Mädchen für alles, geplagt von Rückenschmerzen und willig, selbst die absurdesten Wünsche der gottgleichen Dame zu erfüllen.

Bruna und Ferruccio – welchen unorthodoxen Blickwinkel hätte der Film nur gewonnen, hätte Larraín diese beiden devoten, fast schon engelsgleichen und geerdeten Personen, die nichts anderes im Sinn haben als das Gutgemeinte, ins Zentrum des Geschehens gerückt. Schließlich ist es so, dass Rohrwacher und der wunderbare Pierfrancesco Favino (u. a. Il Traditore, Adagio) bisweilen faszinierender, greifbarer und interessanter wirken als der zentrale Star dieses reich bebilderten Essays: Angelina Jolie. Keine Ahnung wann das passiert ist, zumindest war das zu ihrer Paraderolle als Psychiatrie-Insassin in Girl, Interrupted noch nicht der Fall, dass La Jolie begonnen hat, so zu tun, als wäre sie die gefragteste Schauspielerin auf diesem Planeten, um sich ein Verhalten anzueignen, dass sich in vielen anderen ihrer Filme nicht anders ausdrückt als eben hier, in diesem Diven-Abgesang. Gestelzt, abgehoben, über allen Dingen schwebend, unnahbar und fassadenhaft, natürlich makellos schön und voll der Ausstrahlung. Nur diese Strahlen schillern nicht, es ist ein gleichmäßiges Licht, das Jolie verbreitet. Und es ermüdet.

Auch wenn sie noch so versucht, sich in diesem vermuteten Schmerz hinzugeben, den Maria Callas gehabt haben könnte – man kommt dem Wesen dieser Person nicht näher, man betrachtet lediglich Bilder von ihr und erhält als einzige aufschlussreiche Information jene, dass Angelina Jolie in allen möglichen Kostümen, in auf die Farben der Siebziger gefilterten Bildsequenzen oder in Schwarzweiß, in gefakten Archivaufnahmen, als Anne Boleyn oder Turandot, immer Angelina Jolie bleibt, die unbedingt in eine Rolle schlüpfen will, die ihre eigene Divenhaftigkeit verbergen soll, um als ganz andere Diva zu erscheinen. Es gelingt ihr nicht. Und es gelingt dem Film an sich auch nicht, aufgrund dessen diesem Mysterium Callas näherzukommen – zu fragmentarisch ist dieses prächtige Requiem, und vielleicht auch zu selbstverliebt. Die Diva lässt sich auch in Pablo Larraín finden.

Maria (2024)

La Chimera (2023)

ITALIEN MIT DER WÜNSCHELRUTE

6,5/10


lachimera© 2023 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: ITALIEN, FRANKREICH, SCHWEIZ 2023

REGIE / DREHBUCH: ALICE ROHRWACHER

CAST: JOSH O’CONNOR, CAROL DUARTE, ISABELLA ROSSELLINI, ALBA ROHRWACHER, VINCENZO NEMOLATO U. A.

LÄNGE: 2 STD 10 MIN 


Alice Rohrwacher hat Feuer. Jedenfalls merkt man das, wenn man ihr zuhört. Auch wenn die italienische Autorenfilmerin zwar nicht persönlich zum Filmfestival der Viennale zugegen sein konnte, so hat sie es sich immerhin nicht nehmen lassen, via Zoom (ja, es hat funktioniert) und von der großen Leinwand über ein vollbesetztes Gartenbaukino hinweg aus ihrem Film zu erzählen. Da gab es nichts Diktiertes, und auch keine Message Control. Autarkes Filmemachen braucht sowas nicht, denn es hat eine Vision. Und zwar nicht eine Vision über Profit und den lukrativen Weltmarkt, sondern über den Stoff an sich, für den kaum ein Einsatz zu groß sein kann. Wie zum Beispiel für Filme wie La Chimera.

Dort, wo der Mainstreamfilm längst anfangen müsste, über seine kreativen Ziele zu reflektieren und sich in repetitiven Schablonen verliert, die so abgestumpft sind, damit sie tunlichst für jedes Zielpublikum taugen, bringen Filmemacher mit Herzblut ihre zum größten Teil selbst verfassten, nicht für alle gefälligen Geschichten auf die Leinwand. Und das, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen. Genau dafür sind Filmfestivals wie die Viennale ins Leben gerufen worden – um, erleichtert aufatmend, den Pulsschlag des Kinos zu spüren. Das Mainstreamkino kippt vielleicht irgendwann aus den ausgetretenen Latschen, in absehbarer Zeit. Jenes von Alice Rohrwacher längst noch nicht. Dabei hatte ich die Dame anhand ihrer Werke erst 2018 kennen und schätzen gelernt. Ihr bezaubernder, trauriger und ungewöhnlicher Film Glücklich wie Lazzaro hat wiedermal den anderen Blick erlaubt. Auf Möglichkeiten, wie man Kino noch erfahren kann. Im Retro-Look, aber narrativ doch ganz anders, erzählt dieser Film die bittersüße Ballade eines herzensguten Menschen, der sich an den sozialen Bedürfnissen der anderen letztendlich aufreiben wird.

Ihr brandneuer Spielfilm taucht tief in die römische Geschichte ein, was aber nicht heißen soll, La Chimera ist Historienkino mit Sandalen und Toga. Rohrwacher kreiert ihren laut Indiewire „besten Indiana Jones Film des Jahres“ als eben das: als ganz eigene Interpretation eines Schatzsucher-Abenteuers, eng verbunden mit italienischer Identität und der sinnbildlichen Auseinandersetzung mit einem nahezu janusköpfigen Gemüt einer scheinbar ewigen Nation zwischen Vermächtnis, Gegenwart und draufgängerischer Zukunft. Interessanterweise ist die Hauptfigur, anders als Lazzaro, kein Italiener, sondern ein Brite. Josh O’Connor (u. a. Emma, Ein Festtag) dürfte sich laut Rohrwacher anhand eines Briefes an die Filmemacherin gewandt haben, womöglich mit der dringenden Bitte, diese Rolle spiele zu dürfen. Trotz ihrer Vorstellung, den Vagabunden Arthur als weitaus älter erscheinen zu lassen, hat O`Connor diese Rolle schließlich erhalten. Und er macht sich gut als aus dem Gefängnis entlassenes, ruhe- und heimatloses Medium, das die Fähigkeit besitzt, etruskische Gräber aufzuspüren – Hohlräume unter der Erde, versiegelt seit dem Damals, und vollgefüllt mit wertvollen Grabbbeigaben. Natürlich tut er das nicht nur für sich selbst – eine kleine Bande Grabräuber nutzt seine Fertigkeiten, um ans große Geld zu kommen. Verhökert werden die Artefakte an einen mysteriösen Mr. X, genannt Spartaco. Doch das ist nicht die einzige Bestimmung, die Arthur durch eine ungewisse, sich stetig verändernde Zukunft treibt: Er ist auf der Suche nach seiner großen Liebe Benjamina, die eines Tages plötzlich verschwand. Vielleicht findet sich die Antwort in einem der Gräber, vielleicht in seinen Träumen. Die Irrfahrt des Arthur gerät zur Legendenbildung, zum Stoff für eine Ballade, die von Barden besungen wird, die ebenfalls aus der Zeit gefallen zu sein scheinen und dem ganzen märchenhaften Abenteuer zur poetischen, freien Interpretation einer antiken Sage werden lassen: Orpheus und Eurydike.

Hätte Rohrbacher diese Analogie nicht erwähnt, mir wäre eher Theseus und Ariadnes Faden in den Sinn gekommen. Denn dieser Faden aus dem Kleid von Benjamina spinnt sich durch die ganze Geschichte. Es brilliert die großartige Isabella Rossellini als fellineske Vertreterin eines vergangenen Italiens, es kokettiert Carol Duarte mit dem melancholischen Indiana Jones, der zwischen Realität und Vision umherwandelt und nirgendwo Ruhe findet. La Chimera ist die Geschichte eines Getriebenen, den das Gestern und Heute Italiens herausfordern. Rohrwachers Bilder sind voll zarter Poesie, weit weg vom Neorealismus eines Visconti oder der resoluten Mentalität einer Sophia Loren. Dieses Italien, mit all seinen Schätzen und seiner Geschichte, schwimmt dahin wie die vage Nacherzählung eines Epos, die frei formulierte Charakterisierung einer sehnsüchtigen Heldengestalt.

Doch so überraschend einnehmend Rohrwachers Lazzaro damals gewesen war: Die Intensität dieses Films erreicht La Chimera nicht. Kann ein Film zu spielerisch sein? Dass sich die Stilistin zu sehr in ihren Interpretationen verliert und vielleicht gar zu viel will? Hier lässt sich beides fast vermuten. Das kauzige Abenteuer mit dem Spirit idealistischer Outlaws gerät unruhig, vielleicht manchmal auch fahrig. Hat den Enthusiasmus Rohrwachers als brummenden Motor hinter sich, irrt aber manchmal genauso umher wie sein Protagonist. Keine Frage, La Chimera ist ein sehenswertes Stück leichtfüßiges Kunstkino, fabulierend, bunt und analog. Mehr Konzentration auf Arthurs Odyssee, auch in Bezug darauf, was ihn mit seiner verlorenen Geliebten eigentlich verbunden hat, hätte diesen magischen Realismus in die richtige Balance gebracht.

La Chimera (2023)

Frau im Dunkeln

BEKENNTNISSE EINER RABENMUTTER

8/10


frauimdunkeln© 2021 Netflix


LAND / JAHR: GRIECHENLAND, USA, GROSSBRITANNIEN, ISRAEL 2020

BUCH / REGIE: MAGGIE GYLLENHAAL, NACH EINEM ROMAN VON ELENA FERRANTE

CAST: OLIVIA COLMAN, JESSIE BUCKLEY, DAKOTA JOHNSON, ED HARRIS, PETER SARSGAARD, PAUL MESCAL, ALBA ROHRWACHER, DAGMARA DOMIŃCZYK U. A.

LÄNGE: 2 STD 2 MIN


Am letzten Tag des alten Jahres hat Netflix für sein interessiertes Filmpublikum noch einen besonderen Leckerbissen aus dem Ärmel geschüttelt – das Spielfilmdebüt von Maggie Gyllenhaal, von welcher man ohnehin schon längere Zeit nichts mehr gehört hat, die sich aber mit der Verfilmung von Elena Ferrantes Roman The Lost Daughter umso wirkungsvoller zurückmeldet. Und beileibe ist der Stoff der italienischen Romanautorin keine gemähte Wiese. Nichts, was man so mir nichts dir nichts in Bilder packen und dazu noch ein ausgewogenes Skript verfassen kann. Frau im Dunkeln – so der deutsche Titel – lässt Oscarpreisträgerin Olivia Colman als Professorin während des Sommers Urlaub machen. Wie denn, das ist alles? Fast. Zumindest handlungstechnisch. Das meiste ist Selbstreflexion und Erinnerung, dazwischen die Konfrontation mit Menschen, die auf gewisse Weise begangene Fehler von Colmans Filmfigur aus der Verdrängung zurückführen. Das ist Urlaub, der nicht spur- und ereignislos vorübergeht. Das sind Ferien mit der längst überfälligen seelischen Reinigung.

Und so bezieht Leda Caruso ein großräumiges Appartement auf der griechischen Insel Spetses, und zwar ganz allein. Hausdiener Lyle (Ed Harris) sorgt manchmal für Abwechslung, auch dem Ferialjobber Will gefällt Ledas Gesellschaft. Weniger offenherzig ist allerdings die New Yorker Großfamilie rund um Jungmutter Nina (Dakota Johnson), die sich mit ihrer kleinen Tochter herumschlagen muss und die bereits unter Depressionen leidet, weil sie es dem Mädel einfach nicht recht machen kann. Da passiert es und das Kind verschwindet – Leda beteiligt sich an der Suche und findet sie. Doch damit nicht genug: dessen Lieblingspuppe verschwindet ebenfalls. Die hat sich Leda absichtlich unter den Nagel gerissen. Doch warum nur?

Warum nur? Das ist die große Frage in diesem Film. Und vor allem eine, die Leda selbst nicht beantworten kann. So sind nun mal Gefühlswelten, sie ordnen sich keinem rationalen Muster unter, sie generieren sich aus triggernden Momenten und Assoziationen, aus seltsamen Déjà-vus, die wie gerufen kommen und die Sache mit dem Zufall bemühen. In so einem Nebel aus Vergangenem und Gegenwärtigen lässt Colman als einsame Egoistin ihre Existenz als Mutter zweier Kinder Revue passieren – die Zeitebene wechselt, wir befinden uns rund zwei Jahrzehnte in der Vergangenheit, und Jessie Buckleys junge Leda könnte aufgrund ihres sprachlichen Talents und ihrer literarischen Abhandlungen alles erreichen. Einzig die Kinder nerven, später auch der eigene Ehemann, und so kehrt sie ihrer Familie den Rücken. Eine Rabenmutter, sagt sie selber von sich. Doch die Erkenntnis lässt auf sich warten, im Urlaub ist schließlich genug Zeit dafür, auch wenn sonst nichts zu tun ist.

Wer hätte gedacht, dass es Maggie Gyllenhaal dermaßen gelingt, so einem durchaus abstrakten und auch verschachtelten Stoff das richtige Tempo aufzuerlegen und ein ebensolches Team zusammenzustellen. Dazu gehört auch Kamerafrau Hélène Louvart, die aus dem dichten Stück Schauspielkino ein visuelles Erlebnis kreiert. Extreme Nahaufnahmen wechseln mit in sich ruhenden Arrangements aus Personen – diese Virtuosität erinnert nicht zufällig an den Film Glücklich wie Lazzarro. Dort bewies sich Louvart als Kreatorin einer mediterranen, impressionistischen Stimmung. Coleman und auch Dakota Johnson spiegeln diese mit Bravour. Nicht zu vergessen Jessie Buckley, die als junge Leda Caruso die Last des Mutterseins nicht mit ihrem Drang zur Selbstverwirklichung vereinbaren kann.

Frau im Dunkeln ist ein starker und hypnotisierender Film ohne Leerlauf und mit Bedacht gewählten Worten, die den Brocken an Drama nicht schwerer machen als er ist. Gyllenhaal schafft das Zusammenspiel gewissenhaft agierender Schauspielerinnen, die niemals, wie es scheint, unter den Druck einer egozentrischen Regie geraten, sondern den jeweils eigenen Subtext wirken lassen können. Was dabei rauskommt, ist packend – und auf unerwartete Weise schwerelos.

Frau im Dunkeln

Glücklich wie Lazzaro

DER EWIGE KNECHT

8/10

 

lazzaro© 2018 Filmladen

 

LAND: ITALIEN, FRANKREICH, SCHWEIZ, DEUTSCHLAND 2018

REGIE: ALICE ROHRWACHER

CAST: ARDIANO TARDIOLO, NICOLETTA BRASCHI, SERGI LÓPEZ, ALBA ROHRWACHER U. A.

 

Da steht er und lächelt, umgeben von Bäumen, im Hintergrund die Stadt, und ein Wolf zu seinen Füßen. Das Plakat zu Alice Rohrwachers Film ist ein Gemälde, naiver oder phantastischer Realismus, doch für letzteres wäre es zu real, einzig der Wolf sollte hier nicht sein. Und auch Lazzaro, der abgebildet ist, sollte nicht hier sein, denn er scheint wie eine Gestalt aus längst vergangenen Zeiten. Wie eine Ikone, ein Heiligenbild, etwas völlig entrücktes. Lazzaro existiert gar nicht wirklich, er ist ein Mythos, ein Mysterium – oder doch nicht? Das zu ergründen ist ein Versuch, der sich letzten Endes lohnt, denn Glücklich wie Lazzaro zählt zu den außergewöhnlichsten Werken der letzten Zeit, ein humanistisches Märchen von den Hierarchien unserer Gesellschaft.

Adriano Tardiolo, der den flötenspielenden Knecht auf dem Gut der Marchesa de Luna spielt, ist selbst eigentlich ein Laie. Einer, der nie irgendwo Schauspielerfahrung gesammelt hat, ein Naturtalent also, den Regisseurin Rohrwacher entdeckt hat. Tardiolo scheint in seiner Rolle wirklich nicht von dieser Welt zu sein, und als Lazzaro ist er einer, der tut was man ihm sagt. Ein Knecht in seiner reinsten Urform, ein Befehlsempfänger und Erfüllungsgehilfe. Einer ohne Rechte. Über ihm: die Tabakbauern des Ortes, allerdings selbst einem erbarmungslosen Feudalismus erlegen. Sklaven, wenn man so will, die für die Herrin ernten, und selbst immer verschuldet bleiben. Das erinnert an die Gesellschafts- und Wirtschaftsformen des Mittelalters, bevor die Bauern im 14. Jahrhundert den Aufstand probten. Die Einwohner des Bauerndorfes Inviolata allerdings tun das nicht, sie können nicht auf sich herabblicken, ihren Zustand des Schuftens und Dienens nicht aus der Distanz betrachten. Anfangs fragt man sich, in welcher Zeit Glücklich wie Lazarro eigentlich spielt. Alles sieht sehr verdächtig nach dem vorigen Jahrhundert aus, doch der Schein trügt. Die verhängte Isolationshaft der Marchesa hat Lazarro und seine Mitbewohner aus der Zeit katapultiert. Und die Zeit, die spielt weiterhin verrückt, vor allem, was das Schicksal des Lazzaro betrifft. Denn ihm widerfährt, ähnlich dem Lazarus aus der Bibel, eine unergründliche zweite Chance, die ihn auf eine Reise schickt, und bei der ein Wolf keine unwesentliche Rolle spielt.

Rohrwacher hat hier eine Parabel ersonnen, anfangs noch in romantischem Realismus, die von Meistern und Dienern erzählt. Von den Unterdrückten und Ausgebeuteten, und von dem Umstand, dass es immer einen Stärkeren gibt, der den anderen nötigt, zu dienen. Ihre metaphysische Reise ist gleichsam ein antikapitalistisches Manifest, worin Lazzaro wie der kleine Prinz Antworten sucht auf Fragen, die er nie stellen wollte, auf Menschen trifft, mit denen er stets verbunden war, die aber bemüht sind, aus ihrer Abhängigkeit von damals auszubrechen in ein autarkes Lebenskontrukt. Was sie finden ist Armut, und die Reichen von damals, die haben ebenfalls alles verloren. Der Film ist wie die Essenz eines politischen Umbruchs, der am Umsetzen kommunistischer Ideen scheitert, weil das Wesen des Menschen es einfach unmöglich macht, diese umzusetzen. Glücklich wie Lazzaro ist ein enorm gesellschaftspolitischer Film, der seine Sichtweise in eine poetisch-irreale Märtyrerchronik bettet. Dabei fasziniert in erster Linie eben Adriano Tardiolo als Lazzaro, der als Fels in der Brandung Zeiten und Gezeiten über sich hinwegziehen lässt, bis er selbst die alte Ordnung wiederherstellen will. Was sagt das über die Zukunft des Menschseins aus? Rohrwachers Film erinnert durchaus an die thematisch verwandte Kleinbürgertragödie Dogman des Italieners Matteo Garrone – auch dort sieht sich der ewig unterdrückte Hundefriseur der Willkür von Stärkeren ausgeliefert, bis er selbst das Blatt wendet. Doch wofür? Glücklich wie Lazzaro ist noch mehr Lehrstück als Dogman, fast schon von der Art eines Theaters des Berthold Brecht oder Max Frisch, die die gutgläubige Illusion eines besseren Menschen erschaffen, um sie dann zu zerschlagen.

Rohrwachers Film ist ein höchst bemerkenswertes Beispiel dafür, was das Kino noch für eine erzählerische Kraft haben kann, und noch so viel perspektivisches Neuland verborgen hält, dass durch Glücklich wie Lazzaro wieder ein Stückchen mehr erschlossen wurde.

Glücklich wie Lazzaro