The Mastermind (2025)

DIE NAIVE KUNST DES KUNSTRAUBS

4/10


© 2025 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: USA, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2025

REGIE / DREHBUCH: KELLY REICHARDT

KAMERA: CHRISTOPHER BLAUVELT

CAST: JOSH O’CONNOR, ALANA HAIM, HOPE DAVIS, BILL CAMP, JOHN MAGARO, GABY HOFFMANN, JASPER & STERLING THOMPSON, ELI GELB, COLE DOMAN, MATTHEW MAHER U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Im Krieg und in der Liebe…

James Blaine Mooney – der zweite Vorname gleicht nicht rein zufällig dem Verb blame, übersetzt für „schuldig bzw. schuld sein an etwas“ – ist wohl der Meinung, man befände sich im Krieg. Tatsächlich hat er nicht ganz unrecht, nur: der Krieg findet nicht vor der eigenen Haustür statt, sondern weit weit entfernt im abstrakt wirkenden Vietnam, wo Richard Nixon Menschenleben verpulvert für nichts und wieder nichts. Im heimatlichen Massachusetts, wo die Lichter zwar nicht ausgehen, aber das Licht der Erkenntnis bei manchen nicht wirklich durch den Schleier der Selbstüberschätzung dringt, scheint alles friedlich, wo andernorts vor allem die studierte Jugend auf die Straße geht, um gegen das angeblich Unvermeidliche zu demonstrieren. Während von überallher Nachrichten und Fernsehen dafür sorgen, dass der Krieg nicht aus den Köpfen der Bevölkerung verschwindet, hat auch dieser James Blaine Mooney, im weiteren Filmverlauf nur JB genannt, eher den Eindruck, dass sich in dieser prekären Ausnahmesituation ein Bankraub vielleicht so aussehen könnte wie eine Plünderung – durchaus menschliche Verhaltensweisen, die dann eintreten, wenn die staatliche Ordnung mitsamt ihrer Exekutive für nichts mehr garantieren kann und die Anarchie Gelegenheitsräuber reich macht. Als so einer will der zweifache, allerdings arbeitslose Vater, der sein Kunstgeschichtestudium aus welchen Gründen auch immer abgebrochen hat, das große Geld machen. Am besten im örtlichen Museum of Art in Framingham, das er ohnehin mit der lieben Familie immer wieder besucht, anstatt einen Job anzunehmen, der zum Greifen nah scheint.

Dominosteinschlaggefahr 

Doch Plündern will gelernt sein – und vorallem eins: durchdacht. Kelly Reichardt, auf deren Filme jedes Filmfestival dieser Welt wartet wie ein Verhungernder auf einen Bissen Brot, erteilt der Figur des Erfolgs-Querdenkers und Improvisateurs eine Lehre, indem sie ihn auf ganzer Linie scheitern lässt. Das beginnt schon bei JB’s Bequemlichkeit, das Ding nicht selber durchziehen, sondern windschiefe Leute anzuheuern, die nicht anders können, als zur Waffe zu greifen und eifrig zu zwitschern, sobald sie von der Exekutive in die Mangel genommen werden. So folgt also eines aufs andere, und Beau Josh O’Connor darf sich in fruchtloser Breaking Bad-Manier mit den Dominosteinen des Schicksals herumschlagen. Film Noir will The Mastermind aber keiner sein, dafür fehlt zur Gänze die melancholische, gar existenzialistische Schwere. Und noch etwas: Überhaupt fehlt in Kelly Reichardts Arbeit so etwas wie Belang.

Langweilen mit dem Offensichtlichen

Die ausgebleichten Farben der Siebziger sind eine Sache, die enervierende Jazzmusik eine andere, und tatsächlich quälende. Schafft man es, die Tonspur geistig auszublenden, bleibt immer noch das Rätsel um Josh O’Connors Charakter. Anscheinend ist dieser ein Mensch ohne Eigenschaften – wortkarg, uncharismatisch, erstaunlich phlegmatisch, im Grunde also wenig interessant. Reichardt gelingt es diesmal nicht, ihren Figuren eine gewisse Relevanz zu geben. Was mit JB also passiert, mag egal sein, so wie viele Szenen in dieser Krimidramödie, die unentschlossen zwischen knirschender Tragik und lakonischem Sarkasmus hin und her schlendert. Die Auswahl der Szenen misslingt – warum sich minutenlang mit dem Offensichtlichen aufhalten, mit der wortlosen Betrachtung von JB’s Tätigkeiten, die das Hirn des Zusehers mühelos ergänzen könnte. Was dieser also denkt, sieht er auch. Was er sich nicht denkt, sieht er nicht. Gedankliches Ergänzen in Filmen fordert eine Interaktion, die Reichardt gar nicht möchte. Kombinieren lässt sich die Metaebene mit dem Krieg zwar schon, doch die eigentlichen Beweggründe der Hauptfigur beschneidet sie derart, dass sie die Wurzel gleich mit entfernt.

The Mastermind, von der Prämisse her reizvoll, gestaltet sich als brustschwaches Heist-Movie in eitler Reduktion, fehlgriffig in seiner Struktur und frei von erzählerischen Peaks. Viel gibt’s dabei also nicht zu entdecken, außer vielleicht die Bildwelten des Arthur Garfield Dove.

The Mastermind (2025)

Dragonfly (2025)

EIN HUND KAM IN DIE KÜCHE

8/10


© 2025 AMP International


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 2025

REGIE / DREHBUCH: PAUL ANDREW WILLIAMS

KAMERA: VANESSA WHYTE

CAST: ANDREA RISEBOROUGH, BRENDA BLETHYN, JASON WATKINS U. A.

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Die ausgewählten Features im Rahmen des Slash Filmfestivals in Wien haben wirklich alles zu bieten – und kein Werk gleicht dem anderen. Das ist das Besondere an diesen elf Tagen, da man nie genau weiß, was man denn nun vorgesetzt bekommt, da auch Autorenfilmerinnen und -filmer auf der großen Leinwand reüssieren können, von denen man noch gar nichts weiß, zuvor vielleicht nur peripher etwas gehört hat und die das Zeug, die Ideen und vor allem die Narrenfreiheit haben, um wirklich und wahrhaftig für Überraschungen zu sorgen. Einer dieser Arbeiten ist Dragonfly des Briten Paul Andrew Williams, der seinem Wiener Genrepublikum auch leibhaftig alle Ehre erwiesen hat und es sich nicht nehmen ließ, uns seinen Film zu präsentieren – und das, obwohl Dragonfly gar nicht mal als typischer Genrefilm betrachtet werden kann. Oder vielleicht gerade deswegen?

Zwei, die sich gefunden haben

Wir haben es hier weder mit reinem Horror, noch mit einem Thriller, noch mit Fantasy oder Science-Fiction zu tun. Was bleibt dann noch – und wo ist der Slash-Faktor? Nun, es bleibt, was den Feature Film im Essenziellen ausmacht:  das große, erzählte Drama, die Substanz zwischen dem Spiel der Protagonistinnen. Dragonfly lässt anfangs völlig unklar, wie beide Charaktere einzuschätzen wären. Die eine nämlich, das ist Brenda Blethyn, eine Klasse für sich seit Mike Leighs Lügen und Geheimnisse und oscarnominiert für ihre exaltierte Darstellung im intensiven Talentedrama Little Voice. Die andere nicht weniger eine Koryphäe, die Vielseitigkeit in Person, authentisch bis ins Mark und so nuanciert, dass die eine Rolle und sonst keine, und zwar jene, die gerade auf der Leinwand zu sehen ist, die einzige sein mag, die Andrea Riseborough je gespielt hat. Mit weitem Spielraum zur freien Interpretation ihrer Figur gibt sie in Dragonfly die desillusionierte, mit sich selbst und der Welt arrangierte Colleen, der ihr tristes, durch Sozialhilfe finanziertes Dasein wohl vorwiegend für die stattliche Hündin an ihrer Seite bestreitet, ein ehrfurchtgebietender Vierbeiner, vor dem Nachbarin Elsie zuerst zurückschreckt, bevor sie sich an die Tatsache gewöhnt, dass Colleen und ihr Anhang wohl von nun an zu ihrem Leben gehören. Die ständigen Heimhilfen, die keine Ahnung von Elsies Bedürfnissen haben und wohl auch wenig persönliche Beziehung in ihre automatisierte Pflege einfließen lassen, hat die alte, gehbehinderte Dame endgültig satt. Welch ein Glück, dass die wortkarge, etwas zynische, aber aufopferungsvolle Nachbarin die Zügel in die Hand nimmt und rund um die Uhr genau das macht, was vor allem zur Corona-Zeit während des Lockdowns agilen Hausparteien angeraten wurde für ihr vulnerables Umfeld zu tun.

Leigh, Fassbinder und die Mystery dazwischen

Corona ist aber längst vorbei, das Tribute fordernde Alter aber bleibt – und so entwickelt sich zwischen den Beiden nicht nur eine Zweckgemeinschaft, sondern auch so etwas wie eine Freundschaft, von der man aber nie so genau weiß, wie tief sie geht, wie ehrlich sie ist, wie eigennützig. Lange Zeit ist Dragonfly kein Genrekino, sondern immersives Autorenkino im Realismus eines Mike Leigh, dass dank seiner beeindruckenden Schauspielerinnen die Routine eines scheinbar monotonen Alltags zu einer psychosozialen Revue der Gesten, Momente und Blicke werden lässt. So faszinierend kann emotionale Annäherung sein, so fesselnd der zaghafte Seelenstriptease, der immer tiefer vordringt und sich gerne auch im Dunkeln verläuft, bis es dann doch so weit ist und der gespenstische Terror einer Fremdbestimmung über dieses unscheinbare Zweiparteienhaus am Rande der Industrie durch die verschlissenen Zwischenräume eines Werteverständnisses bricht und in gallig-bitterem Zynismus fast schon eine Fassbinder’sche Geschichte erzählt, die den Trost in der Autonomie findet, jenseits davon aber vergeblich danach sucht.

Die Tragödie nimmt ihren Lauf, Wegsehen geht nicht, das Schauspiel der beiden ist so mächtig, da sehnt man sich kein bisschen nach dem großem Knall oder altbekannten Elementen, welche die Eskalation eines Psychothrillers markieren. In der Eintracht des Kaffeekränzchens, der mildtätigen Helping Hand und dem Zweck der entkommenen Einsamkeit liegt der Suspense, das erschütterliche Vertrauen, das so leicht in einen missverstandenen Horror kippen kann. Der symbolische Titel Dragonfly mag zwar nur schwer interpretierbar sein, das grandiose Schauspielkino um den Störfall in einem sozialen System bei weitem nicht.

Dragonfly (2025)

September & July (2024)

WER PFEIFT, SCHAFFT AN

5/10


© 2025 Stadtkino Filmverleih


ORIGINALTITEL: SEPTEMBER SAYS

LAND / JAHR: FRANKREICH, GRIECHENLAND, IRLAND, DEUTSCHLAND, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2024

REGIE: ARIANE LABED

DREHBUCH: ARIANE LABED, NACH DEM ROMAN VON DAISY JOHNSON

CAST: PASCALE KANN, MIA THARIA, RAKHEE THAKRAR, BARRY JOHN KINSELLA, CAL O’DRISCOLL, NIAMH MORIARTY, SHANE CONNELLAN U. A.

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Familie kann man sich nicht aussuchen, das ist längst klar wie der grüne See. Mit Geschwistern muss man zusammenleben, zumindest bis zur Volljährigkeit. Am besten, man arrangiert sich. Oder hat das Glück, nach Herz- und Seele-Manier miteinander zu verschmelzen, sich gegenseitig zu ergänzen und füreinander da zu sein. Auf den ersten Blick scheint es so, als wären September & July, womöglich benannt nach ihren Geburtsmonaten, das ideale Gespann, das dynamische Duo. Je länger man hinsieht, wird klar: Das ist es ganz und gar nicht. September ist dominant, sie pfeift, und July kommt gelaufen. July ist naiver, hingebungsvoller, erschreckend devot. Allerdings auch mutiger, freier und neugieriger. Das passt September ganz und gar nicht. Sie hat das Bedürfnis, ihre Schwester beschützen zu müssen, was aber insofern nach hinten losgeht, da July sich unterordnet. September Says lautet der Film im Original, und damit ist im Gegensatz zur deutschen Übersetzung deutlich mehr gesagt. Wenn September also anschafft, muss July spuren. Obwohl es scheint, als wäre alles nur ein Spiel, sagt dieses Kräftemessen einiges über das Verhalten der Figuren aus. Diese sind sowieso anders als der Mainstream, sind in der Schule personas non grata, sind Außenseiter aufgrund ihrer ungefälligen, sperrigen Art, ihres trotzigen Verhaltens und der Tendenz aufzubegehren, auf Kosten anderer. Das führt dazu, dass die Familie – die alleinerziehende Fotokünstlerin Sheela und ihre beiden Töchter – von Oxford nach Irland ziehen. Warum dieser Ortswechsel, erfahren wir erst viel später. Dort spitzt sich die Lage zu, die Zweisamkeit nimmt toxische Züge an, die Mutter selbst gibt sich distanziert. Womit wir beim Problem des Films wären.

Ariane Labed, bislang vorzugsweise als Schauspielerin in Filmen wie Lanthimos‘ The Lobster, Assassin’s Creed oder Flux Gourmet zu sehen, nimmt sich für ihr Spielfilmdebüt das Genre des Coming of Age-Films her – des suspenselastigen, unheilvollen Familiendramas, basierend auf dem Roman Sisters von Daisy Johnson. Labed besetzt ihr kühles Psychospiel mit frischen Gesichtern, lässt diese aber unnahbare Figuren verkörpern, die sich nicht darum bemühen, ihr Publikum in ihre Welt mitzunehmen. Weder September noch July noch deren Mutter gehen einem nahe, wenn man so will, dann vielleicht noch July, die in ihrem vulnerablen Pioniergeist eines jungen Menschen nachvollziehbar bleibt.

Womit Labed sichtlich Probleme hat, ist, sich ernsthaft mit ihren Figuren auseinanderzusetzen. Viel wichtiger sind ihr die redundanten Symptome einer ungesunden Schwesternbeziehung, von denen die undurchdringliche Rolle der Mutter immer wieder ablenkt – welchen Nutzen das für die Geschichte hat, bleibt fraglich. Als Arthouse-Independentfilm kommt September & July niemals so richtig in die Gänge, er bleibt verhalten, wenig selbstbewusst, als müsste Labed ihren eigenen Stil sowieso erst finden, und als wäre diese ihre Arbeit etwas, worin sich ihr Stil erst finden lassen könnte. Geschwisterfilme wie diese gibt es einige, bestes Beispiel der österreichische Psychothriller Ich seh ich seh von Veronika Franz und Severin Fiala, der sich mit dieser britisch-französischen Produktion am ehesten vergleichen lässt. Nur: Franz und Fiala wussten genau, was sie wollten und wohin die Reise gehen soll, man brauchte die Story nur ins Rollen zu bringen. Labed versucht eher, ihre Familien-Suspense immer wieder anzuschieben, um sicherzugehen, dass die Story letztlich auch aufgeht. September & July ist ein zu gewolltes Spiel um Besessenheit, Abhängigkeit und Verlust. Eine Mystery, an die sich schwer andocken lässt, da sie einen wegstößt, sodass man versucht ist, sich gar nicht mehr darauf einzulassen. Psychologisch bleibt September & July ungenau beobachtet, am Ende reißt ein vielleicht erwartbarer Twist den Status Quo aus seiner Tristesse.

September & July (2024)

Nickel Boys (2024)

ICH, DER AFROAMERIKANER

6/10


© 2024 MGM / Amazon Prime


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: RAMELL ROSS

DREHBUCH: RAMELL ROSS, JOSLYN BARNES, NACH DEM ROMAN VON COLSON WHITEHEAD

CAST: ETHAN HERISSE, BRANDON WILSON, HAMISH LINKLATER, FRED HECHINGER, DAVEED DIGGS, AUNJANUE ELLIS-TAYLOR, ROBERT ABERDEEN, GRALEN BRYANT BANKS U. A.

LÄNGE: 2 STD 20 MIN


Über Regisseur und Autor RaMell Ross muss man wissen: Dieser Mann ruft aus einer Richtung, die dem Mainstream entschieden und mit achtbaren Windspitzen entgegenweht. Nominiert 2019 für den besten Dokumentarfilm-Oscar (Hale County, Tag für Tag) durfte er dieses Jahr nicht nur unter den Nominierten für den Besten Film mitmischen, sondern auch noch unter jenen für das beste adaptiere Drehbuch. Die Academy scheint also offen für Arthouse, das gerne bewährte Sehgewohnheiten sprengt und auch Neues erzählt – nicht immer nur den gleichen, feigen Studio-Schmarrn. Mit Nickel Boys, basierend auf dem Roman von Colson Whitehead, verhindern Diversity-Agenden vehement, dass jemals wieder die Oscars „so white“ werden. Diesmal hatte trotz des „Trumpiarchats“ alles seine politische Correctness – und es ist ja auch nicht so, dass RaMell Ross‘ Film wirklich nur deswegen nominiert wurde, um die Quoten zu erfüllen. Taucht man ein in die Welt der Nickel Boys, wird klar, wie progressiv Kino sein kann. Wie wenig es gefällig sein, wie sehr es immer noch ausprobieren will, auch wenn man sich zugegebenermaßen schwertut, den Stil des Filmes zu absorbieren.

Hier ist etwas Ungewöhnliches im Gange. Eine spezielle Weise, Geschichten zu erzählen, die man vielleicht aus den Werken eines Terrence Malick und ansatzweise von Alejandro Gonzáles Iñárritu kennt. Hier stiftet das Subjektive, Kontemplative, Erratische den Nährboden für einen ohnehin schon langwierigen, gesellschaftspolitischen Problemfilm, der sich dem US-amerikanischen Alltagsrassismus der 60er Jahre annimmt und ihn verknüpft mit der Geschichte einer Freundschaft inmitten einer Welt voller Ressentiments, Repressalien und Freiheitsverlust. Keine leichte Kost, dieses Werk. Erstens schon mal aufgrund seiner visuellen Sichtweise nicht, und zweitens, weil RaMell Ross seine Geschichte niemals auf die leichte Schulter nimmt. Man benötigt also Engagement, um von Nickel Boys unterhalten zu werden. Um ehrlich zu sein: selten lagen Innovation und Konservatismus zu eng beieinander. Der Quotient daraus ist sperriges Kino mit massenhaft Anspruch, verblüffender Optik und einer geweckten Neugierde für ein Experiment, das zu verstehen niemandem leicht fällt.

Der Afroamerikaner wird in Nickel Boys seine Opferrolle niemals los. Das größte Opfer gibt Ethan Herisse als gedemütigter, aber blitzgescheiter Schüler Elwood Curtis, der in der Gunst seines Lehrers steht und die damals ungeahnte Chance wahrnimmt, wirklich etwas zu bewegen. Und dann das: Bei einem Autostopp steigt er nichtsahnend in den gestohlenen Wagen eines Autodiebs. Und wie es das Schicksal so will, beendet das Blaulicht im Rückspiegel nicht nur die Mitfahrt, sondern auch die Chance auf jedwede rosige Zukunft. Elwood gerät in Gefangenschaft und wird an eine dubiose Erziehungsanstalt überstellt, die sogenannte Nickel Academy, die es tatsächlich zwar niemals gab, allerdings an die Dozier School of Boys angelehnt scheint, in welcher ähnliche Zustände geherrscht haben sollen wie im Film. Diese sind schließlich äußerst kriminell, Rassismus und Unterdrückung stehen an der Tagesordnung. Erträglicher wird der auf unbestimmte Dauer angesetzte Aufenthalt durch die Bekanntschaft mit dem Mithäftling Turner (Brandon Wilson). Zwischen beiden entsteht innige Freundschaft – und auch so etwas wie der Geist eines Aufbegehrens gegenüber weißer Gewalt.

Woran man sich niemals so richtig gewöhnen wird, ist die Perspektive des Films. Die Kamera selbst schlüpft in die Rolle des Protagonisten, gewisser Elwood Curtis ist also zumindest anfangs nie zu sehen. Diese First-Person- oder Ich-Methode, die man hauptsächlich aus Computerspielen kennt, sollen den Zuseher tiefer in den toxischen Kosmos eines strafenden, diskriminierenden Amerika eintauchen lassen, als wäre man selbst der Leidgeprüfte. Als gäbe es, so lange der Film läuft, keine Chance, Abstand zu gewinnen. Etwas später wechselt Kameramann Jomo Fray dann doch insofern den Blickwinkel, da er den von Turner einnimmt. Diese Methode entfacht einen suggestiven, bewegten Bildersturm, das nervöse Schlingern einer subjektiven Kamera sorgt für das beklemmende Gefühl der Einengung. Der Erzählung dabei aus Distanz zu folgen, fällt schwer. Ein Grund mehr, warum Nickel Boys so anstrengt. Dazu dieser fragmentierte Szenenwechsel, die kaum stringente Szenenfolge, diese narrativen Lücken dazwischen. Nickel Boys ist eine hart erarbeitete neue Erfahrung, kein Film, dem man bereitwillig folgt, der aber insofern fasziniert, da er Neues versucht. Gefallen muss es einem nicht. Ausschließlich dafür ist Kino ja auch nicht da.

Nickel Boys (2024)

Evil Does Not Exist (2023)

WIE KOMMT DAS BÖSE IN DIE WELT?

8/10


evildoesnotexist© 2024 Polyfilm


LAND / JAHR: JAPAN 2023

REGIE / DREHBUCH: RYŪSUKE HAMAGUCHI

CAST: HITOSHI OMIKA, RYO NISHIKAWA, RYÛJI KOSAKA, AYAKA SHIBUTANI, HAZUKI KIKUCHI, HIROYUKI MIURA U. A.

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Ist ein friedlicher Ort im Einklang mit der Natur und im Grunde nur bestehend aus selbiger wirklich das Ideal einer Welt? Geht es nicht darum, ein Gleichgewicht zu halten zwischen Zerstörung und Wachstum, Leben und Tod oder gar Gut und Böse? Natürlich ist es das. Wie schon die daoistische Philosophie des Yin und Yang es voraussetzt, so trägt eine existenzielle Vollkommenheit genau diese beiden Pole in sich: Das Helle und das Dunkle, und das eine kann ohne das andere nicht existieren. Viele werden meinen: Diese Erkenntnis ist wahrlich nicht neu. Und ja, das stimmt. Dafür braucht es keinen Film, der diese Abhängigkeit noch einmal unterstreicht. Vielleicht geht es darum, Anwendungsbeispiele zu setzen, diese Dualität in eigene Klangformen zu bringen oder diese aus einer Perspektive zu betrachten, die beim ersten Hinsehen keinen Sinn ergibt. Und doch tut sie das. Und doch gelingt es dem japanischen Filmemacher Ryūsuke Hamaguchi auf sonderbare Weise – und das ist der Punkt: dass es eben sonderbar erscheint – nicht nur das Verhältnis zwischen Verderben und Eintracht darzustellen, sondern auch dem Faktor Mensch eine gewisse Aufgabe zukommen zu lassen in diesem ganzen Sein, in dieser Dreidimensionalität, die ohnehin niemand so recht versteht und von der keiner lassen kann. In Evil Does Not Exist wird der Mensch an sich zum willenlosen Wahrer einer Balance, die, wenn sie kippen würde, den Untergang bringt.

Hamaguchi hat mit seinem überlangen Drama Drive My Car die Filmwelt und insbesondere Kritiker in helle Aufregung versetzt, gilt doch dieses Werk als großes Kunststück des asiatischen Autorenkinos. Zweifelsohne hat dieser Film seine Qualitäten – emotional abgeholt hat er mich nicht, die feine psychologische Klinge hin oder her. Zu unnahbar und lakonisch die Figuren, zu sperrig die Sichtweise, vielleicht sogar mental zu fremd. Mit Evil Does not Exist gelingt Hamaguchi diesmal mehr als nur Arthouse-Drama. Diesmal gelingt ihm eine Parabel, die weitaus universeller funktioniert und eine Botschaft transportiert, die überall anwendbar scheint. Hamaguchi setzt eine philosophisch-ethische Gleichung, deren eingesetzte Variable am Ende der Aufgabe ein kryptisches Ergebnis liefert. Vorerst.

Es ist eine Conclusio, die man womöglich so nicht kommen sieht; die sich anfangs einem gewissen Verständnis verweigert. Evil Does Not Exist lässt allerdings im Nachhinein die Möglichkeit zu, von Neuem an die Materie heranzugehen, um sie zu besser verstehen. Und dann setzt sich alles zusammen, dann wird die Sicht auf das große Ganze klar. Und der Mensch zu einer Variablen, die durch ihren Drang zur Zerstörung erst diese Balance gewährleistet, die diese unsere Dimension braucht, um nicht in sich zusammenzufallen. Das Böse existiert nicht in der Natur: Der Titel des Films nimmt schon einiges vorweg. Und zeigt auch gleich ein Defizit auf: Es ist das Fehlen der anderen Komponente.

In einem südlich von Tokyo auf Honshu gelegenen Waldgebiet ist der Einklang mit der Natur, die Sauberkeit der Quellen und die Ruhe der Biosphäre oberstes Gebot für eine Handvoll Menschen, die hier leben. Takumi, Witwer und einer, der die Gemeinschaft fast schon im Alleingang zusammenhält, lebt zwischen Buchen, Lärchen und Kiefern mit seiner kleinen Tochter Hana ein beschauliches Leben und nimmt von der Natur, was unter Beachtung der Nachhaltigkeit entnommen werden kann. Diese Idylle, die anfangs schon das Gefühl vermittelt, hier fehlt es an etwas ganz Bestimmtem, wird gestört durch das Vorhaben einer Agentur, auf einem aufgekauften Grundstück mitten im Forst und nahe des Trinkwasser spendenden Baches eine Glamping-Oase samt Kläranlage zu errichten. Das stößt auf Kritik und wenig Zuspruch, einiges müsste hier adaptiert werden, um den Unmut zu besänftigen. Die beiden Gesandten dieser Firma haben bald ihre eigene Sicht der Dinge, die nicht ganz mit der Agenda ihrer Vorgesetzten kompatibel scheint. Im Laufe der Handlung wendet sich das Blatt, die Natur wird zum Lehrmeister und zur verlockenden Gelegenheit, selbst auszusteigen und ein neues Leben anzufangen, inmitten der Ruhe und der Eintracht. Doch wider Erwarten ist genau dieser Entschluss nicht das, was die Balance bringt. Takumi muss in sich gehen, muss etwas tun. Und so, als ob es einen Wink des Schicksals benötigt hätte, um weiterzumachen, verschwindet dessen Tochter.

Der Mensch also, als Verursacher für Reibung, für Dissonanz, für das Verzerren einer Harmonie, die sich selbst nicht aushält? Auf diesen Punkt steuert Hamaguchi zu, genau dahin will er sein Publikum bringen, damit dieses erkennt, dass, ohne das verheerende Tun des Menschen zu legitimieren, unsere Art vielleicht gar nicht anders kann, als Dissonanzen zu setzen – es wäre für das Gleichgewicht. Alles auf diesem Planeten kippt entweder in die eine oder in die andere Richtung, beides ist fatal. Diesen Ausgleich zu bringen, so sehr er auch schmerzt, dafür muss die unnahbare, introvertierte und wortkarge Figur des von Hitoshi Omika dargestellten Takumi Opfer bringen. Hamaguchi blickt durch eine ernüchternde Distanz auf dieses Dilemma. Er versucht, ein Muster zu erkennen in diesem andauernden ewigen Kräftespiel. Und es gelingt ihm, so sehr das gewählte Ende der Geschichte auch vor den Kopf stoßen mag.

Evil Does Not Exist ist hochkonzentriert, denkt nach und regt zum Nachdenken an. Selbst zwischen den von Eiko Ishibashi komponierten Musikstücken setzt der Filmemacher als akustisches Element seiner Dissonanz-Symphonie abrupte Cuts, worauf immersive Stille folgt. Impressionistische Bilder einer in sich ruhenden Natur werden von der grotesken Tilgung einer ursprünglichen Landschaft abgelöst – Häusermeere, Profitgier, fiese Kompromisse. Evil Does Not Exist ist wie ein Pendel, das nach heftiger Bewegung am Ende stillsteht. Dieses Ideal mag nicht gefallen, bringt aber genau die Reibung mit sich, die wir im Denken brauchen. Natürlich ist es Interpretation, doch unter dieser fügt sich alles zusammen.

Evil Does Not Exist (2023)