Tár (2022)

AUS DEM TAKT GERATEN

5/10


tar© 2022 Focus Features, LLC.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE / PRODUKTION: TODD FIELD

CAST: CATE BLANCHETT, NINA HOSS, NOÉMIE MERLANT, JULIAN GLOVER, MARK STRONG, SOPHIE KAUER, ALLAN CORDUNER, MILA BOGOJEVIC, ADAM GOPNIK U. A.

LÄNGE: 2 STD 38 MIN


Wann geht’s denn endlich los? Eine Frage, die sich nach einer gefühlten halben Stunde Podiumsdiskussion mit Cate Blanchett als Dirigentin Lydia Tár durchaus stellen lässt. Wir haben das nach Abspann aussehende Intro gesehen und folgen nun fachkundigen Fragen, die mit Sicherheit das musikaffine Publikum, insbesondere für Klassik, interessieren wird. Mahler hin, Mahler her, es fallen diverse Namen wie Claudio Abbado, Karajan, Bernstein und Furtwängler. Die Virtuosin zeigt sich gesprächsbereit und engagiert. Ist freundlich, aber bestimmt. Ein Star der Musikszene eben. Ganz oben am Zenit des Schaffens, inklusive Autobiographie und allen wichtigen Preisen, die man nur so abräumen kann – so jemand nennt sich EGOT. Tár ist ein Mensch, der sich dadurch definiert, für die Kunst zu leben und Teil der Kunst zu sein. Über eine halbe Existenz hinweg errichtet sie ihr eigenes strenges, prinzipientreues, fast schon dogmatisches Königreich. Genau so geht klassischer Ruhm.

Nach dem Abarbeiten von Társ künstlerischem Lebenslauf und Verweisen zu möglichen Vorbildern geht Todd Fields Beobachtung ihres Alltags weiter. Und langsam formt sich der Charakter einer selbstbewussten Größe, die ihrem streng durchgetakteten Terminkalender folgt, den ihre persönliche Assistentin Francesca (Noémie Merlant, grandios in Portrait einer jungen Frau in Flammen) schon im Schlaf herunterrasseln kann. Ohne Francesca wäre Tár selbstredend aufgeschmissen, doch im Idealfall soll sich ein Künstler nur auf seine Kunst konzentrieren. Vergessen darf er dabei nicht, auch sozial integer zu bleiben. Tár versucht es, was sich manchmal besser, manchmal schwieriger gestaltet. Es sind die Opfer, die eine Weltberühmtheit bringen muss – es ist der Fokus auf das Perfektionieren schwieriger Stücke vorzugsweise von Mahler oder Beethoven. Das Ensemble des Orchesters ist da nur Werkzeug. Ein liebgewonnenes Werkzeug. Und Tár tut, was sie kann. Vermeidet eklige Arroganz, vergisst manchmal, die ihr zu Diensten Stehenden entsprechend zu würdigen, hat nur das Ziel der Vollendung ihres Schaffens im Blick. Wer sich darauf einlässt, muss scheinbar wissen, wie so jemand tickt.

Und dann passiert das, was Promis manchmal passiert: Tár gerät in Misskredit. Zu Recht oder nicht, wen juckt das schon. Jedenfalls gerät ihre Welt aus den Fugen, nachdem Tár beschuldigt wird, mit dem Suizid einer ehemaligen Musikerin aus ihrem Mentoring-Programm Accordion Fellowships etwas zu tun zu haben. Sexuelle Ausbeutung? Machtmissbrauch? Alles nur Vermutungen, Andeutungen und vage What if-Konstrukte, denen sich Tár nun ausgesetzt sieht. Mit diesem Dilemma unterliegt bald auch ihre Wahrnehmung einer Verzerrung, die Wirklichkeit hat kaum mehr gute Erklärungen parat. Ihr soziales Umfeld zeigt ihr die kalte Schulter, Mentoren und Kollegen üben sich im Schuldspruch aufgrund eines Verdachts, der sich niemals erhärtet. Klar ist der Stern Társ daraufhin auf Sinkflug. Doch eine, die schon alles gehabt hat, muss sich nicht zwingend an einen Zustand klammern, der längst in einen Erfolgstrott verfallen ist.

Der für 6 Oscars nominierte Streifen und nach Little Children Todd Fields erste Regiearbeit nach 16 Jahren ist Arthouse-Kino, welches sich in seiner eigenen Themenwolke – nämlich in der Welt der Klassik und jener, die sie interpretieren – zu sehr bequem macht, um heraustreten zu wollen. Der Schritt in ein anderes Genre als das des Künstlerdramas ist zu zögerlich, um ihn letztendlich getan zu haben. Das Schauspiel von Cate Blanchett hätte es wohl nicht verändert, denn sie genügt sich und dem Publikum vollkommen. Es gelingt ihr, eine Figur mit Biografie zu erschaffen, und noch dazu eine, die man weder verurteilen noch anhimmeln kann – bewundern vielleicht schon, ob ihres Könnens und ihrer Tatkraft. Zu so einer Figur gehören Manierismen und Verhaltensweisen, die aber nichts Pathologisches an sich haben und später auch nicht haben werden. Nehmen wir mal Natalie Portman in Black Swan. Darren Aronofsky hat da viel energischer mit anderen Genres kokettiert, sein Ballettthriller wurde zum polanski’schen Horror, Portman zur Furie. Tár mag zwar auch manchmal austicken, doch richtig manisch wird sie nie. Insofern bleibt Todd mit seiner Halbgöttin im Hosenanzug auf dem Boden, schickt sie vielleicht manchmal durch entrische Gänge, die im Dunklen liegen, will sie aber letztendlich nirgendwo einordnen. Weder als Soziopathin noch als Opfer des Ruhms. Was zur Folge hat, dass bis auf Blanchetts Figur alle anderen Charaktere schemenhaft herumspuken. Genauso vage bleibt die mysteriöse Vergangenheit einer Dreiecksbeziehung und der Stein des Anstoßes, der Problemfall selbst, um welchen sich Társ Schicksal rankt. Reduziert auf Erwähnungen im Gespräch, die man leicht überhören kann, bleibt der Kern des Plots zu volatil, um jene Gewichtigkeit zu erlangen, die er hätte haben sollen. Tár als Film gefällt sich zu sehr in seiner Fachsimpelei und verlässt sich fast ausschließlich auf den Inhalt seiner Dialoge. Todd widersteht dem Versuch, Társ Charakter aus ihrer Reaktion auf die Umstände zu zeichnen, sondern formt sie bereits außerhalb der Geschichte, was dieser viel zu viel Zeit abringt. Das, was interessant ist, kommt als beiläufige Andeutung eines möglichen Skandals zu kurz. Obwohl überall hoch gelobt, empfinde ich Tár als ein Werk, das sich in seinen Prioritäten verpeilt.

Tár (2022)

Babylon – Rausch der Ekstase (2022)

GOOD OLD HOLLYWOOD IS DYING

7,5/10


babylon© 2022 Paramount Pictures


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: DAMIEN CHAZELLE

CAST: MARGOT ROBBIE, DIEGO CALVA, BRAD PITT, TOBEY MAGUIRE, MAX MINGHELLA, JEAN SMART, JOVAN ADEPO, SAMARA WEAVING, KATHERINE WATERSTON, ERIC ROBERTS, LI JUN LI, OLIVIA WILDE U. A.

LÄNGE: 3 STD 8 MIN


Hier züngelt das Feuer der Leidenschaft: Damien Chazelle, wohl einer der besten Regisseure der Gegenwart (wenn nicht der beste, würde man die Statistik des Filmgenuss berücksichtigen) will, dass es lichterloh brennt, und zwar ganze drei Stunden lang. Die Leidenschaft darf nie vergehen und sich selbst stets von Neuem entfachen. Da braucht es kein Zutun von außen, denn einer Sonne gleich sollen die szenischen Kernfusionen seines Films neue Energie freisetzen, um die Dichte und die Opulenz seines Inszenierungsdrangs mit langem Atem zu Ende bringen, und sich erst ganz am Ende erlauben dürfen, nach Atem zu ringen. Genau dann, wenn Chazelle das Wunder des Filmemachens als ein eigenes, fremdes, vielleicht extraterrestrisches Element einführt, gleich dem Monolithen aus Stanley Kubricks 2001, und seinen Protagonisten auf eine Reise schickt wie den Astronauten Dave in selbigem Film.

Dieser Protagonist, das ist Manny Torres. Mit diesem gebürtigen Mexikaner, der im Kalifornien der Zwanzigerjahre sein Glück versucht, findet auch das Publikum eine Identifikationsfigur, die vom Tellerwäscher zur großen Nummer werden kann. Wir wünschen es ihm, denn die von Diego Calva gespielte Figur ist sympathisch, klug und integer. Anfangs ist er bei den Reichen und Einflussreichen der Stummfilmbranche noch Mädchen für alles, doch dann entdeckt ihn der gefeierte Hollywoodstar Jack Conrad, Alter Ego eines Clark Gable oder Douglas Fairbanks, als einen, dem er vieles anvertrauen kann. Er wird sein persönlicher Assistent und arbeitet sich von da an immer weiter die Treppe der Filmgeschichte hinauf, dessen höchste Stufe wohl jene vom Stumm- zum Tonfilm darstellt und die kaum einer von den alteingesessenen Stars und Sternchens wird erklimmen können. Zur Zeit dieses großen Paradigmenwechsels ist das Aufsteigen, Absteigen und Einsteigen diverser künstlerischer Existenzen wie eine sich im Kreise drehende Achterbahnfahrt, die sich selbst immer wieder neu anstößt. Während Jack Conrad am Zenit seines Ruhms ankommt und von da an bergab rattert, schnuppert Shootingstar Nelly LaRoy, die der Zufall ans Set gebracht hat, alsbald Höhenluft, und das nur, weil sie die seltene Gabe besitzt, auf Befehl loszuheulen. Mit dieser Fertigkeit und ihrer Scheißdirnix-Attitüde wird sie zum Gossip- und Glamour-Girl mit schlechten Manieren, doch das Publikum liebt sie. Bis der Ton eine neue Musik macht – und niemand mehr, nicht mal die kesse LaRoy, werden das sein, was sie einmal waren. In dieser aufwühlenden Dreiecksparade bleibt Manny Torres das beobachtende Element, der Nellie LaRoy heimlich liebt und der jedoch bald mittendrin als nur dabei sein wird, wenn die Pforten der Unterwelt Hollywoods den Mexikaner versuchen, hinabzuziehen.

Damien Chazelle zeigt in seinem wummernden und eben brennend leidenschaftlichen Epos eine kleine Ewigkeit lang, wo sich Hollywoods Olymp der frühen Geschichte des amerikanischen Films manifestiert, und wo man in den Orkus abtauchen kann. Er zeigt das Schillern, und er zeigt das Grauen. Es wird geschissen, gekotzt und geblutet. Geheult, wie ein Rohrspatz geschimpft und den Hitzetod gestorben. Babylon ist kein Kindergeburtstag, nicht mal eine Jugendparty, und zumindest anfangs feiert Chazelle eine fast schon römische Orgie im üppigen Stil eines Federico Fellini, wenn Elefanten durchs Bild tröten und Sex in aller Öffentlichkeit salonfähig wird. Babylon – Rausch der Ekstase rüstet sich für eine Party, die im Tanz- und Drehmarathon seine Opfer findet.

Vor allem anfangs gelingen Chazelle so einige goldene Momente – kleine szenische Sternstunden, die episodenhaft wirken. Leicht wäre es gewesen, Chazelles Film in ebendiese zu gliedern, um wie bei Quentin Tarantino mehr Struktur in ein Sittenbild wie dieses hineinzubringen. Doch braucht es das, kann sich diese impulsive Kunst- und Filmekstase unter solchem Zaumzeug auch entsprechen entfalten? Nein, denn allein die rund 30 Minuten Erlebnis-Parkour in Sachen Stummfilmdreh mitten in der Wüste ist einfach nicht zu bändigen. Da geht es Schlag auf Schlag, da gibt es Details noch und nöcher, und der ganze geschäftige Irrwitz steigert sich bis zum Crescendo, um dann, in einem sich erschöpfenden letzten Take den Triumph des Schaffens zu feiern. Wir haben also die Party, und wir haben das Pionierabenteuer Film, und dann haben wir Margot Robbie, die sich ihre Seele aus dem Leib spielt und Brad Pitt, der immer stets Brad Pitt bleibt und selten aus sich herauskann. Irgendwann in der dem Zeitgefühl entrückten Mitte des Films ist dieser wie aus der Zirkuskanone geschossenen Leidenschaft der Zunder abgebrannt, und Chazelle sucht dringend nach dem Perpetuum Mobile, das den immer gleichen Schwung des Films gewährleisten hätte sollen.

Vielleicht hätte er Pitt und Robbie in ihrer jeweils eigenen Geschichte mehr Berührungspunkte geben sollen. Im Grunde erzählt der Filmemacher Ähnliches wie in seinem famosen Musical La La Land, der des Meisters vollkommene Kunstfertigkeit ausreichend bewiesen hat. Nur dort hatten Emma Stone und Ryan Gosling eben eine gemeinsame Geschichte, während der alternde Star und das junge Starlet in Babylon nur zufällig aneinandergeraten. Vielleicht sind drei Stunden für eine im Grunde recht banale Geschichte über Aufstieg und Fall einfach zu lange, um diese Hymne an den Film im Stakkato-Stil beizubehalten. Bei aller Liebe: Damien Chazelle hat sich mit seinem aktuellen Werk erstmals übernommen. Sowohl Whiplash als auch sein eben erwähntes Musical La La Land wie auch die hypnotische Astronautensaga Aufbruch zum Mond sind in meinen Hochrechnungen ganz weit oben, alle drei sind makellose Meisterwerke. Babylon indes hat hier viel mehr Schönheitsfehler, und ich muss zugeben, es ist nicht so, als hätte ich das nicht vermutet, schon allein deshalb, weil das, was man über den Film bereits wusste, nach wahllosem, vielleicht sogar gierigem Hineingreifen in eine Epoche klang.

Immerhin schillert Babylon – Rausch der Ekstase als bittersüßes Requiem des ganz alten Hollywoods in bemerkenswert eigenem Licht. Die Toten gehen mit ihren Filmen in die Ewigkeit, wird irgendwann zu Brad Pitt gesagt – warum also über die Vergänglichkeit des Ruhmes klagen? Kluge Gedanken, radikale Konsequenzen und das Verlieren in der Illusion tanzen ums goldene Kalb. Chazelle entfesselt Bilder und Szenen voller Anmutung und Abscheu, er dirigiert seinen Film bewusst ambivalent und verpasst ihm die Maske eines Harlekins – eine Seite lacht, die andere weint. In dieser Zerrissenheit ergeht er sich in einem wehmütigen Liebeslied auf das allen tragischen Possen und glücksritterlichen Eskapaden übergeordnetem großen Ganzen, nämlich des Mediums Film, wofür Chazelle selbst unendlich glücklich zu sein scheint, darin vorzukommen. So gnadenlos, unberechenbar und affektiert diese Welt auch sein mag.

Babylon – Rausch der Ekstase (2022)

Blond

I DON’T WANNA BE LOVED BY YOU

7/10


blond© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: ANDREW DOMINIK

BUCH: ANDREW DOMINIK, BASIEREND AUF DEM ROMAN VON JOYCE CAROL OATES

CAST: ANA DE ARMAS, ADRIEN BRODY, BOBBY CANNAVALE, XAVIER SAMUEL, JULIANNE NICHOLSON, EVAN WILLIAMS, RYAN VINCENT, LILY FISHER U. A. 

LÄNGE: 2 STD 46 MIN


Was haben Prinzessin Diana Spencer und Marilyn Monroe gemeinsam? Die berührende Farewell-Ballade A Candle in the Wind von Elton John. Zuerst hieß der Text: Goodbye Norma Jeane, dann hat sich der Künstler gedacht: Norma Jeane kann mittlerweile gut darauf verzichten, machen wir Goodbye Englands Rose daraus. Was haben Diana Spencer und Marilyn Monroe nicht gemeinsam? Den Regisseur, der sich bemüßigt und auch kompetent genug dazu gefühlt hat, zumindest Ausschnitte aus deren Leben zu verfilmen, um gleich noch dazu ein komplettes Psychogramm draufzupacken. Der eine: Pablo Larraín. Mit Spencer ist diesem ein brillantes Portrait gelungen, die impressionistische Skizze einer möglichen Befindlichkeit zu einem gewissen Zeitpunkt im Leben der Königin aller Herzen. Der andere: Andrew Dominik (u. a. Killing them Softly). Seine Schussfahrt in den Untergang einer wider ihres Willens gehypten Person frönt einem soziopathischen Destruktivismus, der eigentlich alles, mit Ausnahme vielleicht von Henry Miller, unter Aufbringung einer enormen Anziehungskraft in ein schwarzes Loch reißt, aus dem es keine Rückkehr gibt. Schon gar nicht für Norma Jeane Baker. Die landet mit den Füßen voran, als Steißgeburt einer verteufelten Männerwelt, im dunklen Nichts der Hoffnungslosigkeit. Obwohl – nicht ganz. Die Hoffnung war zwar immer ein bisschen da, starb aber zuletzt dann doch, in der gottgleichen Gestalt eines unbekannten, aber tränenreichen Vaters, der frappante Ähnlichkeiten mit Clark Gable hat und der blonden Schönheit immer mal wieder einen Brief hinterlässt, der ein baldiges persönliches Aufeinandertreffen verspricht. Eine Hoffnung, an die sich Norma Jeane Baker klammern kann. Das andere, woran sie sich klammert: Die Kunstfigur Marilyn, schmollmundig, Küsse verteilend, kokett performend als Sexsymbol, den Rock über dem Lüftungsschacht lüpfend, ganz so wie es Billy Wilder wollte. Laut Joyce Carol Oates, die mit ihrem Roman Blonde für den Pulitzer-Preis nominiert war, dürfte die Maske „Monroe“ nicht mehr als ein Strohhalm in einer Welt voller Treibsand gewesen sein, in welchem Frau sonst versinken müsste. Oder: Das Leben eines Filmstars als geringeres Übel. Denn sonst bleibt ja nichts. Gar nichts. Weder eine liebende Mutter noch ein Vater noch eigene Kinder. Und schon überhaupt gar niemanden sonst, der sich ernsthaft um diese psychisch äußerst labile Person, die bis dato als wohl einer der größten Stars der Filmgeschichte gilt, gesorgt hätte.

In diesem finsteren Pfuhl an sexuellem Missbrauch, Gewalt und geifernder Fleischeslust wird das Objekt der Begierde zum hin- und hergereichten Pinocchio. Ausgenutzt, getreten, begattet. Was hätte Pablo Larraín wohl aus diesen biographischen Ansätzen, die womöglich mit viel Dichtung klarkommen müssen, herausgeholt? Wie wäre sein Ansatz gewesen? Vielleicht empathischer, auf improvisierte Weise vertrauter. Er hätte sie wohl weniger als Punching Ball für ein reißerisches Trauerspiel verwendet als Andrew Dominik es getan hat. Für ihn (und vielleicht auch für Oates, denn ich kenne das Buch leider nicht) ist Marilyn Monroe das öffentliche Opfer purer #MeToo-Gräuel. Denn so, wie Ana de Armas auf der Höhe ihrer Imitationskunst weint und schreit und wimmert, sich am Boden krümmt und nach ihrem Vater fleht, muss es das größte Opfer sein, dass Hollywood je eingefordert hat. Ein weiblicher Hiob quält sich auf einem fast dreistündigen Kreuzweg die Via Dolorosa entlang, und niemand trägt das Kreuz auch nur lang genug, damit sich der zur Schau gestellte Star wieder hätte fangen können. Andrew Dominik kostet seinen Biopic-Horror so dermaßen aus, als hätte er einen Lustgewinn daran, Marilyn Monroe leiden zu lassen. Möchte man sowas denn sehen? Will man sich von Ana de Armas ankotzen lassen? Will man in Marilyns Alpträume eintauchen, die plötzlich an Paranormal Activity erinnern? Sind die amerikanischen Männer der Ära Kennedy wirklich so eine Bande von Scheusalen mit übergroßen Mündern, die den Star verschlingen wollen? Wo man mit feiner Klinge das Vakuum wertlosen Ruhms wohl sezieren hätte können, wuchtet Blonde einen Sucker Punch nach dem anderen ins engelsgleiche Konterfei von de Armas, welches den ganzen Film dominiert. Gut, so fasziniert war Larraín ebenfalls von Natalie Portman als Jackie oder Kristen Stewart als Diana, aber er hätte ihnen nicht so wehgetan. 

Mit jedem Schlag ins Gesicht bröckelt der Film zu einer prätentiösen Galerie an recht oberflächlichen World Press Photos auseinander, die alle in die Times passen würden. Noch eins, sagt Dominik. Und dann bitte noch eins. Und noch eins von der Seite. Der Regisseur, so scheint es, kann seine Dämonisierung des Patriarchats gar nicht mal so ernst meinen, denn er tut damit ähnliches. Er nutzt eine Figur der Filmgeschichte, um sie so sehr niederzutreten, dass sie gar nicht anders kann als die Hoffnung zu verlieren. Dann aber wieder muss ich zugeben: Dominiks ambivalenter Film ist meisterhaft darin, in einigen wirklich überwältigenden Szenen eine Kunstfigur zu demontieren und den Grat zwischen Schein und Sein punktgenau zu treffen. Dazwischen finden sich in lockerer Chronologie akkurat nachgestellte Szenen aus Klassikern, die wir nie wieder so unbekümmert genießen werden können und Elemente, die an Roman Polanskis Psychothriller Ekel oder Last Night in Soho erinnern. Blond ist eine deftige Erfahrung, die man so eigentlich gar nicht machen wollte, die auch beschämt und bei welcher man sich selbst vielleicht als gaffenden Zaungast ertappt. 

Vielleicht hätte sich Norma Jeane Baker mit diesem Film verstanden gefühlt. Die Offenbarung ihres Innersten, einschließlich ihres Geburtskanals, hätte sie wohl aber wieder zum Weinen gebracht. Wie wäre es mit etwas Trost? Hinsichtlich dessen hätte ihr Elton Johns Lied wohl besser gefallen.

Blond

Elvis

DER KÖNIG KOMMT BIS VEGAS

7,5/10


elvis© 2021 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: BAZ LUHRMANN

CAST: AUSTIN BUTLER, TOM HANKS, HELEN THOMSON, RICHARD ROXBURGH, OLIVIA DEJONGE, LUKE BRACEY, DAVID WENHAM, KELVIN HARRISON JR., KODI SMIT-MCPHEE U. A.

LÄNGE: 2 STD 39 MIN


Der Zeitpunkt scheint gekommen, an dem alle Elvis-Imitatoren rund um den Globus ihre Fake-Koteletten abziehen und ihre Glockenhosenoutfits zusammenpacken können – denn jetzt gibt es einen, der schlägt sie alle. Da gibt es nichts mehr über ihm, außer Elvis selbst, doch der ist leider schon seit 45 Jahren tot, wobei er sein eigenes Alter bereits um 3 Jahre überschritten hat. Elvis ist also länger schon Geschichte, als er überhaupt gelebt hat. Das Gerücht, das Elvis noch lebt, könnte mit Baz Luhrmanns tiefer Verbeugung vor einem Musik- und Showgenie neue Nahrung erhalten.

Denn Austin Butler, bislang vorwiegend in Nebenrollen und in einzelnen Fernsehserien zu sehen, schenkt dem King of Rock ’n‘ Roll ein neues, doch vertrautes Antlitz – er macht ihn nicht nur insofern lebendig, weil er dem Mann aus Memphis, Tennessee, so verblüffend ähnlich sieht. Sondern weil er weiß, wie er geht, steht, sich bewegt und vor allem – wie er lächelt. Sein charmantes Kokettieren mit dem weiblichen Publikum hat nebst den markanten Hüftbewegungen, die später Michael Jackson uminterpretieren wird, die eigentliche Hysterie ausgelöst und eine fast schon beängstigende Fankultur begründet. Austin Butler bekommt das genauso hin – vereint mit Outfit, Frisur und den richtigen Rhythmen wird eine Ikone lebendig, die man maximal in stadthallenfüllenden Tributshows aus sicherer Entfernung bewundern konnte – mit Lookalikes, Evergreens und einer damit einhergehenden Reisebegleitung in die Jugendjahre der Elterngeneration.

In Elvis wird nämliche Person hautnah erlebbar und somit zu einem Erlebnis, das in seiner kultischen Verehrung sogar jene Performance, die Rami Malek als Freddy Mercury hingelegt hat, in den Schatten stellt. Natürlich, auch er hat den Preis für die Rückholung des Queen-Leaders verdient, wenngleich die optischen Anpassungen manchmal etwas überzeichnet wirken. Butler hingegen spielt Elvis so, als wäre er niemals jemand anderer gewesen. Er muss sich mit der Biografie dieses Mannes akribisch auseinandergesetzt haben. Und nicht nur er. Auch Baz Luhrmann, dem der Stoff sicher schon lange in den Fingern gejuckt haben muss, erweist sich als profunder Kenner eines Teils der modernen Musikgeschichte. Natürlich, wie von Luhrmann zu erwarten, errichtet dieser seinen sakralen Triptychon-Altar aus funkelnden Devotionalien, manchmal zu braver biographischer Chronik und dem Blick hinter dem Bühnenvorhang, wo Drogen, Intrigen und Panik herrschen. Luhrmann feiert dabei das Zeitkolorit der Nachkriegsdekaden bis ins kleinste Detail und liebt das Konterfei seines Stars, weil er selbst kaum glauben kann, wen er da gecastet hat. Andererseits aber nimmt dieser seine Aufgabe ernst genug, nicht nur eine Elvis-Tribute-Show zu liefern, sondern auch den Menschen und sein Umfeld ganz ohne Getöse zu analysieren.

Diese Dreifaltigkeit gereicht dem Film zum Erfolg. Denn es bleibt nicht nur beim routinierten Abbild der Lebensgeschichte einer Kultfigur. Das mächtige Mittelstück von Luhrmanns Altar ist der Versuch einer Reise in eine gebrochene, gegängelte und verschreckte Seele. In die finsteren Winkel des Showbiz, das den Goldesel so oft bemüht, bis dieser zusammenbricht. Die Gier ist hierbei der Hounddog, die Bereicherung anderer am zum Objekt verkommenen Rampensau erweckt Suspicious Minds. Diese verdächtigen zu Recht einen gewissen Colonel Parker – Elvis Mentor, Mutterersatz und Mädchen für alles. Sein Marketing-Genie, sein Manager. Einer, der mit freier Hand über den „King“ verfügen wird. Plötzlich wird die Bühne zum Thronsaal, und der Monarch zur Marionette, die nach der Pfeife des Kanzlers tanzt. Tom Hanks hat sich hierfür eine Latex-Wamme sowie Wampe anlegen lassen, die ein bisschen aufgesetzt wirkt und den guten Mann von Hollywood in seinen schauspielerischen Möglichkeiten bremst, da man stets darauf konzentriert ist, nicht Hanks selbst, sondern einen alten, geldgeilen „Felix Krull“ darin zu entdecken, der gar nicht ist, wer er zu sein scheint. Diesem Löwen hat sich Elvis zum Fraß vorgeworfen, nichtsahnend und darauf vertrauend, dass es andere gut meinen könnten.

In diesem Gefüge aus Macht und Missbrauch, erinnernd an Pinocchios Schicksal unter den Fängen von Kater und Fuchs, erscheint Elvis‘ Lebens- und Erfolgsgeschichte wie eine Passion, wie ein Lehr- und Mahnbeispiel über Ausbeutung und Manipulation talentierter Geister. Damit verknüpft, überzeugen Butler und Luhrmann auch damit, Elvis als einen ehrgeizigen, wenngleich auch naiven Perfektionisten darzustellen, der außer dem Besten sonst nichts geben will. Am Ende bleiben Wehmut und Mitgefühl für einen Pionier. Erscheinen Bilder vom echten Elvis, die von den inszenierten kaum mehr zu unterscheiden sind. Elvis Erfolgsgeschichte ist eine, die niemand jemals haben will. Und Vegas? Wird zum Vorhof der Hölle, aus dem es kein Entkommen gibt.

Elvis

Red Rocket

LIEBER DURCHSTARTEN ALS FRÜHSTARTEN

8/10


redrocket© 2021 Universal Pictures International Germany


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: SEAN BAKER

CAST: SIMON REX, SUZANNA SON, BREE ELROD, ETHAN DARBONE, JUDY HILL U. A. 

LÄNGE: 2 STD 11 MIN


Eigentlich hätte ich mir denken können, dass es dergleichen geben muss: den „Oscar“ fürs Adult Entertainment. Diese Preisverleihung ist natürlich eine, die abseits des Mainstream maximal die Themen-Presse an den dortigen roten Teppich lotst. Doch wie gesagt: es gibt ihn – den AVN oder Adult Video News Award. So eine Live-Übertragung kann da eine Spur länger dauern als bei der Academy, waren da zuletzt sage und schreibe 99 Kategorien am Start. Aber bitte – das alles weiß ich auch erst seit gestern, seit Sean Bakers neuem Wurf, der einen geschassten Pornostar zurück an den Start schickt, um neu Anlauf zu nehmen. Und eben dieser berufliche Stecher kann sich rühmen, besagten AVN bereits mehrmals gewonnen zu haben. Auf Pornhub hat dieser sogar einen eigenen Kanal. Also was will Mann in diesem Business eigentlich mehr? Da wir seit Pleasure wissen, wie schnell Porno-Starlets wieder in der Versenkung verschwinden, wird mit Red Rocket wiederum klar, wie es maskulinen Helden der Horizontalen eben auch gehen kann. Baker erfindet dafür eine vergnüglich-ironische Bestandserhebung übrig gebliebener Ressourcen, um im Business nochmal durchzustarten.

Gespielt wird dieser dreiste Lebenskünstler, der sich und seine Zukunft neu erfinden will, von einem tatsächlichen ehemaligen Pornoschauspieler, nämlich Simon Rex. Er weiß also zumindest ein bisschen, wie dieses Gewerbe funktioniert, hat aber seitdem bereits auch in anderen, jugendfreieren Filmen mitmischen dürfen, mit denen man aber nicht unbedingt hausieren gehen will. Darunter findet sich die gefühlt hundertteilige Scary Movie-Reihe und sonstiger parodistischer Klamauk. Gut, für Komödien hat Rex also ein gewisses Faible. Und ja: dieses naiv-beschwingte Mähen alltagsproblematischer Wiesen beherrscht der stattliche Schönling durchaus gut. Das fängt schon damit an, wie dieser  als Mickey bei seiner im Stich gelassenen Noch-Ehefrau in Süd-Texas nahe Galveston einfällt – mit nichts außer ein paar Dollars in der Tasche und dem wehleidigen Blick eines von der Bordkante getretenen Streuners. Nur ein paar Nächte Unterschlupf, bettelt er – bis er was Neues gefunden hat, wieder ausholen und durchstarten kann. So ein Mann mit Hundeblick erzeugt natürlich Mitleid, also hat er bald ein geliehenes Dach über den Kopf – sonst aber nichts. Er verdingt sich als Hasch-Dealer und lernt alsbald in einem Donut-Laden (klingt wie ein Adult Movie: Donut Hole) die gerade noch minderjährige Strawberry kennen, ein kokettes Mädel mit Sommersprossen und roten Haaren, offen für Neues und vor allem für den großen Traum von Hollywood. Mit der eigentlichen Ehefrau Lexi läuft es allerdings ebenfalls besser, doch Mickey sieht im Gegensatz zu dieser nur in Strawberry den Schlüssel für sein perfekt arrangiertes Comeback. Klar, dass es dabei zu Missverständnissen kommen kann, vielleicht auch zu kleinen Lügen, doch wenn es sich einer wie Mickey richten will, sind kleine Opfer das Mindeste auf dem Weg zu neuerlichem Ruhm.

Wie dieser Simon Rex auf einem klapprigen Fahrrad die kleinstädtischen Alltagsparameter durcheinanderwirbelt, ist kurios und auf sympathische Weise unfreiwillig selbstironisch. Nichts liegt diesem Mickey wohl ferner, als nicht ernstgenommen zu werden. Doch gerade diese Eulenspiegel‘sche Art eines professionelles Sex-Gottes, der wie ein gestrandeter Superheld auf der Suche nach seinem flirrenden Stretch-Overall Gönner, Neider und Skeptiker kompromittiert oder für seine eigenen Zwecke einspannt, schenkt dieser kauzigen, koitusaffinen Sozialkomödie den richtigen Dreh. Mit Bakers The Florida Project konnte ich beileibe weniger anfangen als hiermit.

Was aber da wie dort den pastelligen Traum eines glücklichen Lebens als abkratzbare Fassade vorzüglich illustriert, sind die dem amerikanischen Realismus verwandten blassbunten Bilder, die mit Sunny Side Up am Frühstückstisch beginnen und in der zuckerlrosa Pin-Up-Version eines Eigenheims enden. Mit diesem stilistischen Wunderland gibt sich Sean Baker als zutiefst amerikanischer, dieses Land und dessen Improvisationstalent über alles liebender Künstler, der mit Edward Hopper genauso auf einen schäumenden Milkshake gehen würde wie mit Chloë Zhao, deren Nomadland grundsätzlich betrachtet eine ähnliche, aber viel ernstere Klaviatur spielt.

Red Rocket

The Eyes of Tammy Faye

GELDBERGPREDIGTEN IM SPENDEN-TV

7/10


tammyfaye© 2021 20th Century Studios All Rights Reserved


LAND / JAHR: KANADA, USA 2021

REGIE: MICHAEL SHOWALTER

CAST: JESSICA CHASTAIN, ANDREW GARFIELD, CHERRY JONES, SAM JAEGER, VINCENT D’ONOFRIO U. A. 

LÄNGE: 2 STD 6 MIN


Am Ende erkennt man sie nicht wieder. Das soll Jessica Chastain sein? Allerdings. Und dabei ist es gar nicht so, dass sich die rothaarige Schöne hinter Kilos an Make-up und Latex vergräbt wie manch anderer Star. Chastain ist noch immer sie selbst. Nur ist die Person, die sie verkörpert, so grundlegend anders angelegt als all ihre bisherigen Rollen, womit man mitunter glauben könnte: hier ist rein die sichtbare Verwandlung schuld an diesem Ausbruch aus festgelegten Stereotypen. Ist aber nicht so. Chastain probiert tatsächlich, gegen die Richtung zu schwimmen, der sie bislang souverän gefolgt war: als toughes, intellektuelles, mitunter auch recht kühles feministisches Kraftpaket, das zwar mit seinen inneren Dämonen hadert, nach außen hin aber die Wahrnehmung der Frau als dem Manne um einiges überlegen durchaus schärft. In The Eyes of Tammy Faye spiegelt sich diesmal aber etwas ganz anderes: der bemitleidenswert naive Glaube an die Dreifaltigkeit, das Gute auf der Welt und dem Götzenbild des Mammon irgendwo in der Schublade in einem Zimmer des pompösen Eigenheims mit dem Namen Bakker unter der Türklingel.

Sorry, noch nie von denen gehört. Aber das ist kein Wunder. Wir haben es, wie so oft in letzter Zeit, mit lokalen Größen aus der amerikanischen Mediengeschichte zu tun. Tammy Faye und Jim Bakker, das waren Fernsehprediger und Evangelisten, die „Silbereisens“ des christlich-manischen Fernsehens, in der Gott Liebe ist und Liebe Gott, und ganz sicher trägt Jesus uns alle wirklich im Herzen. Verbale Brotkrumen, die zum Ende jeder Sendung unter die Zielgruppe gestreut wurden. Die Bakkers hatten gar ihren eigenen Fernsehsender, die Zuschauerzahlen waren enorm, die beiden konnten sich alles leisten, was nur zu leisten war – schwimmend im Geld und sonstigem Konsum und gleichzeitig so spendengeil wie alle NGOs Amerikas zusammen. Ist ja alles für den guten Zweck, da lässt sich nichts dagegen sagen. Wenn der Zweck aber auch den eigenen gut gesicherten Lebensabend einschließt, wird’s problematisch. Und so war’s dann auch: Jim Bakker muss sich mit Vorwürfen herumschlagen, das Geld anderer Leute veruntreut zu haben. Geht moralisch und rechtlich natürlich gar nicht. Tammy Faye gibt die Ahnungslose, weiß ja mit dem Zaster und dergleichen nicht umzugehen; nimmt, was sie bekommt und tut, was Reiche eben so tun. Dafür hat sie ihr Herz am rechten Fleck, singt wie Helene Fischer und steht zur Integration Homosexueller. Würde man den ganzen Fernsehschnickschnack weglassen, gibt sie sich überraschend liberal und offenherzig. Nah am Wasser gebaut ist die aufgedonnerte Dame obendrein, und so verschwimmt oft das Make-up auf ihrem tränenreichen Gesicht.

Kein einfacher Charakter, den Chastain hier für das große Kino neu interpretiert. Allerdings hat das Biopic von Michael Showalter (Die Turteltauben, The Big Sick) zumindest hierzulande keinen Weg auf die Leinwand gefunden. Verdient hätte es das, und wie schon Steven Soderberghs schillernde Bühnenbeichte Liberace hält The Eyes of Tammy Faye nicht nur deren stark geschminkte Augen in die Kamera, sondern auch ganz viel Glamour, Mode und Zeitkolorit. Während Chastain über Jahrzehnte hinweg unter den gerade trendigsten Frisuren und Outfits in die unterschiedlichsten Existenzstadien ihres so erfolgreichen wie -losen Lebens schlüpft, bleibt Andrew Garfield als Jimi Bakker stets er selbst, mit immer grauer werdender Mähne und Latexbäckchen. Die Wandelbarkeit Chastains hätte er wohl gerne, doch zumindest im Spiel findet er als kapitalistischer Pharisäer, der dem Schauspieler durchaus ähnlich sieht, einen guten Zugang zum Publikum.

Showalter setzt auf Ausstattung und die gut sortierten Fakten eines Medienskandals, in dem Gott lediglich als Lippenbekenntnis die zweite Geige spielt und eigentlich wie so oft verschnupft darüber reagieren sollte, wenn die Geldwechsler wieder mal den Tempel füllen.

The Eyes of Tammy Faye

Fighting with my Family

RINGEN UM ERFOLG

6,5/10

fightingfamily© 2019 Universal Pictures Germany

LAND: GROSSBRITANNIEN, USA 2019

REGIE: STEPHEN MERCHANT

CAST: FLORENCE PUGH, LENA HEADEY, NICK FROST, VINCE VAUGHN, DWAYNE JOHNSON, STEPHEN MERCHANT U. A. 

LÄNGE: 1 STD 49 MIN

Ja, auch ich war mal großer Fan des Showcatchens. Bin unter der physischen Wucht eines Yokozuna in Deckung gegangen, hatte vor dem Undertaker richtig Respekt und konnte vor lauter Genugtuung gar nicht mal mehr richtig stillsitzen, wenn Adam Bomb seine Vergeltungswatschen im Ring verteilt hat: Die WWF lief allabendlich auf einschlägigen Sportkanälen, und das war weit mehr als nur Niederknüppeln im Moment. Das waren richtige Seifenopern. Mit Biographien, Schicksalsschlägen und dem Aufraffen von der Matte. Stets geht’s dabei um 5 Sekunden. Wer 5 Sekunden lang mit beiden Schultern am Boden liegt, kommt nicht mehr hoch. Dann ist der Fight verloren. Also: steh auf, wenn du am Boden bist. Das singen schon die Toten Hosen (klarerweise in anderem Kontext) aber dennoch: dieser Imperativ trifft es so ziemlich. Und den hat der junge Teenager namens Saraya bereits mit der Muttermilch getankt. Denn Sarayas Eltern, die waren mal gehörige Sozialfälle mit illegalem Kontext, und die haben sich dank des Wrestlings wieder aus dem Schlamassel gezogen. Ihrer Tochter sollte es besser gehen – und das geht nur mit der richtigen Dosis Fight. Dabei ist diese ganze Story hier eine, die auf wahren Begebenheiten beruht. Das unterstreicht auch Dwayne „The Rock“ Johnson, der hier als er selbst in Erscheinung tritt und ein bisschen aus dem Nähkästchen plaudert, was seine Sternstunden im Ring angeht.

In ihrem Gothic Look kaum wiederzuerkennen ist Florence Pugh, die nicht erst seit ihrer oscarnominierten Rolle in Greta Gerwigs Little Women von sich reden machte (u. a. auch in Lady Macbeth oder demnächst zu sehen in Black Widow an der Seite von Scarlett Johansson) und hier den jüngsten Spross einer Familie verkörpert, die im Norden Englands als Wrestling-Familie das Leben schön findet. Alle waren (und sind) in diesem Biz, trainieren die Jugend oder schaffen es ab und an in landesweite Matches. Saraya bekommt allerdings die seltene Chance, bei den ganz Großen mitzumischen – in der WWE-Liga sozusagen. Und muss dafür nach Florida, um zu trainieren, wie sie bislang noch nie trainiert hat. Aber ob es genau das ist, was sie wirklich will? Ist es vielleicht doch nicht nur das Entsprechen des elterlichen Wunsches? Und was ist mit ihrem Bruder, dem Wrestling noch viel wichtiger scheint?

Stephen Merchants True Story ist einerseits eine Sozialdramödie aus der Mittel- bis Unterschicht und gleichzeitig tatschlich eine Art Sportfilm, an dem man aber auch als nicht sportaffiner Zuseher ganz gut andocken kann. Warum? Weil die Figuren und deren Besetzungen einfach noch viel interessanter sind als das Know How in Sachen Showfight. Ex-Cersei Lennister Lena Headey gibt die Mama, der wahnsinnig sympathische Nick Frost im Vikings-Look den Papa. Ein sehenswertes Gespann. Was aber ist Fighting with my Family unterm Strich? Ein Lifestyle-Song mit dem Refrain You can get it if you really want. Eine Phrase des unerschütterlichen Willens. Denn wenn man will, kann man alles erreichen. Oder so ähnlich. Merchant hat die True Story, so vermute ich mal, scripttechnisch vereinfacht und von allerlei Grautönen gesäubert. Entsprechend glatt ist die Erfolgsstory auch geworden. Gut, dass das Drehbuch nicht Sarayas Bruder ausgeklammert hat, denn der ist ein Beispiel dafür, dass nur die von Willen und Erfolg gut reden können, die es auch geschafft haben. Die anderen als Dunkelziffer liegen dazwischen. Man kann also doch nicht alles schaffen, wenn man nur will. Und muss sich letzten Endes nach der Decke strecken. Oder: pro Familie schafft es vielleicht eine(r) groß raus.

Fighting with my Family

Rocketman

DURCH DIE ROSAROTE BRILLE

7/10

 

null© 2019 Paramount Pictures

 

LAND: USA 2019

REGIE: DEXTER FLETCHER

CAST: TARON EGERTON, JAMIE BELL, RICHARD MADDEN, BRYCE DALLAS HOWARD, STEVEN MACKINTOSH U. A.

 

Was haben Freddy Mercury und Elton John eigentlich gemeinsam? Auf den ersten und auch auf den zweiten Blick sehr vieles. Ein unglaubliches, musikalisches Talent, das absolute Gehör und das Zeug zu einer Repräsentanz, die die Dimensionen einer One-Man-Show oft schon mal durchbrochen hat. Beide sind schwul, haben markanten Zahnwuchs und einen Hang zu exzentrischen Outfits, Elton John vorzugsweise Brillen und Mercury hautenge Trikots. Und noch etwas haben sie gemeinsam, man möchte meinen ein gemeinsames Leid, nämlich ihren Manager John Reid. In Bohemian Rhapsody durfte „Kleinfinger“ Aidan Gillen in die Rolle der profitgierigen rechten Hand seiner hörigen Superstars schlüpfen. In Rocketman darf das Richard Madden, ebenfalls aus Westeros übersiedelt, in die Welt der Biopics und der Aufs und Abs legendärer Bühnenkünstler, die sich durch die Schattenseiten des Ruhms nun mal durchwühlen müssen, mit all ihren sirenengleichen Versuchungen, die dann gottlob abendfüllend überwunden werden können.

Der Mensch ist für das permanente Reiten am Wellenkamm grundsätzlich nicht gemacht, das geht an die Substanz, und fordert folglich Substanzen, die das Defizit wettmachen sollen. Hinzu kommt mitunter elterliches Versagen aus der Kindheit wie bei Reginald Dwight der Fall, und fertig ist der Mix aus mangelnder Selbstliebe und die Sehnsucht, geliebt zu werden. Da bei einem Star meist nur die Fassade geliebt wird, ist sowas selten erfüllend. Elton John hat aber, wie man unlängst in Cannes gesehen hat, wirklich die Kurve gekriegt. Schön, sich sowas im Kino anzusehen. Denn das ist die lose Storyline, die quasi als straffes Libretto Dexter Fletchers Musical-Chartshow dramatisches Rückgrat verleiht. Womit wir wieder bei der nächsten Gemeinsamkeit mit Bohemian Rhapsody wären. Fletcher hat auch beim Oscar-geadelten Musikfilm der Queen-Band Hand angelegt, nachdem Bryan Singer aus uns bekannten Gründen gebeten wurde, das Handtuch zu werfen. Fletcher hat es aufgefangen, und die Sache zu einem guten Ende gebracht. Im Zuge dieses Erfolges, und da wohl nur der halbe Film unter seinen Fittichen stand, war etwas Ähnliches in der Art nur das Weiterführen einer gemähten Wiese. Wenn schon gerade warmgelaufen, muss man die Energie auch irgendwie weiter nutzen – für die Schicksalssymphonie eines kaum weniger kultisch verehrten Großmeisters der Pop-Komposition. Und da Dexter Fletcher diesmal von Anfang an dabei war, und die quirlige Leichtigkeit seiner Sportlerdramödie Eddie the Eagle weiteres in der Art verspricht, beginnen deshalb auch hier trotz aller Gemeinsamkeiten zum Queen-Film langsam Differenzen hochzusickern.

Während Bohemian Rhapsody als prosaisches Drama all seine fetzigen Ohrwürmer vom dargestellten Künstlerteam erarbeiten ließ und sie Teil des chronologischen Geschehens waren, baut Rocketman das musikalische Erbe Elton Johns als erzählerisches Mittel ein: Voila, wir haben ein Musical. Und was für eines. Natürlich, Ohrwurm-Bühnenshows sind schnelle Abkassierer, regelrechte Crowdpleaser, die das große Geld garantieren, und das auf sehr einfachem Weg. Da geht’s gar nicht um die Geschichte dahinter, da geht es um den Rhythmus und den Groove, und den schmachtenden Abnicken wohlbekanner Evergreens. Das war so bei Falco, beim We Will Rock You-Musical, bei Mamma Mia oder bei I am from Austria. Zuerst waren da die Songs, und das Drumherum bekommen wir schon hin. Das ist natürlich Instant-Kultur, wie das Aufgießen einer Päckchensuppe – aber den Leuten gefällt’s. Also darf und soll auch Rocketman das Gleiche tun. Nicht leiden, nicht Probleme wälzen, sondern gefällig aufspielen wie beim Crocodile Rock, wo alles, was keine Flügel hat, fliegt.

Fletchers Filmoperette ist eine schillernde Rampensau, und wie hier Drama mit Bühnenshow kombiniert wird, einfach virtuos. Taron Egerton, der seit Fletchers Eddie-Hommage nie mehr wieder so gut war, taumelt in erfolgstrunkenem Zustand vom luxuriösen Wohnzimmer auf die Bühne, vom Krankenhaus an den Flügel, vom Flanieren auf einer Party in seinen nächsten Song. Wie Egerton sie bringt, hat eine ganz eigene Färbung, ist nicht Elton Johns Timbre, aber das macht nichts, ganz im Gegenteil – so lernt man bekannte Melodien plötzlich neu kennen. Keine Szene, die nicht ein paar Takte seiner Stücke anspielt, und seien sie auch noch so unplugged, noch so verborgen zwischen den Textzeilen. Rocketman schippert ganz eindeutig im Erfolgsfahrwasser von Bohemian Rhapsody, legt seine Songs aber ganz anders auf. Sie sind wichtiger als der ganze biographische Rest, doch greifen sie umschmeichelnd auf Stationen eines Lebens zurück, die fast schon generisch sind für das Ruhm-Handling eines Weltstars. Elton John war dafür bestens geeignet.

Rocketman

Juliet, Naked

DER FAN IN MEINEM BETT

7,5/10

 

julietnaked© 2018 Thimfilm

 

LAND: USA 2018

REGIE: JESSE PERETZ

CAST: ROSE BYRNE, ETHAN HAWKE, CHRIS O’DOWD U. A.

 

Nerds können manchmal anstrengend sein. Über nichts lässt sich plaudern, außer über das Objekt der Begierde, der Lebenszeit verschlingenden Leidenschaft. Nerds können aber auch witzig sein, viel mehr belächelnd witzig, sodass der Lachende froh ist, nicht ganz so zu sein wie der, über den sich andere gerade amüsieren. Dieses Konzept hat bei The Bing Bang Theory eine Zeit lang gut funktioniert – und den Experten mit Tunnelblick für das Nicht-Wesentliche salonfähig gemacht. Nick Hornby hat sich auch damit beschäftigt. Also mit den Eigenheiten eines Fans. Noch dazu eines Fans, der in einer Beziehung lebt. Der hat in dessen komödiantischer Romanze ein unergründliches Faible für einen ganz gewissen Musiker, der irgendwie zum Mythos wurde, nachdem er nach wenigen Jahren des Ruhms plötzlich in der Versenkung verschwand. Einziger Hinweis über dessen Verbleib sind unscharfe Schnappschüsse, die ungefähr so aussagekräftig sind wie das Waldfoto von Bigfoot.

Tucker Crowe hieß also dieser geheimnisvolle Songwriter, und Lebensgefährte Duncan hat sich vor lauter Hingabe im häuslichen Keller eine Art Schrein errichtet, in welchem er den erdigen Balladen des Verschwundenen mit Hingabe lauscht und einen Fanblog unterhält, der gerade mal eine Handvoll Follower hat. Auch Freundin Annie liest mit, wagt leise Kritik an einem bisher unveröffentlichten Unplugged-Tape des Künstlers – und setzt damit eine ungewöhnliche Verkettung von Ereignissen in Gang, die Tucker Crowe auf der Bildfläche erscheinen lassen. Und zwar deutlicher, als manch einem lieb sein kann. Mitunter auch dem Fan selbst.

Wer sich an den literarischen Vorlagen von Nick Hornby vergreift, braucht sich um den Plot keine Sorgen mehr machen. Diese Bücher (die ich leider selbst noch nie gelesen habe) leben, wie es den Verfilmungen nach scheint, von recht unaufgeregt skurrilen, alltäglichen Verstrickungen und von kuriosen romantischen Konstellationen, vor allem Ausgangssituationen, die recht schnell und wortgewandt in die Substanz des Erzählten finden, ohne um den heißen Brei herumzustromern. Das war bei High Fidelity oder About a Boy schon der Fall, und das ist bei Juliet, Naked genauso. Wieder ist die Musik etwas, ohne der es sich nicht gut leben lässt, ist die nerdige Verspieltheit und ein irgendwie nicht ganz ernstzunehmender Ernst diversen geschmacksorientierten Schräglagen gegenüber Fokus dieser intellektuell angehauchten Boulevardkomödien. Schauspielerisch bietet sich hier einiges an Möglichkeiten, damit sich längst etablierte Stars nochmal fast intuitiv entfalten und auf komödiantisch tun können, ohne sich lächerlich zu machen. Denn Hornbys Komödien, die haben Niveau, Geschmack und Stil. Sind nicht hemdsärmelig, sondern gesprächsverliebt. Niemals mieselsüchtig, und wenn, dann höchstens trotzig, aber immer zuversichtlich. Genauso reagiert Rose Byrne auf den kuriosen Wink des Schicksals, der ihr Ethan Hawke nach Hause lotst – als Ex-Musiker im Gammel-Look, der in der Garage wohnt, nebenan die Exfrau, doch was tun bei einem gemeinsamen Kind? Irgendwas will der ehemalige Schwerenöter und Dauerbekiffte doch noch auf die Reihe bekommen. Und neben dem Filius könnte auch noch aus Anne ein neuer Lebensmensch werden. Dieser Versuch hat nun einige spaßige Situationskomik in petto, der souverän ergraute Ethan Hawke ist großartig, wie er versucht, sich händeringend all der Familie zu erwehren, die da die seine ist. Und spätestens wenn der Lieblingsschauspieler eines Richard Linklater zwischen Sonnenaufgang und -untergang eine rauchig-melancholische Version von Waterloo Sunset unter Keyboardbegleitung in die Runde schmettert, gehört Juliet, Naked ganz sicher zu meinen liebsten Komödien der letzten Zeit. Weil all die schmeichelnde Ironie dieses Films beweist, dass es auch ohne Slapstick und tiefer Kalauer gehen kann. Dass man einfach eine gute, kluge Geschichte braucht, um zu begeistern. Da muss man gar kein Fan sein, von irgendetwas. Und wenn doch, dann wäre es wohl besser, wenn die Person des öffentlichen Interesses weit genug wegbleibt, um die Wolke 7 aus Sehnsucht und Anbetung nicht abregnen zu lassen.

Juliet, Naked

The Happy Prince

LAST DAYS OF BEING WILDE

6/10

 

happyprince© 2000 – 2018 Concorde Filmverleih GmbH

 

LAND: DEUTSCHLAND, BELGIEN 2018

REGIE: RUPERT EVERETT

CAST: RUPERT EVERETT, COLIN FIRTH, EDWIN THOMAS, COLIN MORGAN, EMILY WATSON, TOM WILKINSON U. A.

 

Da siecht er dahin, der große Künstler. Im Hotel d´Alsace in Paris dämmert er seinem Tod entgegen, unter Beisein eines Priesters, seines engsten Vertrauten und zwei Waisenbrüdern von der Straße, die Oscar Wildes Geschichte zu Ende hören wollen. Nämlich die vom Glücklichen Prinzen. Irgendwann aber kann sich der einst so hochgelobte und verehrte Dichter nicht mehr artikulieren. Und stirbt an einer Encephalitis, zugezogen durch eine chronische Mittelohrentzündung. Die letzten Jahre im Exil waren allerdings auch schon schlimm genug, und entsprechend entbehrlich. Von Frau und Kind getrennt, von seiner Heimat Großbritannien geächtet und von seiner gesellschaftlich verbotenen Liebe zum gleichen Geschlecht zerrissen, vegetiert die wohl unglücklichste Persona Non Grata der Literatur in heruntergekommenen Vierteln von Paris und in Neapel vor sich hin, schreibt Briefe, sonst aber nichts mehr. Wegen Unzucht mit männlichen Prostituierten ins Gefängnis geworfen, kommt der Schöpfer des Dorian Gray (übrigens sein einziger Roman) und des Gespenstes von Canterville nach zwei Jahren Zwangsarbeit gebrochen und gesundheitlich angeschlagen vom Regen in die Traufe.

Der britische Theaterschauspieler und Wilde-Kenner Rupert Everett, der unter anderem auch schon in dessen Drama-Verfilmungen An Ideal Husband (Golden Globe!) und The Importance of Being Ernest die Hauptrollen verkörpert hat, widmet sich frei fabulierend und mit fotographischer Raffinesse den letzten Lebensjahren einer offensichtlich für Everett selbst sehr inspirierenden Ikone. Nicht nur übernimmt der ebenfalls homosexuelle Künstler, der sich in jungen Jahren zwecks Geldbeschaffung selbst prostituierte, die Regie für diese sehr persönliche Hommage, sondern gleich auch die Hauptrolle und macht Stephen Fry – der schon einmal, und zwar in Wilde, den eitlen Dandy mit Hang zur freien Liebe verkörpert hat – ernstzunehmende Konkurrenz. Fry hat in Brian Gilberts Film aus dem Jahre 1997 den Dichter bis zu seinem Exil nach Paris begleitet – die finsteren letzten Jahre allerdings spart er aus. Genau da setzt The Happy Prince an – und taucht seinen Abgesang, seine Anti-Biographie, seinen Kreuzweg eines Künstlers in ein emotionales Wechselbad an assoziativen Bildern, trottenden Silhouetten und spukhaften Erscheinungen, die sich nach dem Gewesenen und Verschwundenen sehnen. Everett gelingt die Verkörperung des Gebrochenen erwartungsgemäß schmeichlerisch, theatralisch überhöht, erschafft dadurch aber auch etwas rehabilitierend Heilendes, einen versöhnlichen Abschied, mit all seinen dunklen Momenten und offenen seelischen Wunden.

Erbaulich ist The Happy Prince natürlich nicht. Von einer klassischen Biographie ist auch keine Rede. Everetts Film ist wie ein wehmütiges Requiem, voller Respekt vor dem Leiden und Lieben einer öffentlichen Person, die höchsten Ruhm erfahren und den tiefsten Fall ertragen hat. Und das in einer Zeit, in der soziale Medien praktisch nicht vorhanden und Shitstorms noch lange nicht ihr schlecht artikuliertes Unwesen treiben. Feigheit vor der Schmähung anderer gab’s aber schon damals nicht. Wo jemand zum gesellschaftlichen Freiwild wird, ist die Meute schnell vereint. Eine Eigenschaft, typisch Mensch – und die Oscar Wilde an den Pranger bringt. So gesehen lässt sich in dieser psychosozialen Nachtgeschichte sowohl der Zerfall einer Berühmtheit beobachten als auch das Sitten- und Unsittenbild eines endenden Jahrhunderts. Rupert Everett mittendrin, verhaftet in einer Illusion vergangener Tage, später dann in Resignation und Agonie. Für Hardliner literaturgeschichtlicher Schwermut ein fast schon voyeuristisches Endspiel, gemeinsam mit Brian Gilberts weitaus gefälligerer Formulierung einer Lichtgestalt sind das konsequent zu Ende erzählte Fakten eines Lebens aus Licht und stark kontrastierender Schatten.

The Happy Prince