Babylon – Rausch der Ekstase (2022)

GOOD OLD HOLLYWOOD IS DYING

7,5/10


babylon© 2022 Paramount Pictures


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: DAMIEN CHAZELLE

CAST: MARGOT ROBBIE, DIEGO CALVA, BRAD PITT, TOBEY MAGUIRE, MAX MINGHELLA, JEAN SMART, JOVAN ADEPO, SAMARA WEAVING, KATHERINE WATERSTON, ERIC ROBERTS, LI JUN LI, OLIVIA WILDE U. A.

LÄNGE: 3 STD 8 MIN


Hier züngelt das Feuer der Leidenschaft: Damien Chazelle, wohl einer der besten Regisseure der Gegenwart (wenn nicht der beste, würde man die Statistik des Filmgenuss berücksichtigen) will, dass es lichterloh brennt, und zwar ganze drei Stunden lang. Die Leidenschaft darf nie vergehen und sich selbst stets von Neuem entfachen. Da braucht es kein Zutun von außen, denn einer Sonne gleich sollen die szenischen Kernfusionen seines Films neue Energie freisetzen, um die Dichte und die Opulenz seines Inszenierungsdrangs mit langem Atem zu Ende bringen, und sich erst ganz am Ende erlauben dürfen, nach Atem zu ringen. Genau dann, wenn Chazelle das Wunder des Filmemachens als ein eigenes, fremdes, vielleicht extraterrestrisches Element einführt, gleich dem Monolithen aus Stanley Kubricks 2001, und seinen Protagonisten auf eine Reise schickt wie den Astronauten Dave in selbigem Film.

Dieser Protagonist, das ist Manny Torres. Mit diesem gebürtigen Mexikaner, der im Kalifornien der Zwanzigerjahre sein Glück versucht, findet auch das Publikum eine Identifikationsfigur, die vom Tellerwäscher zur großen Nummer werden kann. Wir wünschen es ihm, denn die von Diego Calva gespielte Figur ist sympathisch, klug und integer. Anfangs ist er bei den Reichen und Einflussreichen der Stummfilmbranche noch Mädchen für alles, doch dann entdeckt ihn der gefeierte Hollywoodstar Jack Conrad, Alter Ego eines Clark Gable oder Douglas Fairbanks, als einen, dem er vieles anvertrauen kann. Er wird sein persönlicher Assistent und arbeitet sich von da an immer weiter die Treppe der Filmgeschichte hinauf, dessen höchste Stufe wohl jene vom Stumm- zum Tonfilm darstellt und die kaum einer von den alteingesessenen Stars und Sternchens wird erklimmen können. Zur Zeit dieses großen Paradigmenwechsels ist das Aufsteigen, Absteigen und Einsteigen diverser künstlerischer Existenzen wie eine sich im Kreise drehende Achterbahnfahrt, die sich selbst immer wieder neu anstößt. Während Jack Conrad am Zenit seines Ruhms ankommt und von da an bergab rattert, schnuppert Shootingstar Nelly LaRoy, die der Zufall ans Set gebracht hat, alsbald Höhenluft, und das nur, weil sie die seltene Gabe besitzt, auf Befehl loszuheulen. Mit dieser Fertigkeit und ihrer Scheißdirnix-Attitüde wird sie zum Gossip- und Glamour-Girl mit schlechten Manieren, doch das Publikum liebt sie. Bis der Ton eine neue Musik macht – und niemand mehr, nicht mal die kesse LaRoy, werden das sein, was sie einmal waren. In dieser aufwühlenden Dreiecksparade bleibt Manny Torres das beobachtende Element, der Nellie LaRoy heimlich liebt und der jedoch bald mittendrin als nur dabei sein wird, wenn die Pforten der Unterwelt Hollywoods den Mexikaner versuchen, hinabzuziehen.

Damien Chazelle zeigt in seinem wummernden und eben brennend leidenschaftlichen Epos eine kleine Ewigkeit lang, wo sich Hollywoods Olymp der frühen Geschichte des amerikanischen Films manifestiert, und wo man in den Orkus abtauchen kann. Er zeigt das Schillern, und er zeigt das Grauen. Es wird geschissen, gekotzt und geblutet. Geheult, wie ein Rohrspatz geschimpft und den Hitzetod gestorben. Babylon ist kein Kindergeburtstag, nicht mal eine Jugendparty, und zumindest anfangs feiert Chazelle eine fast schon römische Orgie im üppigen Stil eines Federico Fellini, wenn Elefanten durchs Bild tröten und Sex in aller Öffentlichkeit salonfähig wird. Babylon – Rausch der Ekstase rüstet sich für eine Party, die im Tanz- und Drehmarathon seine Opfer findet.

Vor allem anfangs gelingen Chazelle so einige goldene Momente – kleine szenische Sternstunden, die episodenhaft wirken. Leicht wäre es gewesen, Chazelles Film in ebendiese zu gliedern, um wie bei Quentin Tarantino mehr Struktur in ein Sittenbild wie dieses hineinzubringen. Doch braucht es das, kann sich diese impulsive Kunst- und Filmekstase unter solchem Zaumzeug auch entsprechen entfalten? Nein, denn allein die rund 30 Minuten Erlebnis-Parkour in Sachen Stummfilmdreh mitten in der Wüste ist einfach nicht zu bändigen. Da geht es Schlag auf Schlag, da gibt es Details noch und nöcher, und der ganze geschäftige Irrwitz steigert sich bis zum Crescendo, um dann, in einem sich erschöpfenden letzten Take den Triumph des Schaffens zu feiern. Wir haben also die Party, und wir haben das Pionierabenteuer Film, und dann haben wir Margot Robbie, die sich ihre Seele aus dem Leib spielt und Brad Pitt, der immer stets Brad Pitt bleibt und selten aus sich herauskann. Irgendwann in der dem Zeitgefühl entrückten Mitte des Films ist dieser wie aus der Zirkuskanone geschossenen Leidenschaft der Zunder abgebrannt, und Chazelle sucht dringend nach dem Perpetuum Mobile, das den immer gleichen Schwung des Films gewährleisten hätte sollen.

Vielleicht hätte er Pitt und Robbie in ihrer jeweils eigenen Geschichte mehr Berührungspunkte geben sollen. Im Grunde erzählt der Filmemacher Ähnliches wie in seinem famosen Musical La La Land, der des Meisters vollkommene Kunstfertigkeit ausreichend bewiesen hat. Nur dort hatten Emma Stone und Ryan Gosling eben eine gemeinsame Geschichte, während der alternde Star und das junge Starlet in Babylon nur zufällig aneinandergeraten. Vielleicht sind drei Stunden für eine im Grunde recht banale Geschichte über Aufstieg und Fall einfach zu lange, um diese Hymne an den Film im Stakkato-Stil beizubehalten. Bei aller Liebe: Damien Chazelle hat sich mit seinem aktuellen Werk erstmals übernommen. Sowohl Whiplash als auch sein eben erwähntes Musical La La Land wie auch die hypnotische Astronautensaga Aufbruch zum Mond sind in meinen Hochrechnungen ganz weit oben, alle drei sind makellose Meisterwerke. Babylon indes hat hier viel mehr Schönheitsfehler, und ich muss zugeben, es ist nicht so, als hätte ich das nicht vermutet, schon allein deshalb, weil das, was man über den Film bereits wusste, nach wahllosem, vielleicht sogar gierigem Hineingreifen in eine Epoche klang.

Immerhin schillert Babylon – Rausch der Ekstase als bittersüßes Requiem des ganz alten Hollywoods in bemerkenswert eigenem Licht. Die Toten gehen mit ihren Filmen in die Ewigkeit, wird irgendwann zu Brad Pitt gesagt – warum also über die Vergänglichkeit des Ruhmes klagen? Kluge Gedanken, radikale Konsequenzen und das Verlieren in der Illusion tanzen ums goldene Kalb. Chazelle entfesselt Bilder und Szenen voller Anmutung und Abscheu, er dirigiert seinen Film bewusst ambivalent und verpasst ihm die Maske eines Harlekins – eine Seite lacht, die andere weint. In dieser Zerrissenheit ergeht er sich in einem wehmütigen Liebeslied auf das allen tragischen Possen und glücksritterlichen Eskapaden übergeordnetem großen Ganzen, nämlich des Mediums Film, wofür Chazelle selbst unendlich glücklich zu sein scheint, darin vorzukommen. So gnadenlos, unberechenbar und affektiert diese Welt auch sein mag.

Babylon – Rausch der Ekstase (2022)

Don’t Worry Darling

DESPERATE HOUSEWIVES 2.0

5/10


dontworrydarling© 2022 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: OLIVIA WILDE

BUCH: CAREY & SHANE VAN DYKE, KATIE SILBERMAN

CAST: FLORENCE PUGH, HARRY STYLES, OLIVIA WILDE, CHRIS PINE, GEMMA CHAN, KIKI LAYNE, NICK KROLL, DOUGLAS SMITH, DITA VON TEESE U. A. 

LÄNGE: 2 STD 3 MIN


Die Black List ist eine jährliche Zusammenfassung aller Drehbücher, die zu gut sind, um sie in der Rundablage verkommen zu lassen – um die sich aber bis zu gegebenem Zeitpunkt auch noch keiner geschert hat. Potenzial, das also darauf wartet, auf die große Leinwand zu kommen. Geniale Konzepte, komplex und schlüssig, die Kehrseite des Giftschranks. Eines dieser jahrelang in der Warteschleife befindlichen Skripten hieß Don‘ t Worry Darling. Wie sich herausstellt: Das Warten hatte zwar ein Ende, doch die große Erlösung kam um einiges zu spät. Nämlich zu einem Zeitpunkt, an dem ganz andere Drehbücher von ganz anderen Leuten Ähnliches zu erzählen wussten und Don’t Worry Darling in seiner kolportierten Exklusivität im Vergleich dazu etwas alt aussieht. Was der Thriller, inszeniert von Olivia Wilde (Booksmart), aus dem Sack lassen will, ist zwar formvollendete Mystery mit Anleihen, die in der Feminismus-Debatte zu finden sind, in seinen Innovationen aber hinterher hinkt. Ist Don’t Worry Darling also ein verzichtbares Stück Hochglanzkino?

Nun, so richtig schlecht gerät das Vexierspiel nicht, allein schon aufgrund des überzeugend agierenden Ensembles um Florence Pugh, die allesamt auf einen hinausgezögerten Story-Twist hinarbeiten, der den Kinosaal letzten Endes wohl kaum mit staunendem Geraune füllen wird. Hier fällt einem maximal die Kinnlade herunter aufgrund des Schlendrians, unter welchem das geheim gehaltene Konstrukt dahinter aller Welt präsentiert wird.

Dabei habe ich mir schon im Vorfeld, beim Lesen anderer Rezensionen und der Synopsis des Films so meine Gedanken gemacht, wie das Ganze wohl würde enden können. Die Frauen von Stepford, Die Truman Show oder Get Out wurden hier bereits vergleichend zu Rate gezogen. Daraus lässt sich schon ein Bild machen. Vor allem für letzteren – oder besser gesagt – dem kreativen Universum des Jordan Peele zeigt Don’t Worry Darling eine unverblümt nacheifernde Affinität. Denn so seltsam, wie Peele seine Filme arrangiert, lässt auch Olivia Wilde die rätselhaften Ereignisse beginnen. Mitten in der Wüste, irgendwo in den USA (nehme ich an), inmitten einer 50er-Jahre Zeitblase in Ausgestaltung einer Kleinstadt, die an Desperate Housewives und ihre Wisteria Lane erinnert, mit Shoppingcenter, Schwimmbad und netten Lokalen. Konzentrisch angeordnet und von Paaren bewohnt, die den männlichen Chauvinismus aus verstaubten Jahrzehnten hochhalten. In diesem Lebensentwurf gehen die Herren der Schöpfung arbeiten, während die Frau eben als Hausfrau putzt, kocht und wenn noch Freizeit bleibt, mit den anderen Hausfrauen abhängt, um über Gehaltloses zu plaudern. Small Talk auf ewig, unter glühender Sonne. Wer will das nur? Aber bitte, für jede Philosophie gibt es Mikrostaaten, warum nicht auch für diese, die von einem mysteriösen Lackaffen namens Frank (herrlich undurchschaubar: Chris Pine) als Beinahe-Sektenführer mit überzeugenden, aber leeren Phrasen am Laufen gehalten wird. Bis Florence Pugh als bisher drolliges Herzblatt die Grenzen überschreiten wird, langsam merkt, dass hier nichts so ist, wie es scheint und offen das System attackiert. Ex-One Direction-Sänger Harry Styles, der scheinbar mehr weiß als seine bessere Hälfte, rauft sich derweil sein gestyltes Haar. Und Olivia Wilde herself nippt am Drink.

Und ja, das ganze Szenario sieht gut aus. Florence Pugh folgt man gerne – aber viel zu lange – durch den Nebel der Tatsachen, wünscht ihr viel Erfolg dabei und stellt sich trotzig an ihre Seite, wenn sie Chris Pine die Leviten liest. Das wiederum bedeutet: Olivia Wilde hat ein Gespür für Regie, ganz ungeachtet irgendwelcher Techtelmechtel hinter den Kulissen, die mich erstens nichts angehen, und zweitens auch nicht tangieren. Wo Wilde Einspruch hätte erheben können, wäre beim Drehbuch der Gebrüder Carey und Shane van Dyke gewesen (Fun Fact: beides Söhne des Schauspielers Dick van Dyke). Die Prämisse, die der Story nach dem notgedrungenen Twist zugrunde liegt, der wiederum die einfachste und bequemste Form einer Wahrheit offenbart, die man nur offenbaren kann, fällt haltlos aus allen Wolken. Durchdacht ist hier wenig, und all diese vielen Fragen, die sich auftürmen, nachdem wir alle wissen, was los ist, lassen sich dann auch nicht mehr in Kauf nehmen, nur um auf einer weiteren Metaebene über Selbstbestimmung und Frauenbilder zu diskutieren. Dafür verlässt sich Don’t Worry Darling zu sehr auf seine rätselhaften Versatzstücke, Männer in roten Overalls (siehe Jordan Peeles Wir) und Puzzleteilen, die zu einem anderen Spiel gehören.

Dennoch bleibt Don’t Worry Darling schauspielerisch spannend und dicht erzählt, die tanzenden Damen aus den 20ern (so sehr 50er ist der Film gar nicht – mit Ausnahme der farbenfrohen, fahrbaren Untersätze) stehen für den gepredigten Ordnungswahn, der sagt, wo Frau hingehören soll. Das alles entbehrt nicht einer gewissen Sogwirkung und eines Unterhaltungswerts, doch um wirklich einen Knüller zu fabrizieren, der die mittlerweile abgedroschenen Mystery-Formeln außen vorlässt, um neue zu entdecken: dafür hätte man gleich ein ganz anderes Skript schreiben können.

Don’t Worry Darling

Der Fall Richard Jewell

DER ÜBLICHE VERDÄCHTIGE

8/10

 

richardjewell© 2020 Warner Bros.

 

LAND: USA 2019

REGIE: CLINT EASTWOOD

CAST: PAUL WALTER HAUSER, KATHY BATES, SAM ROCKWELL, JON HAMM, OLIVIA WILDE U. A. 

 

Wer ist eigentlich Paul Walter Hauser? Würde mich nicht wundern, wenn hier jetzt einige von euch fragend nach dem Namen googlen. Womöglich erscheint hier ganz oben bei den Ergebnissen ein gewisser Film namens I, Tonya, jener True Story über besagte Eiskunstläuferin, die ihre Konkurrentin sabotiert haben soll. Eine der Nebenrollen, die hier im Gedächtnis geblieben sind, war jene des selbsternannten Agenten Shawn Eckhardt. Auch in BlackKlansmann fiel er als eher unterbelichteter Neonazi auf, beides handfeste Performances, die wohl auch Clint Eastwood aufgefallen sind. Denn der hat ihn kurzerhand für seinen neuesten Film engagiert, und zwar nicht für eine Nebenrolle, sondern gleich für die ganz große One-Man-Show, in der er Richard Jewell verkörpert, dessen Name vermutlich nun auch durch den Suchfilter laufen wird, denn jenseits des Atlantiks sind die Schlagzeilen rund um einen mehr schlecht als recht vereitelten Anschlag auf die Olympischen Spiele in Seattle entweder längst in Vergessenheit geraten oder gar nicht mal in solchem Ausmaß durchgedrungen wie zum Beispiel jenes Wunder vom Hudson River, das Flugzeugpilot Sully vollbracht hat. Diesen gewissenhaften, integren Charakterkopf kann man nach wie vor durchaus als Held bezeichnen, obwohl Helden selber von sich niemals so sprechen würden. Held ist auch ein relativ „gefährliches“ Wort, ich sage mal so, denn ein Held scheint unfehlbar zu sein, und diese implizierte Unfehlbarkeit ruft in relativ kurzer Zeit jede Menge Gegenstimmen auf den Plan, und so wird die Perfektion einer guten Tat schnell zu einem ungläubigen Wunder, dass, hat man es nicht selber gesehen, im Zweifel für des Menschen guten Charakter niemals passiert sein kann. Nach Sully ist Der Fall Richard Jewell der zweite Film zur Analyse von Alltagshelden anhand wahrer Geschichten. Die Ambivalenz eines solchen Geschehnisses, diese graue Wolke, die solche Menschen in ihren unnachahmlichen Taten umgibt, dürfte das sein, was Clint Eastwood fasziniert. Überhaupt sind es diese Portraits außergewöhnlicher Amerikaner, denen sich Clint Eastwood schon die längste Zeit gewidmet hat und vermutlich noch widmen wird. Er beobachtet sie innerhalb ihrer Zeitkapsel aus Ruhm und Zweifel, um sie dann wieder in ihre Anonymität zu entlassen. Doch bemerkenswert sind sie alle. Und ganz besonders dieser Richard Jewell, den Paul Walter Hauser eben so grandios verkörpert. Als wäre das die Rolle, auf die er Zeit seines Lebens hingearbeitet hätte, stünde er nicht erst am Anfang einer großen Karriere, die hiermit womöglich ihren ernsthaften Anfang nimmt.

Zugegeben, Richard Jewell dürfte damals ein Sonderling gewesen sein. Einer, der bei seiner Mutter wohnt (ebenfalls grandios: Kathy Bates), Waffen sammelt und für den Recht und Ordnung über alles geht. Das klingt schon mal verdächtig – aber warum eigentlich? Recht und Ordnung ist schon mal notwendig, wenn jemand so ein Verständnis dafür hat, warum sollte nicht gerade der einen Job in der Exekutive haben? Weil er über die Stränge hinausschlägt? Manches zu ernst nimmt? Über nichts hinwegsieht? Im Nachhinein ist es gut, das Jewell über nichts hinweggesehen hat, denn der oftmals gekündigte und scheel beobachtete Junggeselle hat als erster diesen herrenlosen Rucksack bemerkt, der unter einer Bank im Areal des Olympia-Parks lehnt. Natürlich war das eine Bombe, und natürlich ist sie explodiert, doch dank Richard Jewell hat diese weniger Schaden angerichtet als geplant. Der Mann wird zum Helden, wird in so gut wie fast allen Medien zum Interview geladen und durch die Gegend hofiert wie ein Popstar. Bis dem FBI die Sache spanisch vorkommt, ist doch der Bursche das exakte Ergebnis einer Faustformel fürs Täterprofil. Pech für ihn, ein üblicher Verdächtiger, und im Namen aller Profiler fraglos schuldig. Inquisition verlief im tiefsten Mittelalter nicht anders, aber das nur am Rande. Der Retter wird also zum Täter hochstilisiert. Was dann beginnt, sind quälende Wochen aus Bespitzelung, Hausdurchsuchung und Schmutzkübelmedien, die aus dem Paulus einen Saulus machen.

Mit Der Fall Richard Jewell ist Clint Eastwood mit knapp 90 Jahren wohl einer seiner besten Filme gelungen. Dieses unfassbar wahre Paradebeispiel einer mediengemachten Hexenjagd der Neuzeit ist Schglagzeilenkino vom Feinsten, alleine schon aufgrund seines grandios aufspielenden Ensembles bis in die Nebenrollen, die von Eastwood mit sicherer Hand und ohne allzu viel Druck aufs Set geschickt werden. Bei so viel dramatisierter Erniedrigung klappt einem durchaus die Kinnlade herunter, und zwischenszeitlich ertappt man sich selbst dabei, der investigativen Meinungsmache stattzugeben. Doch Jewell, der dürfte ein aufrichtiger Bursche gewesen sein (und ist es so denke ich heute noch), und dabei zuzusehen, wie ein ebenfalls begnadeter Sam Rockwell als schrulliger Anwalt seinem Klienten aus der Misere hilft, ist packend, unglaublich menschelnd und kurios zugleich.

Der Fall Richard Jewell

Booksmart

PARTY MACHT SCHULE

7,5

 

booksmart© 2019 Annapurna Pictures

 

LAND: USA 2019

REGIE: OLIVIA WILDE

CAST: BEANIE FELDSTEIN, KAITLYN DEVER, BILLIE LOURD, SKYLER GISONDO, LISA KUDROW, JASON SUDEIKIS, WILL FORTE U. A.

 

„Wo foahr‘ ma hin? – eine‘ ins Leben!“ – so lässt es das österreichische Musiker-Duo Pizzera & Jaus ertönen. Wie bezeichnend für Olivia Wildes Regiedebüt, die sich dem farbenfrohen Genre des Coming of Age-Films angenommen hat. Da gibt es natürlich unterschiedliche Herangehensweisen. Von der Entdeckung der eigenen Reife, verschachtelt mit der Allegorie eines Monsters, ob Vampir oder Werwolf (u.a. So finster die Nacht oder When Animals dream). Da wäre auch die ziellose Schwerelosigkeit wie sie Lady Bird aka Saoirse Ronan in Greta Gerwigs gleichnamigem Film hatte. Da wären aber auch niveaulose Kalauerkomödien im College-Dunstkreis, die zum Fremdschämen einladen. Oder kluge, niemals peinliche Einblicke in die Gedankenwelt völlig unterschiedlicher Jugendlicher wie in John Hughes immer noch aktuellem Klassiker Breakfast Club. Hughes selbst war ohnehin einer der wenigen, die aus der Pubertät nicht gleich ein Zerrbild notgeiler Sex-Debütanten gemacht hat. Und hat gezeigt, dass da weitaus mehr dahintersteckt als nur Spritztouren und Mädelsaufreißen, Schönheitswahn und Zickenkrieg. Olivia Wilde findet das auch. Und lässt die beiden College-Absolventinnen Molly und Amy so einiges über sich selbst und all die anderen erfahren, die längst nicht das sind, was sie all die Jahre hindurch vorgegeben haben zu sein.

Die Bedenken, die ich bei Filmen wie diesen habe, nämlich, dass sie sich als ordinäres Spaßkino auf Kosten diverser Pennälerklischees entpuppen, ist bei Booksmart so ziemlich unbegründet. Die Zuneigung, die Olivia Wilde ihren jungen Alltagsheldinnen entgegenbringt, macht fehlenden Respekt unmöglich. Beanie Feldstein und Kaitlyn Dever danken es ihr, indem sie aufspielen, als gäbe es kein Morgen mehr. Oder zumindest keine Schule. Was dieser augenzwinkernde Abgesang auf einen längst in seiner Routine liebgewonnenen Lebensabschnitt bereithält, ist das Umtriebige einer Nacht, ein feuchtfröhliches Roadmovie durch jugendliche Feierlichkeiten zwischen Luxusjacht und Gefängnis, doch alles soweit geerdet, dass es zwar klassisch amerikanisch und durchaus schrill einhergeht, dabei aber nie den Tag nach dem Abfeiern aus den Augen verliert. Denn das ist es, was alle hier bewegt, vom Mädchenschwarm bis zum Mauerblümchen: der Morgen nach der Schule, der erste Schritt in eine Zukunft, die mit Selbstbestimmung  frohlockt, aber auch die Obhut der Eltern entzieht. Die eine geht für ein Jahr nach Botswana, die andere nach Yale, und ganz andere versuchen sich im Sport. Dabei wird klar, dass diese Nacht, die hier so liebevoll gezeichnet wird, sämtliche Masken fallen lässt. Was zum Vorschein kommt, ist Neugier, Angst, Unsicherheit und der Versuch, ein jahrelang penibel zugelegtes Image auf Null herunterzusetzen, um sich und die anderen neu kennenzulernen. Oder selbst anders gesehen zu werden. In dieser Nacht haben alle, so unterschiedlich sie auch sein mögen, nämlich genau das gemeinsam: eine ungewisse Zukunft, die alle Absolventen neu definieren wird.

Booksmart ist kein sonderlich origineller Wurf, nichts unerwartet Neues. Dafür aber unerwartet bodenständig, wortgewandt und witzig. Ein wohlgesampelter Soundtrack mit fetten Beats pusht so richtig die Lust, einen draufzumachen. Wobei Humor hier nicht zum Selbstzweck verkommt. sondern aus den unerwarteten Situationen resultiert, in denen sich zwei Streberinnen wiederfinden, die dem Trugschluss erliegen, womöglich vieles verpasst zu haben. Beanie Feldstein agiert dabei unglaublich sympathisch und entwickelt einen dermaßen kumpelhaften Ehrgeiz, dem ich mich nicht entziehen kann. Partymachen muss also nicht zwingend etwas sein, das den nächsten Morgen in verschämter Katerstimmung und hinter dicken Sonnenbrillen durchbeißt, sondern kann auch wie das Nachsitzen bei John Hughes zu interessanten Erkenntnissen führen. Solche über verkannte Mitmenschen, Freundschaft oder über das Leben selbst, dem man sich irgendwann stellen muss.

Booksmart