Andrea lässt sich scheiden (2024)

ÜBERS DORFDENKEN HINAUS

6,5/10


andrealaesstsichscheiden© 2024 Filmladen


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2024

REGIE: JOSEF HADER

DREHBUCH: JOSEF HADER, FLORIAN KLOIBHOFER

CAST: BIRGIT MINICHMAYR, JOSEF HADER, THOMAS SCHUBERT, ROBERT STADLOBER, THOMAS STIPSITS, BRANKO SAMAROVSKI, WOLFGANG HÜBSCH, MARGARETHE TIESEL, MARLENE HAUSER, MARIA HOFSTÄTTER, NORBERT FRIEDRICH PRAMMER, MICHAEL PINK U. A. 

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Die erste Szene von Josef Haders neuem Film ist Programm. Eine Polizistin und ihr Kollege stehen an der Landstraße, an einer der markanten, wenigen abschüssigen Stellen irgendwo in der Pampa, umgeben von Feldern und sonst nichts. Sie stehen dort und warten, der eine, Thomas Schubert, hat eine Radarpistole. Die beiden unterhalten sich, dabei wird klar: Der Kollege hat bald Geburtstag, und das geht ihm gegen den Strich. Denn was feiert man da? Im Grunde nur, dass man das letzte Jahr nicht gestorben ist.

Josef Hader ist spätestens seit dem Kultfilm Indien, der eine ähnliche, wenn auch kabarettistischere Tonart anschlägt, eine Institution, die viel mehr in sich vereint als nur Kleinkunstbühnenshow und Kellersarkasmus. Hader ist längst Schauspieler auch fürs ernste Fach, in Maria Schraders Vor der Morgenröte hat er bewiesen, auch ohne ostösterreichischem Dialekt eines kleinen, übervorteilten Mannes ganz gut klarzukommen. Das Gütesiegel, das er allerdings immer mit sich tragen wird, ist das eines unverwechselbaren Originals. Die Art und Wiese, wie Hader die Welt sieht, und wie sie auch seine Figuren sehen, die er verkörpert, entspricht dem autoaggressiven, deutlich spießigen und selbstbemitleideten Urösterreicher, der den Zeitgeist des illusionslosen Alltags beschwört. In Andrea lässt sich scheiden findet er zu gewohnten und auch bewährten Mustern zurück, verfeinert diese jedoch zur labilen Schicksalsfigur eines verlachten und nicht für voll genommenen Religionslehrers im erzkonservativen Kleiderbauer-Braun, nur ohne Ellbogenschützer am Sakko. Das wäre wieder eine Spur zu dick aufgetragen, denn Hader weiß: Zuviel ist meist ungesund, der subversive Galgenhumor das Beste, was sich in eine zerfahrene Momentaufnahme wie diese aus der Provinz des Abendlandes einstreuen lässt.

Dieser Religionslehrer namens Franz ist felsenfest davon überzeugt, ins Gefängnis zu wandern, weil er Buße tun muss. Und weil er einen Mann überfahren, den aber eigentlich Birgit Minichmayr als titelgebende Andrea auf dem Gewissen hat. Das Besondere daran: Das Unfallopfer ist Andreas Noch-Ehemann, der kurz davor noch von seiner Noch-Ehefrau zur Einvernehmlichen gebeten wurde, der sich aber, sturzbetrunken und völlig aufgelöst, in tiefem Kummer über sich und die Welt des Nächtens auf eingangs erwähnter Landstraße in Gefahr begibt. Warum Andrea letztlich keine Anstalten macht, die Rettung zu alarmieren, sondern statt erfolglosen Wiederbelebungsmaßnahmen gar noch Fahrerflucht begeht, um den vom Schicksal gebeutelten Franz als Sündenbock herhalten zu lassen, wird sich niemals so richtig erschließen. War es Panik, Feigheit, die Unmöglichkeit, Komplikationen wie diesen entgegentreten zu können?

Im Laufe des Films wird man sehen, dass Andrea damit nur schwer klarkommen wird. Entsprechend stoisch, lakonisch und introvertiert hängt sie der Möglichkeit nach, aus der Provinz nach St. Pölten zu emigrieren. Johanna Mikl-Leitner, ihres Zeichens Landeshauptfrau des Bundeslandes, wird das Werbebudget für St. Pölten, längst verschrien als langweiligster urbaner Zustand in Österreichs Osten, um einiges erleichtert haben. Hader, der in seiner Figur nichts gegen das Dasein in der Einschicht ins Feld führen kann, sucht währenddessen Trost im Hochprozentigen. So taumeln beide Figuren an Wendepunkten ihres Lebens zwischen Entschlossenheit und Ratlosigkeit hin und her, es sind zwei existenzialistische Gestalten auf besagter Landstraße im Nirgendwo, der Vergangenheit man nur erahnen kann, deren Umbruch man mitverfolgt und deren Zukunft hinter dem nächsten sanften Hügel verschwindet. Was Hader dabei am besten gelingt, ist weniger, seinem gar nicht mal so tristen, aber tragikomischen Provinzschicksal die nötige dramaturgische Dichte zu verleihen, sondern vielmehr, das hadernde Klischee des kleinen Mannes und der kleinen Frau im Kontext zu ihrer kleinen Umwelt zu portraitieren. Das hätte noch eine Stunde so weitergehen können, denn die geschmackvollen Feinheiten liegen im Detail, in der Gummidichtung einer überalten Kaffeemaschine, in der Fassade der zeitvergessenen Dorfkonditorei, in der latent opportunistischen Qualtinger-Schönrederei von Wolfgang Hübsch. Wie auch in Indien ist der Kitt zwischen der Handlung das Beste, was Hader destillieren kann. Die Metaebene in der aus lethargischer Sinnsuche und der Kettenreaktion unpässlicher Gelegenheiten fusionierten, sehr auf österreichisches Publikum zugeschnittenen Dramödie zu finden, ist gar nicht mal notwendig. Viel mehr zu entdecken als das, was man sieht, gibt es nicht. Dafür bleibt in der Peripherie der Wahrnehmung sehr viel, worin man wiedererkennt, was einem selbst vertraut ist. Ob der Zulassungsschein nun hinter dem Rückspiegel klemmt oder nicht – das Wesentliche gekonnt mit praktischen Alltagsfloskeln zu umrunden und dabei auch die Hürde des Lebens zu nehmen, ist, im Gegensatz zu Haders letztem Dauerlamento Wilde Maus, die ungeahnte Feinheit in dieser leisen Selbstfindungsschnurre, die ihre Figuren los- und weiterziehen lässt, sie nicht in ein abendfüllendes Spielfilmkorsett pfercht und auch keine Lösung wissen muss. Denn die kommt sicher von selbst, sagt der Österreicher.

Andrea lässt sich scheiden (2024)

The Dark (2018)

EIN GEFÜHL, ALS WÄRE MAN TOT

5/10


thedark© 2018 Luna Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2018

REGIE: JUSTIN P. LANGE, KLEMENS HUFNAGL

DREHBUCH: JUSTIN P. LANGE

CAST: NADIA ALEXANDER, TOBY NICHOLS, KARL MARKOVICS, MARGARETHE TIESEL, SCOTT BEAUDIN, CHRIS FARQUHAR, SARAH MURPHY-DYSON U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Zombies sind längst keine Kreaturen mehr, die aufgrund des Willens unbekannter Mächte aus den Gräbern steigen, ihre halb verwesten Arme durch den Erdboden recken und dann, taumelnd und stolpernd, dem Geruch frischer, menschlicher Gehirne folgen. Untote sind mittlerweile meist bemitleidenswerte Opfer eines Virus oder anderer Organismen, ganz so, wie es The Last of Us mit einem Pilzgericht zuletzt auf den Tisch gebracht hat. Es mag daher wieder begrüßenswert sein, wenn sich Storyteller an die Essenz des Zombie-Daseins rückbesinnen und jeden auch nur ansatzweise wissenschaftlichen Unterbau, so trivial er auch sein mag, beiseiteschaffen. Das macht das Ganze nämlich noch interessanter. George A. Romero wusste das. Sein Klassiker The Night of the Living Dead hütet sich tunlichst davor, irgendwelche Ursachen zu ergründen.

Warum also dieses Mädchen hier mehr tot als lebendig und wie ein Tier Besuchern eines Waldstückes auflauert, das sich Devils Den nennt, weiß niemand. Das Wesen bewohnt die Immobilie ihrer Mutter, welches mittlerweile auch schon so aussieht, als wäre Norman Bates schon jahrelang nicht mehr hier gewesen. Wie ein düsteres Hexenhaus, prädestiniert für dunklen Zauber, lädt es nicht gerade dazu ein, dort Zuflucht zu suchen. Einer tut es aber trotzdem: der Kidnapper und Mörder Josef, gespielt von Karl Markovics. Da die Untote auf Menschenfleisch steht, dauert es nicht lange, und der Flüchtige existiert nicht mehr. Was er hinterlässt, ist mehr als sonderbar, und lässt sogar eine verfluchte Kreatur wie das Mädchen Mina schier pass erstaunt sein: Im Wagen des Kriminellen kauert ein blinder Junge im Kofferraum – sein Peiniger hat ihn geblendet, er gilt landesweit als vermisst. Die beiden verunstalteten jungen Leute tun sich zusammen, und das funktioniert vielleicht deswegen so gut, weil Alex gar nicht weiß, womit er es mit Mina zu tun hat. Wer rechnet schon damit, einem Zombie zu folgen. Bald sind beide auf der Flucht, und währenddessen unterläuft das Mädchen eine Metamorphose, die sich ebenso niemand erklären kann wie die Grundmechanismen dieses Films.

Finstere Wälder, finstere Orte, ein finsteres Mädchen mit entstelltem Gesicht, gierig nach Menschenfleisch. Ein Teenie ohne Augen, der sein Schicksal relativ gottgegeben hinnimmt, ohne den Verstand zu verlieren. Der von Justin P. Lange und Kameramann Clemens Hufnagl inszenierte Film schickt die Keller-Versionen von Hänsel & Gretel durch den Wald – wie sie wohl geworden wären, wenn die Hexe nebst eines stattlichen Hungers nach zarten Schenkeln noch über dunkle Magie verfügt hätte. Wäre diese nicht ins Feuer gestoßen worden und wären die beiden Kids auf andere Art entkommen, hätte die grantige Alte den beiden noch so einige Flüche an den Hals schicken können. Und genau da sind wir nun, in The Dark – einer Variation des Zombie-Films, die sich ganz gut mit Coming of Age versteht und ihren Schauplatz trotz österreichischen Ursprungs irritierend amerikanisch hält. In dieser Alternativwelt ist einiges Metaphysisches inhärent, und ja, man will und kann es ruhig glauben.

So stilsicher die Finsternis in diesem Thriller auch umgesetzt wurde, so wenig berührt das Schicksal der beiden Protagonisten. Vielleicht, weil The Dark versucht, zumindest in den Biografien der beiden deren Geschichten von Missbrauch und Gewalt zu ergründen, und das auf eine Weise, die der geheimnisvollen Inszenierung aufgrund einer so routinierten wie beiläufigen Darstellung entgegenläuft. Somit ist der Plot zu verhalten geraten, und lieber hätte ich in diesem Film gar nichts erklärt bekommen, sondern hätte mit den wenigen Fakten leben können, dass zwei dem Schicksal überlassene Ausgestoßene einfach nur irgendwie die Kurve kriegen wollen.

The Dark (2018)

Sonne (2022)

ZEITVERTREIB MIT R.E.M.

5,5/10


sonne© 2022 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2022

BUCH / REGIE: KURDWIN AYUB

PRODUKTION: ULRICH SEIDL

CAST: MELINA BENLI, LAW WALLNER, MAYA WOPIENKA, THOMAS MOMCINOVIC, MARLENE HAUSER, MARGARETHE TIESEL U. A. 

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Hätte Universal Music den Welthit von Michael Stipe und Band nicht mit Freundlichkeit genehmigt, hätte dieses Langfilmdebüt von Kurdwin Ayub wohl den eigentlichen Star des Jugenddramas verloren: Losing My Religion erschallt in sämtlichen Variationen an irgendwelchen Orten in der goldenen Wienerstadt, in welcher Kulturen und Gesinnungen in einer wilden Mixtur und sich gegenseitig duldend koexistieren. Den Song hört man, ausbaufähig interpretiert von drei Maturantinnen, an kurdischen Festen oder aus dem Zimmer von Yesmin – sogar auf einer Hochzeit findet R.E.M.s zeitlose Nummer begeisterten Applaus – obwohl die Lyrics nicht gerade dafür geeignet sind, eine neue Verbindung zu feiern. Genauso wenig ist dieser Song dafür geeignet, wenn eine Muslimin gemeinsam mit ihren beiden Freundinnen, die anderer Konfession sind, sich aber dennoch in den Hidschāb werfen, einfach so zum Spaß einen auf Karaoke ohne Textablesen macht. Gut, es klingt ganz nett, andererseits aber auch wenig kraftvoll. Dafür lässt das bald auf Youtube gepostete Video einige gestalterische Raffinessen sehen – und wird ganz plötzlich zum Hit. Jetzt sind es nicht nur Yesmin, Nati und Bella, die sogar von Yesmins kurdischem Vater bewundert werden, sondern auch viele andere junge Leute, die sich zum Gesang hinreißen lassen – sei es nun im traditionellen Gewand islamischer Kultur oder eben nicht.

Während Yesmin also damit zu kämpfen hat, dass sie von ihren Freundinnen die Einzige ist, die diesen Stoff tagtäglich übers Haupt ziehen muss, geht ihr jüngerer Bruder ganz andere Wege, und zwar jene ohne Ziel und Verstand, die darauf hinauslaufen, dass dieser bald von der Polizei gesucht wird. Tja, und sonst? Sonst bietet Sonne einen ungeschönten, ungeschminkten und sehr direkten Blick auf eine Generation, die das Ende des Alphabets erreicht hat, ihren Platz in der Welt aber nicht definieren, geschweige denn ihre Wünsche und Träume artikulieren kann. In diesem Vakuum der Langeweile, des Sinnsuchens ohne Anhaltspunkte und des Abhängens auf Festivitäten köcheln so einige Impulse vor sich hin, die vielleicht aufgegriffen werden oder auch nicht. Oder gegen stereotypische Verhaltensmuster eingetauscht werden, die wohl eher die Generation Clueless vertreten, wenn Social-Media-Gadgets wie Elfenohren und Broccoli für kurze, aber schnell vergängliche Spaßmomente sorgen, die keine Nachhaltigkeit besitzen.

Kurdwin Ayub, geboren im Irak und in Wien nach der Flucht ihrer Familie aufgewachsen, verdient für ihren ersten Langfilm jedenfalls Respekt. Als selbst verfasstes Zeitportrait zwischen Smartphone-Displays und dem nachdenklichen Blicken von Hauptdarstellerin Melina Benli (von der wir wahrscheinlich noch viel mehr sehen werden, denn die Dame hat Talent) ist es sicher nicht einfach, hier die nötige Balance zu finden, um nicht nur auf Symptom-Ebene einen Zustand abzulichten – mit allerlei Klischees eben, die diese Altersgruppe plakatieren. Unterstützt von Ulrich Seidl, der seit jeher österreichische Befindlichkeiten mit hartem Realismus peitscht, folgt sie dann doch – und leider zu oft – den Empfehlungen des Maestros, anstatt sich davon loszulösen.

Für den eigenen Stil braucht es natürlich Zeit. Mal sehen, wie sie ihren zweiten Spielfilm Mond auslegen wird. In Sonne allerdings tritt die Geschichte auf der Stelle, setzt sich unentschlossen mit der muslimischen Jugendkultur auseinander, ohne tiefer in der Materie zu stochern und begnügt sich am Ende mit banalen Elementen gängiger Mädchenfilme, obwohl so manche – und vor allem eine – Wendung im Film viel mehr Aufmerksamkeit verdient hätte als Ayub ihr letztlich gegeben hat. Abgelenkt vom Schnickschnack diverser Smartphone-Apps, verliert sie den Kern der Geschichte immer mal wieder aus den Augen.

Sonne (2022)

Sterne unter der Stadt (2023)

MIT LÖWENZAHN GEGEN DAS SCHICKSAL

6,5/10


sterneunterderstadt02© 2023 Interspot Film/Foto: Christoph Tanhoffer


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2023

BUCH / REGIE: CHRIS RAIBER

CAST: VERENA ALTENBERGER, THOMAS PRENN, MARGARETHE TIESEL, HARALD WINDISCH, SELINA GRAF, SIMON HATZL, PETER KNAACK, ERWIN LEDER, HOLGER SCHOBER U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Tatsächlich gehen die Wiener U-Bahnen unter der Woche zumindest für fünf Stunden schlafen. Das ist die Zeit, zu welcher so manchen Gestalten des Untergrunds die Welt unter der Wienerstadt gehört. Es sind dies der Nachtwächter, der Angst vor der Dunkelheit hat. Es ist dies der phlegmatische Alexander, der den Bahnsteig der U2-Station Universität zum privaten Kino werden lässt und es ist dies die Hutverkäuferin von vis a vis des Fundbüros, die sich von schwebenden blauen Federn beeindruckt zeigt, die scheinbar in ihrem Flug einen eigenen Willen besitzen. Fährt man in Wien offenen Auges per Rolltreppe in die Tiefe, kann man schon mal ins Staunen kommen. Manche Anlage hat etwas Künstlerisches, fast schon Zeitloses oder ist seit seiner Entstehungszeit auf wunderbare Weise konserviert. Mosaike, vergoldetes Metall, kleine, intime Boutiquen mit aus der Zeit gefallenem Sortiment. Zu empfehlen wäre für Nichtkenner jedenfalls der Knotenpunkt Karlsplatz mit seinem unterirdischen Rondeau, der sogenannten Opernpassage. Inspiriert von diesem Mikrokosmos und dem in der Stadt an der Donau so liebevoll gefeierten Image der verträumten Morbidität ist eine im Kern klassische Romanze entstanden, die ihre Originalität in setzkastenartige Miniaturen bettet, die von verschrobenen Außenseitern erzählen, welche die Erfüllung ihres Alltags einer von niemanden sonst nachvollziehbaren Logik unterwerfen. Zugrunde liegt ihnen allen die Hoffnung, Verlorenes wiederzufinden.

Der Mann mit dem Glasauge erzählt stets davon, wie ihm dieses mindestens fünfmal abhanden kam. Ein anderer sucht seine Aktentasche, welches ein Sammlerstück birgt, das dem Leiter des Fundbüros nur gelegen kommt – es ist dies die Erstausgabe des ersten Bandes der Perry Rhodan-Heftreihe. Jenseits der öffentlich zugänglichen Bahnsteige aber wohnt Alexanders entrückter Vater, der nach dem Tod seiner großen Liebe dieser näher sein will, indem er selbst in den Untergrund zog. Alexander tut’s ihm gleich – nur weniger radikal, also arbeitet er von nun an für die Wiener Linien, nachdem er sich selbst und der Welt versprochen hat, sich niemals zu verlieben, damit ihm das Unglück seines alten Herrn nicht selbst widerfährt. Es wäre nicht das Kino mit seinen Möglichkeiten, würde Verena Altenberger als Hutverkäuferin Caro dem ganzen Vorhaben nicht einen Strich durch die Rechnung machen. Die blonde, aufgeweckte Schönheit zeigt sich einerseits wütend und irritiert, andererseits unendlich fasziniert von Alexanders unbeholfenen Methoden, ihr näherzukommen. Einerseits will er, andererseits nicht. Doch statt die obligate Margarite, deren Blütenblätter man auszupft, um herauszufinden, ob man geliebt wird oder nicht, sind es die Flugsamen des Löwenzahns, die durch die Anlage wehen und sich schützend vor unliebsamen Umständen zu einem Helm formieren. Den braucht Caro dringend, denn ihr Geheimnis passt so gar nicht in eine Welt voller Fantasie und naiver Hoffnungen.

Wenn Verena Altenberger in einem Film mitwirkt, dann nur, wenn sie hundertprozentig vom Konzept und ihrer Rolle überzeugt ist – so zumindest im Interview bei Sterman und Grissemann. Es mag ihr dabei vielleicht manches mit lukrativem Potenzial durchrutschen – die Methode aber führt dazu, dass sie in ihren Filmen wirklich Vollgas gibt. Sterne unter der Stadt zählt zu ihrer bislang eindrucksvollsten Paraderolle. Als Mischung aus Audrey Tautou, dem Wiener Schmäh und Ali MacGraw aus Love Story will sie ihr Publikum glücklicherweise nicht um Preise spekulierende Wucht umhauen, sondern probiert leise Töne, charmanten Sarkasmus und lässt auch, wenn ihr danach ist, herzliches Lachen nicht außen vor. Improvisation ist Teil ihrer Methode. Verbunden mit den Anweisungen Chris Raibers, einem Debütanten in Sachen Spielfilm, entsteht so eine lebendige Großstadtheldin zwischen Mut und Schwermut. Und auch mit ein bisschen Angst. Im Vergleich dazu bemüht sich Thomas Prenn sichtlich, aus sich herauszugehen. Mitunter wirkt er ein bisschen zu phlegmatisch, doch am Ende reißt es auch ihn aus seiner Introvertiertheit, um mit seinem Co-Star gleichzuziehen. Zu guter Letzt darf man Simon Hatzl (u. a. Taktik) nicht vergessen, der für eine Hommage an eine Science-Fiction-Kultserie steht, die Kennern und Fans Tränen der Rührung in die Augen treibt. Welcher Film hat sowas schon in petto? Raiber muss – so wie ich – damit aufgewachsen sein. Und verbeugt sich tief vor dem Privileg, ein Nerd sein zu dürfen.

Neben all dieser vielen, leider nur in der Peripherie der eigentlichen Story verweilenden Details, die man mehr mit dem roten Faden hätte verspinnen können, ist aus Sterne unter der Stadt eine schöne Liebesgeschichte geworden, die aber längst nicht so befreiend durchatmet wie Jean-Pierre Jeunets Die fabelhafte Welt der Amelie – ein Filmklassiker, der mit Sterne unter der Stadt gerne verglichen wird. Paris und Wien sind Städte, die ähnliche Metaebenen besitzen, die so düster wie verzaubernd sind. In Paris, der Stadt der Liebe, feiert die Exzentrik gesellschaftlicher Randfiguren ein ewiges Dasein – in der Stadt, in der der Tod ein hiesiger Bürger sein muss, endet die Flucht in poetische Traumwelten irgendwann doch. So offen für das Unmögliche und Schrullige Raibers Charme-Offensive für sonderbare Nischenwelten auch anfangs zu sein scheint, so sehr quält sich diese später mit einer unwillkommenen Realität herum, die den Phantasten in uns lediglich Dekoration für das sein lässt, was man nicht verändern kann.

Sterne unter der Stadt (2023)

Hinterland

VERSTÖRTE WELT

7/10


hinterland© 2021 Constantin Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, LUXEMBURG, BELGIEN, DEUTSCHLAND 2021

REGIE: STEFAN RUZOWITZKY

CAST: MURATHAN MUSLU, LIV LISA FRIES, MAX VON DER GROEBEN, MARC LIMPACH, AARON FRIESZ, STIPE ERCEG, MARGARETHE TIESEL, MATTHIAS SCHWEIGHÖFER U. A.

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Der Expressionismus lebt! Oder hat sich zumindest aus den kunstgeschichtlichen Archiven erhoben, in denen er gefühlt seit Ende der Vierzigerjahre vor sich hindämmern durfte. Verabschiedet hat sich der markante Stil damals mit einem zeitlosen Klassiker: Der dritte Mann. Carol Reed warf, untermalt mit den Klängen von Anton Karas, sein Publikum in eine verfremdete Dimension aus Licht und Schatten. Im Fokus stand da eine Welt, die vormals Wien gewesen sein soll. Kaum zu erkennen, dieses Chaos aus Ruinen, denunzierenden Passanten und dem formschönen Riesenrad, dass sich auch nach der Apokalypse immer noch weiterdreht. Eine verstörte Welt also. Dabei haben die Wiener das schon zum zweiten Mal erlebt. Beim ersten Mal wurde Österreichs Bundeshauptstadt zwar nicht zerbombt, dafür aber fanden in den Jahren nach Kriegsende immer wieder Scharen totgeglaubter Seelen ihren Irrweg nachhause. Nur um festzustellen, dass diese Heimat, die nur noch auf Fotografien die Geborgenheit einer Biographie widerspiegelt, entstellt vor sich hin darbt, und nichts mehr Vertrautes zum Geschenk machen kann.

Einer dieser Heimkehrer ist Peter Perg, und er findet sich, gemeinsam mit seinen Kameraden, nach zweijähriger Kriegsgefangenschaft vor einer undurchdringlichen Kulisse aus zerrissenen Postkarten wieder, die notdürftig gekittet wurden, um die Identität einer Stadt zu bewahren. Nichts ist mehr wie früher, alles ist neu – und mutig geht in diese Zeiten wohl keiner voraus. Perg schon gar nicht, aber er weiß zumindest noch, wo er gewohnt hat. Dort allerdings ist niemand mehr – Frau und Kind sind aufs Land gezogen. Während der gezeichnete und traumatisierte Rückkehrer versucht, irgendwo Halt zu finden, erschüttert eine Mordserie die Metropole an der Donau. Und zwar eine, deren Opfer nicht einfach so gemeuchelt, sondern in schrecklichen Tableaus zur Schau gestellt werden. Der Killer will irgendetwas mitteilen – nur was? Perg, ehemals polizeilicher Ermittler und Gerichtsmedizinerin Körner (Liv Lisa Fries) versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen. Nebenher allerdings fordert der Krieg in seinen Nachwehen von allen möglichen Leuten ihren Tribut.

Das schöne Wien, das liegt im Hinterland, jenseits der Front. Jahrzehnte später wird es den Zweiten Weltkrieg geben, und die Saat dafür wird längst ausgestreut. Ähnlich wie Tom Tykwer in seiner kongenialen Krimiserie Babylon Berlin harrt Europa in unruhiger Ausgelassenheit einem neuen Sturm entgegen. Stefan Ruzowitzky beeindruckt in erster Linie damit, mit nicht nur technischer Raffinesse, sondern auch mit einem Gespür für den Einsatz seiner Komparserie ein urbanes Chaos zu erzeugen, welches das freie Spiel der Kräfte in einem sozialpolitischen Vakuum ebenso kongenial widerspiegelt wie Tykwer das geschafft hat. Sein Wien birgt nicht das Toben einiger weniger Statisten, sondern das einer dichten, breiten Masse unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Ambitionen. Mittendrin in diesem Gewusel ein Mann wie Murathan Muslu, der trotz fehlender Schauspielausbildung ein Talent an den Tag legt, mit dem manch andere, die das Fach studiert haben, nur schwer mitkommen. Dazu kommt Muslus sonorer, exakt ausformulierter Spruch, eine gehobene, dialektlose Theatersprache, der fast schon ein bisschen das Ausfällige fehlt. Trotz dieser Widersprüche bleibt die Figur von Perg stark und dominant, ein an sich selbst zweifelnder Suchender, der, emotional ausgebrannt, versucht, die schrägen Winkel einer kaputten Architektur wieder geradezurücken.

Manchmal allerdings verlässt den Machern der Ehrgeiz, dieser subjektiven Wien-Wahrnehmung Pergs konsequent zu entsprechen. Eher halbgare Versuche, Häuserzeilen und Sehenswürdigkeiten ineinanderzustecken und übereinanderzustapeln, zeigen Schwächen im Gestaltungsprozess. Einige Close-Ups sind offensichtlich als Hommage an Der dritte Mann gedacht, das Verzerrte huldigt den Kulissen aus Robert Wienes Dr. Caligari. Auch hier hätte Ruzowitzky mehr mit Kontrasten arbeiten können, viel mehr mit Licht und Schatten, wie er es manchmal, aber viel zu selten tut. Ob das Ganze in Schwarzweiß besser gewesen wäre? Wäre interessant, zu sehen. Vielleicht lässt sich unser Oscarpreisträger später nochmal dazu hinreißen, eine unbunte Version von Hinterland zu veröffentlichen, so wie James Mangold das mit Logan getan hat. Vielleicht würde mich das noch mehr begeistern.

Hinterlands Stärke liegt im Einfangen einer so individuellen wie nationalen Katharsis. Und weniger im Zelebrieren eines Serienkiller-Plots wie diesen, der mit seiner Aufgabe als begleitende Metaebene zufrieden scheint. Doch auch wenn dieser Film mehr Psychogramm als klassischer Wien-Krimi ist, überzeugt allein schon die innovative, audiovisuelle Komposition, die eine ganz eigene Stimmung schafft.

Hinterland