Sonne (2022)

ZEITVERTREIB MIT R.E.M.

5,5/10


sonne© 2022 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2022

BUCH / REGIE: KURDWIN AYUB

PRODUKTION: ULRICH SEIDL

CAST: MELINA BENLI, LAW WALLNER, MAYA WOPIENKA, THOMAS MOMCINOVIC, MARLENE HAUSER, MARGARETHE TIESEL U. A. 

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Hätte Universal Music den Welthit von Michael Stipe und Band nicht mit Freundlichkeit genehmigt, hätte dieses Langfilmdebüt von Kurdwin Ayub wohl den eigentlichen Star des Jugenddramas verloren: Losing My Religion erschallt in sämtlichen Variationen an irgendwelchen Orten in der goldenen Wienerstadt, in welcher Kulturen und Gesinnungen in einer wilden Mixtur und sich gegenseitig duldend koexistieren. Den Song hört man, ausbaufähig interpretiert von drei Maturantinnen, an kurdischen Festen oder aus dem Zimmer von Yesmin – sogar auf einer Hochzeit findet R.E.M.s zeitlose Nummer begeisterten Applaus – obwohl die Lyrics nicht gerade dafür geeignet sind, eine neue Verbindung zu feiern. Genauso wenig ist dieser Song dafür geeignet, wenn eine Muslimin gemeinsam mit ihren beiden Freundinnen, die anderer Konfession sind, sich aber dennoch in den Hidschāb werfen, einfach so zum Spaß einen auf Karaoke ohne Textablesen macht. Gut, es klingt ganz nett, andererseits aber auch wenig kraftvoll. Dafür lässt das bald auf Youtube gepostete Video einige gestalterische Raffinessen sehen – und wird ganz plötzlich zum Hit. Jetzt sind es nicht nur Yesmin, Nati und Bella, die sogar von Yesmins kurdischem Vater bewundert werden, sondern auch viele andere junge Leute, die sich zum Gesang hinreißen lassen – sei es nun im traditionellen Gewand islamischer Kultur oder eben nicht.

Während Yesmin also damit zu kämpfen hat, dass sie von ihren Freundinnen die Einzige ist, die diesen Stoff tagtäglich übers Haupt ziehen muss, geht ihr jüngerer Bruder ganz andere Wege, und zwar jene ohne Ziel und Verstand, die darauf hinauslaufen, dass dieser bald von der Polizei gesucht wird. Tja, und sonst? Sonst bietet Sonne einen ungeschönten, ungeschminkten und sehr direkten Blick auf eine Generation, die das Ende des Alphabets erreicht hat, ihren Platz in der Welt aber nicht definieren, geschweige denn ihre Wünsche und Träume artikulieren kann. In diesem Vakuum der Langeweile, des Sinnsuchens ohne Anhaltspunkte und des Abhängens auf Festivitäten köcheln so einige Impulse vor sich hin, die vielleicht aufgegriffen werden oder auch nicht. Oder gegen stereotypische Verhaltensmuster eingetauscht werden, die wohl eher die Generation Clueless vertreten, wenn Social-Media-Gadgets wie Elfenohren und Broccoli für kurze, aber schnell vergängliche Spaßmomente sorgen, die keine Nachhaltigkeit besitzen.

Kurdwin Ayub, geboren im Irak und in Wien nach der Flucht ihrer Familie aufgewachsen, verdient für ihren ersten Langfilm jedenfalls Respekt. Als selbst verfasstes Zeitportrait zwischen Smartphone-Displays und dem nachdenklichen Blicken von Hauptdarstellerin Melina Benli (von der wir wahrscheinlich noch viel mehr sehen werden, denn die Dame hat Talent) ist es sicher nicht einfach, hier die nötige Balance zu finden, um nicht nur auf Symptom-Ebene einen Zustand abzulichten – mit allerlei Klischees eben, die diese Altersgruppe plakatieren. Unterstützt von Ulrich Seidl, der seit jeher österreichische Befindlichkeiten mit hartem Realismus peitscht, folgt sie dann doch – und leider zu oft – den Empfehlungen des Maestros, anstatt sich davon loszulösen.

Für den eigenen Stil braucht es natürlich Zeit. Mal sehen, wie sie ihren zweiten Spielfilm Mond auslegen wird. In Sonne allerdings tritt die Geschichte auf der Stelle, setzt sich unentschlossen mit der muslimischen Jugendkultur auseinander, ohne tiefer in der Materie zu stochern und begnügt sich am Ende mit banalen Elementen gängiger Mädchenfilme, obwohl so manche – und vor allem eine – Wendung im Film viel mehr Aufmerksamkeit verdient hätte als Ayub ihr letztlich gegeben hat. Abgelenkt vom Schnickschnack diverser Smartphone-Apps, verliert sie den Kern der Geschichte immer mal wieder aus den Augen.

Sonne (2022)

Rot

EIN KNUDDEL IM ZWINGER

7,5/10


rot© 2021 Disney/Pixar. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: DOMEE SHI

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): ROSALIE CHIANG, SANDRA OH, AVA MORSE, HYEIN PARK, MAITREYI RAMAKRISHNAN, ORION LEE, WAI CHING HO U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Ein Kind soll Kind sein dürfen. In der elterlichen Obhut gibt’s anfangs sowieso wenig ernsthaften Spielraum, um aus der Rolle zu fallen. Der Anbruch des Teenageralters ändert dann aber so einiges. Die Obhut wird lästig, die Erziehungsnormen zum Gähnen – das Entdecken der eigenen Skills, der eigenen Gefühle und der eigenen Vorlieben lässt Erziehungsberechtigte lieber in der Ecke stehen – ein zugewiesenes Plätzchen, das selbige im Grunde wahrnehmen sollten, aus Liebe zum Nachwuchs. Rat und Beistand on demand gibt’s dafür rund um die Uhr. In so manchen Kinderstuben ist so ein Ansatz nicht mal Grund zur Diskussion, wenn Traditionen und Dogmen die Freiheit rauben, ob religiös motiviert oder einfach nur vererbtes Zeremoniell. Disney hat beim Thema Coming of Age – wie das Subgenre rund um heranreifende Teenies in Kultur und Medien genannt wird – momentan einen Narren gefressen. Erst zu Weihnachten sind der mit nonkonformistischen Verhaltensweisen gesegneten Mirabel aus Encanto die vererbten Wunderkräfte alles andere als in den Schoß gelegt worden. Ihre Rolle in der Welt hat sich die Gute erst erarbeiten müssen – singend und tanzend und die klappernde Villa Madrigal erforschend. Vor den Wurzeln aller Probleme – der Erziehung – macht Disney keinen großen Bogen mehr. Konflikte in der Familie gehören ausgetragen. Es ziemt sich nicht mehr, den Psychoschmarrn der Eltern mitzutragen. Neudefinition ist die Devise, ohne hilfesuchend zurückzublicken.

In einer ähnlichen Dysfunktionalität, die nach außen hin perfekten Frohsinn versprüht, bohrt auch der neue Pixar-Streifen Rot herum. Wie in Encanto fungiert auch hier, im Toronto des 21. Jahrhunderts, ein aus der Zeit gefallenes Matriarchat als Hemmschuh für einen befreiten, selbstbestimmten Lebensentwurf. Disney folgt dabei einem streng erdachten und trendeigenen Vokabular aus Minderheiten- und Frauen-Quote, das durch seine Dominanz alles Männliche zur kleinlauten Randfigur schrumpft. Mal sehen, wie lange noch diese Schräglage mit politischer Korrektheit begründet werden kann, doch momentan will der Mauskonzern mehr als nur alles richtig machen.

In diesem Fall ist Mei Lee ein Mädchen mit asiatischem Migrationshintergrund, gut in Mathe und offen für alles, was momentan im Trend liegt. Diese Leidenschaft für K-Pop (BTS lassen grüßen) und Social Media teilt die aufgeweckte Achtklässlerin mit ihren drei Freundinnen, die alles versuchen, um Karten für das anstehende Boyband-Konzert zu ergattern. Wenn der charakterlich liebevoll ausgearbeiteten Mädchenclique im Manga-Stil die kugelrunden Äugleins vor Begeisterung verschwimmen, wird bei Disney das Gefühl für Zeitgeist großgeschrieben. Währenddessen aber ist unser dreizehnjähriger Star des Films ein emotionales Hormonbündel schlechthin, reift langsam zur Frau und entfesselt ob ihres Gefühlschaos einen riesengroßen, knuddeligen roten Panda, der allerdings sie selbst ist. Ein Fluch? Ein Segen? Was soll dieses Wunder der Gestaltwandlung, für welches sich Mei Lee zunehmend schämt und wovon auch bald Helikoptermama Ming Lee Wind bekommt? Was gar nicht gut ist, denn dieser Bär, der überall für Aufsehen sorgt, ist ein jahrhundertealtes Geheimnis, das unterdrückt werden muss.

Das geht in aufgeklärten Zeiten wie diesen eigentlich überhaupt nicht. Für diese Freiheit, flügge zu werden, bricht Pixar gleich mehrere Lanzen und sucht den Konflikt der Generationen ohne Scheu davor, eingerostete Mutterrollen aus der Reserve zu locken. Das gelingt besser als in Encanto, ist dynamisch, launig und melodramatisch. Und überraschend kausal. Statt gemeinsam als Übermutter und Tochter bei der psychosozialen Familienberatung aufzuschlagen, tut’s die Sache mit dem Problembären, der als liebevoll ausgestaltete Symbolik (jeder mag Pandabären, die schwarzen so wie die roten) Dominanz und juvenile Auflehnung an einen Tisch bringt. Pixar gibt sich dabei trotz so einigem märchenhaften Disney-Zauber nicht mit plotbedingten Floskeln zufrieden, sondern führt den Konflikt recht spielerisch und unbelastend zu einem familiären Wendepunkt, der einen Neuanfang verspricht.

Rot

Booksmart

PARTY MACHT SCHULE

7,5

 

booksmart© 2019 Annapurna Pictures

 

LAND: USA 2019

REGIE: OLIVIA WILDE

CAST: BEANIE FELDSTEIN, KAITLYN DEVER, BILLIE LOURD, SKYLER GISONDO, LISA KUDROW, JASON SUDEIKIS, WILL FORTE U. A.

 

„Wo foahr‘ ma hin? – eine‘ ins Leben!“ – so lässt es das österreichische Musiker-Duo Pizzera & Jaus ertönen. Wie bezeichnend für Olivia Wildes Regiedebüt, die sich dem farbenfrohen Genre des Coming of Age-Films angenommen hat. Da gibt es natürlich unterschiedliche Herangehensweisen. Von der Entdeckung der eigenen Reife, verschachtelt mit der Allegorie eines Monsters, ob Vampir oder Werwolf (u.a. So finster die Nacht oder When Animals dream). Da wäre auch die ziellose Schwerelosigkeit wie sie Lady Bird aka Saoirse Ronan in Greta Gerwigs gleichnamigem Film hatte. Da wären aber auch niveaulose Kalauerkomödien im College-Dunstkreis, die zum Fremdschämen einladen. Oder kluge, niemals peinliche Einblicke in die Gedankenwelt völlig unterschiedlicher Jugendlicher wie in John Hughes immer noch aktuellem Klassiker Breakfast Club. Hughes selbst war ohnehin einer der wenigen, die aus der Pubertät nicht gleich ein Zerrbild notgeiler Sex-Debütanten gemacht hat. Und hat gezeigt, dass da weitaus mehr dahintersteckt als nur Spritztouren und Mädelsaufreißen, Schönheitswahn und Zickenkrieg. Olivia Wilde findet das auch. Und lässt die beiden College-Absolventinnen Molly und Amy so einiges über sich selbst und all die anderen erfahren, die längst nicht das sind, was sie all die Jahre hindurch vorgegeben haben zu sein.

Die Bedenken, die ich bei Filmen wie diesen habe, nämlich, dass sie sich als ordinäres Spaßkino auf Kosten diverser Pennälerklischees entpuppen, ist bei Booksmart so ziemlich unbegründet. Die Zuneigung, die Olivia Wilde ihren jungen Alltagsheldinnen entgegenbringt, macht fehlenden Respekt unmöglich. Beanie Feldstein und Kaitlyn Dever danken es ihr, indem sie aufspielen, als gäbe es kein Morgen mehr. Oder zumindest keine Schule. Was dieser augenzwinkernde Abgesang auf einen längst in seiner Routine liebgewonnenen Lebensabschnitt bereithält, ist das Umtriebige einer Nacht, ein feuchtfröhliches Roadmovie durch jugendliche Feierlichkeiten zwischen Luxusjacht und Gefängnis, doch alles soweit geerdet, dass es zwar klassisch amerikanisch und durchaus schrill einhergeht, dabei aber nie den Tag nach dem Abfeiern aus den Augen verliert. Denn das ist es, was alle hier bewegt, vom Mädchenschwarm bis zum Mauerblümchen: der Morgen nach der Schule, der erste Schritt in eine Zukunft, die mit Selbstbestimmung  frohlockt, aber auch die Obhut der Eltern entzieht. Die eine geht für ein Jahr nach Botswana, die andere nach Yale, und ganz andere versuchen sich im Sport. Dabei wird klar, dass diese Nacht, die hier so liebevoll gezeichnet wird, sämtliche Masken fallen lässt. Was zum Vorschein kommt, ist Neugier, Angst, Unsicherheit und der Versuch, ein jahrelang penibel zugelegtes Image auf Null herunterzusetzen, um sich und die anderen neu kennenzulernen. Oder selbst anders gesehen zu werden. In dieser Nacht haben alle, so unterschiedlich sie auch sein mögen, nämlich genau das gemeinsam: eine ungewisse Zukunft, die alle Absolventen neu definieren wird.

Booksmart ist kein sonderlich origineller Wurf, nichts unerwartet Neues. Dafür aber unerwartet bodenständig, wortgewandt und witzig. Ein wohlgesampelter Soundtrack mit fetten Beats pusht so richtig die Lust, einen draufzumachen. Wobei Humor hier nicht zum Selbstzweck verkommt. sondern aus den unerwarteten Situationen resultiert, in denen sich zwei Streberinnen wiederfinden, die dem Trugschluss erliegen, womöglich vieles verpasst zu haben. Beanie Feldstein agiert dabei unglaublich sympathisch und entwickelt einen dermaßen kumpelhaften Ehrgeiz, dem ich mich nicht entziehen kann. Partymachen muss also nicht zwingend etwas sein, das den nächsten Morgen in verschämter Katerstimmung und hinter dicken Sonnenbrillen durchbeißt, sondern kann auch wie das Nachsitzen bei John Hughes zu interessanten Erkenntnissen führen. Solche über verkannte Mitmenschen, Freundschaft oder über das Leben selbst, dem man sich irgendwann stellen muss.

Booksmart