Sonne (2022)

ZEITVERTREIB MIT R.E.M.

5,5/10


sonne© 2022 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2022

BUCH / REGIE: KURDWIN AYUB

PRODUKTION: ULRICH SEIDL

CAST: MELINA BENLI, LAW WALLNER, MAYA WOPIENKA, THOMAS MOMCINOVIC, MARLENE HAUSER, MARGARETHE TIESEL U. A. 

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Hätte Universal Music den Welthit von Michael Stipe und Band nicht mit Freundlichkeit genehmigt, hätte dieses Langfilmdebüt von Kurdwin Ayub wohl den eigentlichen Star des Jugenddramas verloren: Losing My Religion erschallt in sämtlichen Variationen an irgendwelchen Orten in der goldenen Wienerstadt, in welcher Kulturen und Gesinnungen in einer wilden Mixtur und sich gegenseitig duldend koexistieren. Den Song hört man, ausbaufähig interpretiert von drei Maturantinnen, an kurdischen Festen oder aus dem Zimmer von Yesmin – sogar auf einer Hochzeit findet R.E.M.s zeitlose Nummer begeisterten Applaus – obwohl die Lyrics nicht gerade dafür geeignet sind, eine neue Verbindung zu feiern. Genauso wenig ist dieser Song dafür geeignet, wenn eine Muslimin gemeinsam mit ihren beiden Freundinnen, die anderer Konfession sind, sich aber dennoch in den Hidschāb werfen, einfach so zum Spaß einen auf Karaoke ohne Textablesen macht. Gut, es klingt ganz nett, andererseits aber auch wenig kraftvoll. Dafür lässt das bald auf Youtube gepostete Video einige gestalterische Raffinessen sehen – und wird ganz plötzlich zum Hit. Jetzt sind es nicht nur Yesmin, Nati und Bella, die sogar von Yesmins kurdischem Vater bewundert werden, sondern auch viele andere junge Leute, die sich zum Gesang hinreißen lassen – sei es nun im traditionellen Gewand islamischer Kultur oder eben nicht.

Während Yesmin also damit zu kämpfen hat, dass sie von ihren Freundinnen die Einzige ist, die diesen Stoff tagtäglich übers Haupt ziehen muss, geht ihr jüngerer Bruder ganz andere Wege, und zwar jene ohne Ziel und Verstand, die darauf hinauslaufen, dass dieser bald von der Polizei gesucht wird. Tja, und sonst? Sonst bietet Sonne einen ungeschönten, ungeschminkten und sehr direkten Blick auf eine Generation, die das Ende des Alphabets erreicht hat, ihren Platz in der Welt aber nicht definieren, geschweige denn ihre Wünsche und Träume artikulieren kann. In diesem Vakuum der Langeweile, des Sinnsuchens ohne Anhaltspunkte und des Abhängens auf Festivitäten köcheln so einige Impulse vor sich hin, die vielleicht aufgegriffen werden oder auch nicht. Oder gegen stereotypische Verhaltensmuster eingetauscht werden, die wohl eher die Generation Clueless vertreten, wenn Social-Media-Gadgets wie Elfenohren und Broccoli für kurze, aber schnell vergängliche Spaßmomente sorgen, die keine Nachhaltigkeit besitzen.

Kurdwin Ayub, geboren im Irak und in Wien nach der Flucht ihrer Familie aufgewachsen, verdient für ihren ersten Langfilm jedenfalls Respekt. Als selbst verfasstes Zeitportrait zwischen Smartphone-Displays und dem nachdenklichen Blicken von Hauptdarstellerin Melina Benli (von der wir wahrscheinlich noch viel mehr sehen werden, denn die Dame hat Talent) ist es sicher nicht einfach, hier die nötige Balance zu finden, um nicht nur auf Symptom-Ebene einen Zustand abzulichten – mit allerlei Klischees eben, die diese Altersgruppe plakatieren. Unterstützt von Ulrich Seidl, der seit jeher österreichische Befindlichkeiten mit hartem Realismus peitscht, folgt sie dann doch – und leider zu oft – den Empfehlungen des Maestros, anstatt sich davon loszulösen.

Für den eigenen Stil braucht es natürlich Zeit. Mal sehen, wie sie ihren zweiten Spielfilm Mond auslegen wird. In Sonne allerdings tritt die Geschichte auf der Stelle, setzt sich unentschlossen mit der muslimischen Jugendkultur auseinander, ohne tiefer in der Materie zu stochern und begnügt sich am Ende mit banalen Elementen gängiger Mädchenfilme, obwohl so manche – und vor allem eine – Wendung im Film viel mehr Aufmerksamkeit verdient hätte als Ayub ihr letztlich gegeben hat. Abgelenkt vom Schnickschnack diverser Smartphone-Apps, verliert sie den Kern der Geschichte immer mal wieder aus den Augen.

Sonne (2022)

Rot

EIN KNUDDEL IM ZWINGER

7,5/10


rot© 2021 Disney/Pixar. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: DOMEE SHI

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): ROSALIE CHIANG, SANDRA OH, AVA MORSE, HYEIN PARK, MAITREYI RAMAKRISHNAN, ORION LEE, WAI CHING HO U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Ein Kind soll Kind sein dürfen. In der elterlichen Obhut gibt’s anfangs sowieso wenig ernsthaften Spielraum, um aus der Rolle zu fallen. Der Anbruch des Teenageralters ändert dann aber so einiges. Die Obhut wird lästig, die Erziehungsnormen zum Gähnen – das Entdecken der eigenen Skills, der eigenen Gefühle und der eigenen Vorlieben lässt Erziehungsberechtigte lieber in der Ecke stehen – ein zugewiesenes Plätzchen, das selbige im Grunde wahrnehmen sollten, aus Liebe zum Nachwuchs. Rat und Beistand on demand gibt’s dafür rund um die Uhr. In so manchen Kinderstuben ist so ein Ansatz nicht mal Grund zur Diskussion, wenn Traditionen und Dogmen die Freiheit rauben, ob religiös motiviert oder einfach nur vererbtes Zeremoniell. Disney hat beim Thema Coming of Age – wie das Subgenre rund um heranreifende Teenies in Kultur und Medien genannt wird – momentan einen Narren gefressen. Erst zu Weihnachten sind der mit nonkonformistischen Verhaltensweisen gesegneten Mirabel aus Encanto die vererbten Wunderkräfte alles andere als in den Schoß gelegt worden. Ihre Rolle in der Welt hat sich die Gute erst erarbeiten müssen – singend und tanzend und die klappernde Villa Madrigal erforschend. Vor den Wurzeln aller Probleme – der Erziehung – macht Disney keinen großen Bogen mehr. Konflikte in der Familie gehören ausgetragen. Es ziemt sich nicht mehr, den Psychoschmarrn der Eltern mitzutragen. Neudefinition ist die Devise, ohne hilfesuchend zurückzublicken.

In einer ähnlichen Dysfunktionalität, die nach außen hin perfekten Frohsinn versprüht, bohrt auch der neue Pixar-Streifen Rot herum. Wie in Encanto fungiert auch hier, im Toronto des 21. Jahrhunderts, ein aus der Zeit gefallenes Matriarchat als Hemmschuh für einen befreiten, selbstbestimmten Lebensentwurf. Disney folgt dabei einem streng erdachten und trendeigenen Vokabular aus Minderheiten- und Frauen-Quote, das durch seine Dominanz alles Männliche zur kleinlauten Randfigur schrumpft. Mal sehen, wie lange noch diese Schräglage mit politischer Korrektheit begründet werden kann, doch momentan will der Mauskonzern mehr als nur alles richtig machen.

In diesem Fall ist Mei Lee ein Mädchen mit asiatischem Migrationshintergrund, gut in Mathe und offen für alles, was momentan im Trend liegt. Diese Leidenschaft für K-Pop (BTS lassen grüßen) und Social Media teilt die aufgeweckte Achtklässlerin mit ihren drei Freundinnen, die alles versuchen, um Karten für das anstehende Boyband-Konzert zu ergattern. Wenn der charakterlich liebevoll ausgearbeiteten Mädchenclique im Manga-Stil die kugelrunden Äugleins vor Begeisterung verschwimmen, wird bei Disney das Gefühl für Zeitgeist großgeschrieben. Währenddessen aber ist unser dreizehnjähriger Star des Films ein emotionales Hormonbündel schlechthin, reift langsam zur Frau und entfesselt ob ihres Gefühlschaos einen riesengroßen, knuddeligen roten Panda, der allerdings sie selbst ist. Ein Fluch? Ein Segen? Was soll dieses Wunder der Gestaltwandlung, für welches sich Mei Lee zunehmend schämt und wovon auch bald Helikoptermama Ming Lee Wind bekommt? Was gar nicht gut ist, denn dieser Bär, der überall für Aufsehen sorgt, ist ein jahrhundertealtes Geheimnis, das unterdrückt werden muss.

Das geht in aufgeklärten Zeiten wie diesen eigentlich überhaupt nicht. Für diese Freiheit, flügge zu werden, bricht Pixar gleich mehrere Lanzen und sucht den Konflikt der Generationen ohne Scheu davor, eingerostete Mutterrollen aus der Reserve zu locken. Das gelingt besser als in Encanto, ist dynamisch, launig und melodramatisch. Und überraschend kausal. Statt gemeinsam als Übermutter und Tochter bei der psychosozialen Familienberatung aufzuschlagen, tut’s die Sache mit dem Problembären, der als liebevoll ausgestaltete Symbolik (jeder mag Pandabären, die schwarzen so wie die roten) Dominanz und juvenile Auflehnung an einen Tisch bringt. Pixar gibt sich dabei trotz so einigem märchenhaften Disney-Zauber nicht mit plotbedingten Floskeln zufrieden, sondern führt den Konflikt recht spielerisch und unbelastend zu einem familiären Wendepunkt, der einen Neuanfang verspricht.

Rot

Der Brotverdiener

WEIL ICH EIN MÄDCHEN BIN

7/10


breadwinner© 2018 Netflix


LAND / JAHR: KANADA, IRLAND, LUXEMBURG 2017

REGIE: NORA TWOMEY

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): SAARA CHAUDRY, SOMA BHATIA, ALI KAZMI, LAARA SADIQ, ALI RIZVI BADSHAH U. A. 

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Was macht Angelina Jolie eigentlich, wenn sie nicht gerade als Maleficent im Märchenland für Chaos sorgt? Sie produziert und finanziert Werke humanitären Inhalts, wie zum Beispiel diesen Animationsfilm der Kanadierin Nora Twomey (Das Geheimnis von Kells), der sich mit dem Kindsein in Afghanistan der Gegenwart beschäftigt und auf dem Roman Die Sonne im Gesicht von Deborah Ellis basiert, die eine Zeit lang in den Flüchtlingslagern der Region tätig war und so einiges an persönlichen Begegnungen in diese Geschichte einfließen hat lassen. Gäbe es Netflix nicht, hätte ich Der Brotverdiener damals unter den Oscarnominierten 2018 in der Sparte Animationsfilm gar nicht erst wahrgenommen. Zu stark war die Konkurrenz durch Coco – Lebendiger als das Leben. Der Brotverdiener war aber nicht einfach so unter den besten fünf. Wenn es in einem Film um so grundlegende Themen wie Frauenrecht, Gefährdung menschlicher Grundrechte und Fanatismus geht, um verhinderte Kindheiten und politische Willkür, kann sowas ja gar nicht unbeachtet bleiben. Schon gar nicht, wenn so zermürbende Themen so aufbereitet werden, dass auch der Grundschulgeneration sonnenklar einleuchtet, wie man als Mensch leben soll und wie nicht, was man als Mensch dürfen soll und was nicht. So, wie Twomley den Stoff erzählt, kann ein Problemfilm wie dieser familiengerechte Zerstreuung durchaus einmal ablösen, um Umstände auf dieser Welt in den Fokus zu nehmen, die Kinder freilich wissen dürfen. Dazu gehört die Tatsache, dass eben das Glück einer unbeschwerten Kindheit nichts Selbstverständliches ist.

2003 hat der afghanische Filmemacher Siddiq Barmak mit dem Streifen Osama bereits ähnliches erzählt: unter der Besetzung der Taliban dürfen Frauen nicht alleine auf die Straße, da reicht nicht mal die Burka. Das Mädchen Parvana muss eines Tages zusehen, wie ihr ohnehin schon kriegsversehrter Vater von wütenden Taliban-Aufpassern verhaftet wird – wochenlang bleibt dieser verschollen. Das Essen wird knapp, die insgesamt vierköpfige Restfamilie beginnt zu darben. Da hat Parvana eine Idee: sie wird einfach zum Jungen, um zumindest mal das Notwendigste heranschaffen zu können. Und Papa muss auch noch gefunden werden.

Der Zeichenstil dieses Films ist bewusst schlicht gehalten, dennoch haben die Bilder eine ansprechende Tiefe, was natürlich auch an den vorgezeichneten, statischen Hintergrundbildern liegt – ganz so wie Disney das immer schon gemacht hat. Zwischen all dieser eigentlich durchaus dramatischen und berührenden Geschichte öffnet sich eine zweite Erzählebene – illustriert wird hier auf gänzlich andere Art ein Märchen, dass sich Parvana ausdenkt – und im Grunde ihr eigenes Streben widerspiegelt. Mit finsteren Elefanten, Raubtieren und magischen leuchtenden Spiegeln.  Durch diese märchenhafte Komponente fällt es jüngeren Zusehern noch viel leichter, anzudocken. Denn Märchen sind ja von Grund auf nichts für Zartbesaitete, das wissen die Kids. Und entsprechend erträglich werden auch Szenen, die keiner von uns jemals erleben möchte.

Der Brotverdiener hinterlässt einem am Ende mit einem wohligen Gefühl der Zuversicht. Das eine Kindheit wie diese noch nicht ganz verloren ist. Denn die Welt ist groß, und zum Glück eben nicht nur Afghanistan.

Der Brotverdiener

Mignonnes

DIE NEUEN VERFÜHRTEN

8/10


mignonnes© 2020 Netflix


LAND: FRANKREICH 2019

REGIE: MAÏMOUNA DOUCOURÉ

CAST: FATHIA YOUSSOUF, MEDINA EL AIDI, ESTHER GOHOUROU, ILANAH, MYRIAM HAMMA, MAÏMOUNA GUEYE U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


So jung und schon bauchfrei und in Hot Pants? Dabei sind diese Mädchen lange noch nicht volljährig. Wer die soziale Entwicklung der Kindheit in den letzten Jahrzehnten nicht vollständig und bewusst ignoriert hat, der wird sich dabei nicht groß wundern. Spätestens in der Grundschulzeit trifft der Nachwuchs auf die magischen Features von Social Media. Zwecks Erreichbarkeit und auch zwecks Sicherheit haben nun alle Kids entsprechend ausgerüstete Handys. Sorgsame Eltern versehen dieses mit elterlichem Schutz, alle anderen, die aus Zeit- und Nervengründen froh sind, dass sich Mädel und Bub still beschäftigen, lassen die Next Generation schalten und walten.

Was es da alles gibt – und von wem zum Beispiel junge Mädchen da abgeholt werden! Influencer für die ganz Kleinen, Casting-Shows, Talente-Gigs noch und nöcher. So manches Display-Idol opfert täglich seine Zeit, um der Coming of Age-Zielgruppe zu zeigen, was junge Frauen tragen und wie sie sich schminken sollen. Klar, dass sich sowas durch den Freundeskreis zieht, und die eine will schöner und koketter sein als die andere. Begleitend dabei: die viel früher einsetzende Pubertät der Mädchen. Das war vor Jahrzehnten noch anders. Ernährung, äußere Einflüsse, alles spielt hier eine Rolle. Diese Mädchen hier, sie wollen die Starlets von morgen sein, und das am besten gestern. Außerdem: Sex sells! Diese leicht umsetzbare Taktik wird natürlich genutzt, denn diese Kids, die sind ja nicht dumm. Nabokovs Lolita war das auch nicht. Wobei: dieser Tendenz folgen bei weitem nicht alle, aber immerhin ein nicht übersehbarer Prozentsatz. So wie diese vier Cuties oder Mignonnes, wie sich das auf Netflix veröffentlichte, zu Recht auf dem Sundance Filmfestival ausgezeichnete Filmdrama nennt.

Die Süßen also, das sind Schülerinnen teils mit Migrationshintergrund, die bereits voll ins Social Media-Geschehen von Instagram, Tiktok und Co eingebunden sind, mangels gezielter elterlicher Tutorials natürlich alles posten, was ihnen in den Sinn kommt und so sein wollen wie all die Schönen, die tagtäglich vorgeben, was sich lohnt, schon als Kind im Leben zu erreichen. Eines dieser Ziele ist ein Choreographie-Tanzwettbewerb, den die vier Elfjährigen unbedingt gewinnen wollen und praktisch alles dafür tun würden, um gemocht und gewählt zu werden. Sehr zum Leidwesen traditioneller Elternhäuser wie jenes von Muslimin Amy, die sich eigentlich auf die Hochzeit ihres Vaters mit seiner Zweitfrau vorbereiten sollte.

Was sich Netflix mit Mignonnes eingetreten hat, das ist wieder mal ein werbewirksamer Skandal mit der notwendigen Publicity für eine Produktion, die ohne Empörung womöglich zu Unrecht in den Archiven des Streamingriesen verschwunden wäre. Zu Unrecht auch dieses Pharisäertum, dass zum Boykott von Netflix und was weiß ich noch aufgerufen hat. Warum? Mignonnes hypersexualisiere minderjährige Mädchen und fröne unter anderem dem Voyeurismus. Nichts davon, so finde ich, hat Regisseurin Maïmouna Doucouré im Sinn, und keiner dieser Vorwürfe ist gerechtfertigt.

Bizarres Detail am Rande: Mignonnes ist einer dieser Filme, die – so wie The Hunt oder The Promise – geächtet worden sind, bevor sie überhaupt gesichtet wurden. Denn würde man dies tun, würde man klar sehen, worum es in Mignonnes überhaupt geht. Da reicht schon ein provokantes Filmplakat, um Moralapostel auf die Barrikaden zu holen. Doch vielleicht hatte Doucouré aber genau das im Sinn: all die Bigotterie vorzuführen, während das Wesentliche absichtlich übersehen wird: das Zeitalter eines medialen neuen Mittelalters zwischen militanten Religionen, heilig wie eilig erhobenem Zeigefinger und grenzenlosem Konzern-Lobbyismus, der die Quellen aller Smartphone-Apps nutzt, um eine konsumorientierte Showgesellschaft zu formen. Das, genau das steht im Zentrum dieses Films, der die Zerrissenheit seiner jungen Menschen auf Augenhöhe und mit aufklärerischer, aber zeitgleich objektiver Konzentration auf den Punkt bringt.

Mignonnes, das ist ein erhellendes, berührendes kleines Meisterwerk.

Mignonnes

Booksmart

PARTY MACHT SCHULE

7,5

 

booksmart© 2019 Annapurna Pictures

 

LAND: USA 2019

REGIE: OLIVIA WILDE

CAST: BEANIE FELDSTEIN, KAITLYN DEVER, BILLIE LOURD, SKYLER GISONDO, LISA KUDROW, JASON SUDEIKIS, WILL FORTE U. A.

 

„Wo foahr‘ ma hin? – eine‘ ins Leben!“ – so lässt es das österreichische Musiker-Duo Pizzera & Jaus ertönen. Wie bezeichnend für Olivia Wildes Regiedebüt, die sich dem farbenfrohen Genre des Coming of Age-Films angenommen hat. Da gibt es natürlich unterschiedliche Herangehensweisen. Von der Entdeckung der eigenen Reife, verschachtelt mit der Allegorie eines Monsters, ob Vampir oder Werwolf (u.a. So finster die Nacht oder When Animals dream). Da wäre auch die ziellose Schwerelosigkeit wie sie Lady Bird aka Saoirse Ronan in Greta Gerwigs gleichnamigem Film hatte. Da wären aber auch niveaulose Kalauerkomödien im College-Dunstkreis, die zum Fremdschämen einladen. Oder kluge, niemals peinliche Einblicke in die Gedankenwelt völlig unterschiedlicher Jugendlicher wie in John Hughes immer noch aktuellem Klassiker Breakfast Club. Hughes selbst war ohnehin einer der wenigen, die aus der Pubertät nicht gleich ein Zerrbild notgeiler Sex-Debütanten gemacht hat. Und hat gezeigt, dass da weitaus mehr dahintersteckt als nur Spritztouren und Mädelsaufreißen, Schönheitswahn und Zickenkrieg. Olivia Wilde findet das auch. Und lässt die beiden College-Absolventinnen Molly und Amy so einiges über sich selbst und all die anderen erfahren, die längst nicht das sind, was sie all die Jahre hindurch vorgegeben haben zu sein.

Die Bedenken, die ich bei Filmen wie diesen habe, nämlich, dass sie sich als ordinäres Spaßkino auf Kosten diverser Pennälerklischees entpuppen, ist bei Booksmart so ziemlich unbegründet. Die Zuneigung, die Olivia Wilde ihren jungen Alltagsheldinnen entgegenbringt, macht fehlenden Respekt unmöglich. Beanie Feldstein und Kaitlyn Dever danken es ihr, indem sie aufspielen, als gäbe es kein Morgen mehr. Oder zumindest keine Schule. Was dieser augenzwinkernde Abgesang auf einen längst in seiner Routine liebgewonnenen Lebensabschnitt bereithält, ist das Umtriebige einer Nacht, ein feuchtfröhliches Roadmovie durch jugendliche Feierlichkeiten zwischen Luxusjacht und Gefängnis, doch alles soweit geerdet, dass es zwar klassisch amerikanisch und durchaus schrill einhergeht, dabei aber nie den Tag nach dem Abfeiern aus den Augen verliert. Denn das ist es, was alle hier bewegt, vom Mädchenschwarm bis zum Mauerblümchen: der Morgen nach der Schule, der erste Schritt in eine Zukunft, die mit Selbstbestimmung  frohlockt, aber auch die Obhut der Eltern entzieht. Die eine geht für ein Jahr nach Botswana, die andere nach Yale, und ganz andere versuchen sich im Sport. Dabei wird klar, dass diese Nacht, die hier so liebevoll gezeichnet wird, sämtliche Masken fallen lässt. Was zum Vorschein kommt, ist Neugier, Angst, Unsicherheit und der Versuch, ein jahrelang penibel zugelegtes Image auf Null herunterzusetzen, um sich und die anderen neu kennenzulernen. Oder selbst anders gesehen zu werden. In dieser Nacht haben alle, so unterschiedlich sie auch sein mögen, nämlich genau das gemeinsam: eine ungewisse Zukunft, die alle Absolventen neu definieren wird.

Booksmart ist kein sonderlich origineller Wurf, nichts unerwartet Neues. Dafür aber unerwartet bodenständig, wortgewandt und witzig. Ein wohlgesampelter Soundtrack mit fetten Beats pusht so richtig die Lust, einen draufzumachen. Wobei Humor hier nicht zum Selbstzweck verkommt. sondern aus den unerwarteten Situationen resultiert, in denen sich zwei Streberinnen wiederfinden, die dem Trugschluss erliegen, womöglich vieles verpasst zu haben. Beanie Feldstein agiert dabei unglaublich sympathisch und entwickelt einen dermaßen kumpelhaften Ehrgeiz, dem ich mich nicht entziehen kann. Partymachen muss also nicht zwingend etwas sein, das den nächsten Morgen in verschämter Katerstimmung und hinter dicken Sonnenbrillen durchbeißt, sondern kann auch wie das Nachsitzen bei John Hughes zu interessanten Erkenntnissen führen. Solche über verkannte Mitmenschen, Freundschaft oder über das Leben selbst, dem man sich irgendwann stellen muss.

Booksmart

Bumblebee

HEAVY METAL ZUM FRÜHSTÜCK

6/10

 

null© 2018 Paramount Pictures

 

LAND: USA 2018

REGIE: TRAVIS KNIGHT

CAST: HAILEE STEINFELD, JOHN CENA, PAMELA ADLON, KENNETH CHOI, JOHN ORTIZ U. A.

 

Ein Schlaukopf, ein Muskelprotz, eine Ausgeflippte, eine Prinzessin und ein Freak – wer kann diese letzten Zeilen des Jugendklassikers The Breakfast Club nicht nachsprechen? Natürlich jene, die ihn noch nicht gesehen haben (und das dringend nachholen sollten) und folglich auch das eine oder andere Bonmot aus dem aktuellen Transformers-Ableger wohl weniger erkennen werden. Und jetzt, jetzt ist es passiert – jetzt habe ich Transformers gesagt. Für Cineasten sowas wie das Weihwasser für den Teufel, oder? Was Michael Bay da in bereits gefühlten hundert Teilen hier angerichtet hat, ist, als würde man sämtliche Schrotthalden der Welt in einen Malstrom werfen, nur um zu sehen wie es quietscht, birst und detoniert. Nichts gegen die visuelle Raffinesse in manchen Szenen – doch das Geklotze ist selbst für Hardcore-Destruktivisten enervierend. Wieso im Namen aller Talismane, die da unter den Cockpitspiegeln sämtlicher Kraftwägen baumeln, habe ich mir einen Transformers-Film angetan? Weil ich, wie so oft (und auch zuletzt bei Robin Hood) neugierig wurde. Neugierig, wie denn das Hasbro-Spielzeug dramaturgisch überhaupt noch anders verpackt werden kann. Und ob das funktioniert, bei all diesen extraterrestrischen Kolossen, die unsereins so verwundbar scheinen lassen wie Schmetterlingsflügel.

Sich von den Rezensionen anderer überhaupt nicht leiten zu lassen, da braucht es schon parabolschirmgroße Scheuklappen. Irgendwie beeinflusst das immer, und so auch die relativ positiven Stimmen, die mich dann doch zu einer Sichtung von Bumblebee motiviert haben. Gemeinsam mit Besucherkonstellationen wie Vater-Sohn, After-Work-Kollegen und jungen Ehepaaren konnte das Getöse – oder Nicht-Getöse dann beginnen. Und all die positiven Stimmen weitestgehend abnickend kann ich sagen: Ja, Bumblebee von Travis Knight (Kubo – der tapfere Samurai) geht in eine andere Richtung, mitunter sogar in eine, die nostalgisches Erinnern weckt. Nämlich an die guten alten Jugendfilme der Siebziger-Generation. Und damit meine ich jene, die mit der Magie des Phantastischen kokettierten. Was fällt mir da ein? Natürlich E.T., die Freundschaft eines Jungen mit einem knorrigen Alien. Und wer kann sich noch an den Flug des Navigators erinnern? Das Raumschiff – der absolute Hingucker. Oder an Nummer 5 lebt? Da hatte es Ally Sheedy (die Ausgeflippte aus erwähntem Breakfast-Club) mit einem sprechenden Roboter zu tun, der die spätere Figur von Pixar´s Wall-E schon vorwegnahm. In all diesen Fällen standen Freundschaft, soziale Nähe und innere Werte im Mittelpunkt. Das „Über-sich-Hinauswachsen“ und der Mut der Schwächeren. Travis Knight hat sich dieser Elemente im Rückblick auf eine ganze Epoche kluger Coming-of-Age-Filme besonnen, sie entstaubt und wieder vereint. Entstanden ist ein Film. der vom Zeitgeist daher irgendwie aus dem Rahmen fällt, dafür aber statt dröhnender Kopfschmerzen den narrativen Beat der 80er auf gefällige Zimmerlautstärke dreht, ohne die Nachbarn zu alarmieren.

Herzstück des Ganzen ist dabei zweifellos eine hingebungsvolle Hailee Steinfeld, die als Halbwaise mit Mama, Stiefpapa und einem nervigen Bruder über den Tod ihres Vaters hinwegkommen muss, gerne an fahrbaren Untersätzen schraubt und es nicht fassen kann, als ein ziemlich ramponierter VW-Käfer in Signalgelb plötzlich humanoide Gestalt annimmt. Dieser verängstigte, stumme Bumblebee, der von den Häschern der Decepticons verfolgt wird, findet in der einzelgängerischen Charlie eine vertraute Seele. Beide fühlen sich verlassen, unverstanden und fehl am Platz. „Ich bin ich“ war gestern, der Sinn ihres Daseins wartet also auf Input. Ein kleiner Breakfast-Club, und in diesen Szenen des Miteinander und Füreinander liegt der Charme des Films. Mal humorvoll, mal emotional, nie albern. Zumindest dann nicht, wenn zum Beispiel „Charlie“ Hailee Steinfeld den wortlosen Karosserie-Buster Keaton, der nur anhand seines Autoradios kommuniziert, trendige Popmusik näherbringt. Bumblebee ist ein Roboter mit Herz und kleinem Ego, ein Nummer 5, aber auch ein Wall-E, vor allem was die Eloquenz angeht – und sogar ein bisschen Alf, wenn er in einer der besten Szenen im Bemühen, alles richtig zu machen, versehentlich die elterliche Wohnung verwüstet.

Das auf Basis der Actionfiguren errichtete Element der kriegerischen Vorgeschichte für Michael Bay´s Filmreihe ist hingegen nicht der Rede wert. Decepticons und Autobots hin oder her, darum geht es nicht wirklich. Schon, auch – und womöglich auf Wunsch von Produzent Bay, aber es ist nicht sonderlich relevant und wütet auch eher im Hintergrund, in radikal reduziertem Gekloppe, im Grunde relativ austauschbar. Letzteres sind auch die charakterschwachen Stereotypen aus Militär und Wissenschaft, allesamt lächerlich hohl – aber das waren die Figuren aus den 80er-Filmen vermutlich auch, nur haben wir die bisweilen verklärt oder verdrängt. Darüber mag man gern mit den Augen rollen – und es gnadenhalber hinnehmen, wenn auf der Haben-Seite Alien-Herbie mit dem Mädchen von nebenan verstecken spielt. Da könnte man fast den Geist in der Maschine vermuten – und hoffen, dass Bumblebee als Spin Off von der Maschekseite als Stand-Alone keine Sequels nach sich zieht, die nur wieder das hervorbringen, was bei Michael Bay schiefgelaufen ist. Als Stand-Alone wäre dann der kauzige Gigant aus dem All ein lichter Moment inmitten martialischer Zerstörungswut. Versöhnlich und trotz der tonnenschweren Mechanik ungewohnt leichtfüßig. Wie „Freak“ Judd Nelson, der am Ende des Breakfast Club über den Sportplatz schlendert.

Bumblebee

Plötzlich Papa

NICHT OHNE MEINE TOCHTER

6/10

 

ploetzlichpapa

Regie: Hugo Gélin
Mit: Omar Sy, Clémence Poesy

 

Jeder will Omar Sy´s bester Freund sein. Seit der französischen Erfolgskomödie rund um einen Querschnittgelähmten und seinem Assi ist Frankreichs „Will Smith“ zum Publikumsliebling und Quotengarant geworden. Ja, man findet den sympathischen, offenherzigen Komödianten auch im amerikanischen Blockbusterkino wie X-Men oder Jurassic World – wobei er dort sein quirliges What else-Temparament, für das wir ihn so sehr lieben, nicht so richtig ausleben konnte und ziemlich blass neben der Spur stand. Am Besten ist Omar Sy in Filmen, die sowohl Spaß machen als auch berühren. Da steht Ziemlich beste Freunde nicht alleine da. Da gäbe es noch die famos gelungene Identitäts- und Flüchtlingskomödie Heute bin ich Samba oder eben Plötzlich Papa. Dabei könnte man beim letzterem Filmtitel durchaus eine banale Familienkomödie vermuten. Oder aber auch ein Revival der Herrengang im Mutterschutz – Drei Männer und ein Baby. In Hugo Gélin´s Dramödie ist es allerdings nur ein Mann – die Anzahl der Babys bleibt allerdings gleich.

Abgesehen von einigen sehr wenigen Slapstickeinlagen und Witzen auf Kosten voller Windeln und sonstigen Engpässen im Jungmenschenalter bleibt Plötzlich Papa überraschend deutlich und über weite Strecken am Boden. Der leichtfüßige Humor, für den das Genre der französischen Komödie zu Recht so bekannt ist, weicht schnell einem Problemkino, das man vielleicht so nicht erwartet hätte. Und eigentlich nicht sehen wollte. Da reicht es nicht, die Dramatik eines Sorgerechtsstreits für das Publikum spürbar zu machen, so wie seinerzeit im zutiefst berührenden Film Kramer gegen Kramer mit Dustin Hoffman. Oder sogar in der deutschen Biedermann-Variante Wenn der Vater mit dem Sohne, in welcher Heinz Rühmann den zeitlosen Hit La Le Lu zum Besten geben durfte. Ja, auch bei Heinz Rühmann tupfen sich auch Nicht-Väter diskret die Augenwinkel. Aber die Gefährdung der Liebesbande zwischen Elternteil und Sprößling war Hugo Gélin nicht genug.

Wie bitte, nicht genug? Nein, denn was hier noch dazu kommt, ist das Damoklesschwert eines lebensgefährlichen, körperlichen Defizits. Wen der Charaktere dies nun betrifft, verrate ich jetzt aus Solidarität zu Lesern, die den Film noch auf ihrer fimlischen To Do-Liste haben, logischerweise nicht. Was ich aber verraten kann, ist, dass der Plot des exilfranzösischen Großstadtdramas in seinen Verstrickungen und Schicksalen durchaus Sinn macht. So ist es mir in Verborgene Schönheit mit dem „Omar Sy“ Amerikas ähnlich ergangen. Dramatisch, traurig, unendlich bedeutsam – doch das war von vornherein klar. Bei Plötzlich Papa ist es das wie gesagt nicht. Und obwohl Omar Sy und Clémence Poesy versuchen, mit augenzwinkernder Leichtfüßigkeit das Ganze nicht zu schwer zu nehmen, macht ihnen die Regie einen Strich durch die Rechnung. Was dabei rauskommt, ist Schicksalsromantik nahe am Kitsch, wenn nicht gar darüber.

 

Plötzlich Papa