Misericordia (2024)

EIN FREUND DER FAMILIE

7,5/10


© 2024 Salzgeber


ORIGINALTITEL: MISÉRICORDE

LAND / JAHR: FRANKREICH, SPANIEN, PORTUGAL 2024

REGIE / DREHBUCH: ALAIN GUIRAUDIE

KAMERA: CLAIRE MATHON

CAST: FÉLIX KYSYL, CATHERINE FROT, JEAN-BAPTISTE DURAND, JACQUES DEVELAY, DAVID AYALA, SÉBASTIEN FAGLAIN, TATIANA SPIVAKOVA, SALOMÉ LOPES, SERGE RICHARD U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Ganz gemächlich schlingert die Landstraße durch den provinziellen Südosten Frankreichs – solche Kamerafahrten verheißen in Filmen oft nichts Gutes, man denke da nur an Stanley Kubricks Shining. Da kommt eine Bedrohung auf jemanden zu, nicht nur auf das zusehende Publikum, sondern auch auf so manche Figur in diesem Kriminalfilm, die genauso wenig wie wir damit rechnen wird, woher und wohin der Wind weht. Angenehm herbstlich ist es hier, im mittelalterlich anmutenden Städtchen Saint Martial im Department Ardèche, weit weg von urbanem Trubel, umgeben von Wald und dem Gefühl eines seltsamen Verwelkens. Diese eingangs erwähnte Landstraße ist ein Kerl entlanggefahren, der früher mal in diesem Städtchen gelebt und der als Teenager für den lokalen Bäckermeister gearbeitet hat. Dieser ist schließlich nun verstorben, deshalb ist Jérémie (Félix Kysyl) auch hier, um ihn, den er einst insgeheim geliebt hat, die letzte Ehre zu erweisen. Es wäre auch gar nichts weiter passiert, hätte Martine (Catherine Frot), die Witwe des Mannes, gegen den Willen ihres Sohnes Vincent den jungen Mann nicht dazu aufgefordert, doch hier zu übernachten, schließlich ist es schon spät. Jérémie willigt ein, und bald stellt sich heraus: Der seltsame, arbeitslose Niemand mit der undurchschaubaren Mimik ist gekommen, um zu bleiben. Vincent gefällt das gar nicht, denn er weiß: Jérémie ist nur hier, um sich in das Leben einer Familie zu schleichen, auf manipulierende Weise. Mit dieser offenen Zurschaustellung seiner Antipathie tut sich der argwöhnische Sohnemann keinen Gefallen – und bald ist er auch verschwunden.

Es ist kein Geheimnis in diesem Film, dass diesem Jérémie aus Toulouse bald schon Blut an den Fingern kleben wird. Das hindert ihn nicht daran, seine Chance auf ein neues Leben ohne Rücksicht auf Verluste zu ergreifen – und sind sie auch menschlicher Natur. Seine Identität wechselt der Mörder allerdings nicht, was man als Argument ins Feld führen kann, um den Vergleich mit Patricia Highsmiths kultigen Kriminellen Tom Ripley hinken zu lassen. Und dennoch: nicht von ungefähr drängt sich während der Betrachtung dieser Groteske das Bild jenes Mannes auf, der einst seinen Freund versenkt hat, um seine Identität anzunehmen. Man darf bei Misericordia (was so viel bedeutet wie Barmherzigkeit, Gnade) allerdings auch kein gewöhnliches Krimispiel erwarten, denn Autorenfilmer Alain Guiraudie schichtet sein bizarres Stelldichein in mehreren Ebenen übereinander, nur, um diese dann im Laufe der Erzählung ineinanderfließen zu lassen, damit eine lakonische, perplex machende Komödie entsteht, die den Witz gar nicht als solchen zu erkennen geben will. Die pragmatische Schrägheit ergibt sich aus einem Arrangement an Figuren, die zur richtigen oder falschen Zeit einander über den Weg laufen, und die jede auf ihre Art eine Abhängigkeit zur anderen entwickelt. Darunter Jacques Develay als obskurer Pater, der die Gabe der vielsagenden Blicke beherrscht; oder der bärige Walter (David Ayala), der mit den homosexuellen Avancen des Eindringlings völlig überfordert scheint.

Misericordia ist ein bizarres Schauspiel von einer solchen Unvorhersehbarkeit, dass es fast den Anschein hat, Guiraudie will das Genre des Landkrimis nicht nur parodieren, sondern diesem den Mut verleihen, auch mal tiefer zu graben – dort, wo die Morcheln wie Boten des Todes und der Niedertracht aus dem feuchten Waldboden schießen. Die titelgebende Gnade wiederum ist ein Geschenk, motiviert aus der Sehnsucht anderer, so wird gar das mit groben Strichen gezeichnete Ensemble zum unschuldigen Opfer seiner Gefühle und Bedürfnisse. Diese psychologische Betrachtungsweise  verdrängt gar den düsteren Krimiplot, der aber essenziell für die ganze Geschichte bleibt, und rückt näher an einen autochthonen, im Dämmerschlaf befindlichen Mikrokosmos heran, der durch externe Invasoren dazu mobilisiert wird, sich selbst zu finden. Misericordia ist ein feiner, verrückter, sonderbarer Film, voller Barmherzigkeit für einen wie Ripley. Und nicht nur für ihn.

Misericordia (2024)

Holy Spider (2022)

DER ZWECK HEILIGT DIE MITTEL

6/10


holyspider© 2022 Alamode Film


LAND / JAHR: DÄNEMARK, DEUTSCHLAND, SCHWEDEN, FRANKREICH 2022

REGIE: ALI ABBASI

BUCH: ALI ABBASI, AFSHIN KAMRAN BAHRAMI

CAST: ZAR AMIR EBRAHIMI, MEHDI BAJESTANI, ARASH ASHTIANI, FOROUZAN JAMSHIDNEJAD, ALICE RAHIMI, SARA FAZILAT, SINA PARVANEH, NIMA AKBARPOUR U. A.

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Das älteste Gewerbe der Welt gibt es immer noch, und zwar überall. Das wird es so lange geben, solange es Männer gibt. Denn Männer haben einen Sexualtrieb, dem sie nachgehen müssen. Da lässt sich noch so beschämt in die Runde blicken – die Natur gibt, was sie eben gibt, um die Art des Homo sapiens zu erhalten. Wohin also mit den Trieben? Genau deshalb gibt es die Prostitution, es ist ein Knochenjob, es ist weder erquickend für die, die es anbieten, noch sinnlich oder befriedigend. Es ist körperliche Arbeit, es ist Erduldung und Erniedrigung, für die letztendlich etwas Geld rausspringt, damit der entbehrliche Alltag noch finanziert werden kann. Prostitution entsteht aus sozialer Not und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Männer wie Saeed Hanaei, beseelt durch den heiligen Imam Reza, hätte diesen Frauen in der heiligen Stadt Maschhad durchaus einfach nur das Geld geben brauchen, damit sie nicht anschaffen müssen. Er hätte sie vielleicht auffangen, woanders hin vermitteln können. Saeed ist schließlich niemand ohne Kontakte. Doch der Humanismus ist solchen Leuten suspekt. Sie sehen nur die Symptome, die da sind: sich für Geld zum Sex anzubieten.

Das macht Männer wie Saeed Hanaei wütend, vielleicht auch aus verstecktem Selbsthass und der Ohnmacht, ein Mann zu sein, dessen Geschlechtsgenossen dieses Gewerbe überhaupt am Laufen halten. Also wählt der verheiratete Zimmermann und Vater zweier Kinder die so grausame wie plumpe Methode, um seine Heimatstadt vor dem Verfall der Sitten zu bewahren: er bringt die Frauen eine nach der anderen um. Lädt sie zuerst zu sich nachhause ein, um sie dann zu strangulieren und die Leichen wegzuschaffen, an irgendeinen anderen Ort, um nicht in Verbindung damit gebracht zu werden.

Dieser als Spinnenmörder Anfang der 2000er Jahre berüchtigte Verbrecher hat tatsächlich so gewütet – und war sich bis zuletzt keinerlei Schuld bewusst. Um den Fall zu untersuchen, reist die (fiktive) junge Journalistin Arezu Rahimi an den Ort des Verbrechens, um dem Mörder auf die Spur zu kommen. Sie interviewt die Polizei, sie folgt den Aussagen von Zeugen und geht sogar, in Ermangelung investigativer Erfolge, sogar so weit, sich selbst als Prostituierte auszugeben, um Saeed inflagranti zu erwischen. Letzten Endes wird ihr das auch gelingen, trotz subversiven Widerstandes und den Einschüchterungen der örtlichen Polizei. Es wäre womöglich kein muslimisches Land, würde der Sinn für Recht und Unrecht klar unterschieden, Saeed verurteilt und seiner Strafe zugeführt werden. Hier, in einem Land, in welchem das lockere Tragen eines Kopftuches für Frauen gefährlich werden kann, wo Frauen nicht alleine reisen oder überhaupt frei agieren können, ohne die so strafenden wie lüsternen Blicke der Männer auf sich zu ziehen, herrscht eine verkehrte moralische Welt, die mit zweierlei Maß misst und die Tötung von Menschenleben umjubelten Vororte-Jihads gleichsetzt, die das nötige Prestige einbringen.

Ali Abbasi, ein nach Dänemark ausgewanderter iranischer Filmemacher, der zuletzt mit dem skandinavischen Fantasy- und Mythendrama Border für Aufsehen sorgte, begibt sich nun wieder zurück an den Ursprung – und zwar in den zumindest im Film dargestellten Iran (gedreht wurde tatsächlich in Jordanien), um anhand dieses True Crime-Szenarios die viel zu hemmungslos nutzbaren Mechanismen der Ermordung anderer zu erörtern, die den heiligen Lehren zuwiderlaufen. Wie bei Hanekes Das weiße Band, wo die Ursprünge des Faschismus einer Wurzelbehandlung unterzogen wurden, wühlt Abbasi mit Leichtigkeit im vertrockneten Sumpf der Moralvorstellungen Strenggläubiger herum und sieht bereits in deren Nachwuchs das nächste Problem. Da ist es fast schon egal, ob es gegen die Sitte oder den Unglauben geht. Die Bereitschaft, den Islam reinzuhalten, duldet radikale Mittel. Und so staunt man als Zuseher nicht schlecht, und es wird einem seltsam anders zumute, wenn der sechzehnfache Mörder als Held gefeiert wird. Holy Spider zeichnet eine kranke, vor allem frauenfeindliche Welt, die schon in den ersten Szenen des Films ihre Ablehnung auf alles Weibliche offenbart. Klar gibt es Ausnahmen, wenn Bildung und Aufklärung greifen. Doch wer hat die schon, können diese Faktoren autoritären Regimes schließlich gefährlich werden. Holy Spider, brisanter denn je, macht aus seinem Stoff aber keine Parabel, sondern bedient sich des Genres eines klassischen Thrillers im kalten Schein der Halogenlampen, billigen Reklamelichter und unter wummernden Klängen. Er wirft Sahra Amir Ebrahimi, Gewinnerin der goldenen Palme als beste Schauspielerin, dem Patriarchat fast schon zum Fraß vor.

Die Zeitschrift cinema meint, Holy Spider hätte nichts mit einer gewissen Religion zu tun oder gar mit einer Kritik an den Staat selbst. Letzteres mag stimmen, bei ersterem bin ich anderer Meinung: Gerade dieses Verständnis für Sitte und Anstand wurzelt im Moralkodex eines religiösen Extremismus, und selbst die Ehefrau Saeeds kann, als sie von den Straftaten ihres Mannes erfährt diese nicht verurteilen. Das ist es, was zutiefst irritiert, doch Ali Abbasi nutzt das Medium Kino, in dem alles möglich sein kann, nicht dafür, die True Story insofern zu verzerren, um eine noch bizarrere Zukunftsvision zu errichten, vor welcher selbst der muslimische Mann zusammengezuckt wäre. Abbasi zeigt zwar drastische Bilder und lässt auch so manche Sexszene nicht unbeobachtet, besinnt sich aber dennoch einer kühlen, recht nüchternen Erzählweise, wie Asghar Farhadi sie in seinen Filmen gerne nutzt, dabei aber erzählerisch dichter wird. Vielleicht hätte ich mir gerne mehr persönliches Statement erwartet, vielleicht auch eben diese Radikaldystopie, die aus den Opfern letztendlich belangbare Täter macht und umgekehrt. Hier begnügt sich der Filmemacher damit, die Volksmoral von der Moral der staatlichen Institution zu trennen. Und das fiel mir letztendlich zu verhalten aus, vielleicht gar zu versöhnlich.

Holy Spider (2022)

Was geschah mit Bus 670?

PAKT MIT DEM TEUFEL

7,5/10


bus670© 2020 Bodega Films


LAND / JAHR: MEXIKO, SPANIEN 2020

BUCH / REGIE: FERNANDA VALADEZ

CAST: MERCEDES HERNÁNDEZ, JUAN JESÚS VARELA, DAVID ILLESCAS, ANA LAURA RODRIGUEZ, ARMANDO GARCÍA, LAURA ELENA IBARRA, XICOTÉNCATL ULLOA U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Das Kino Lateinamerikas ist immer wieder bemerkenswert. Neben den verrückten Ideen und Konzepten aus Südkorea findet sich auch von Chile bis Mexiko allerhand Ungewöhnliches, wie zum Beispiel die Festivalfilme Tragic Jungle, Nobody Knows I’m Here oder der Sozialthriller 7 Gefangene (alle drei im Sortiment von Netflix). Ebenfalls nachhaltig in Erinnerung ob seiner ungewöhnlichen Erzählweise und der Konvertierung eines zutiefst tragischen Themas in eine fast schon poetisch anmutende Ballade bleibt das Kriminaldrama Was geschah mit Bus 607?. Das Filmplakat dazu mag irritieren, vielleicht gar etwas ganz anderes versprechen als es letztendlich der Fall ist: Zu sehen ist vom Rückspiegel eines Autos und so unscharf wie das Found Footage Foto einer paranormalen Beobachtung der Teufel, der sich über seine Opfer hermacht, im Hintergrund lodert das Feuer. Ist der Film von Fernanda Valadez also ein okkulter Horrorfilm? Okkult vielleicht nicht, aber Horror würde ich nicht ganz ausschließen. Denn was mag Horror eigentlich bedeuten? Kann der Horror nicht auch in der inhumanen Anarchie eines Krieges zu finden sein? Oder in der Gesetzlosigkeit mancher Weltgegenden, wo Banden das Sagen haben und jeder noch so brave Bürger, der sich so unauffällig wie nur möglich verhält, um jeden Tag seines Lebens bangen muss? So zu leben ist Horror genug, und es ist weder eine Erfindung noch braucht man hierfür ein dystopisches Szenario vom Stapel zu lassen wie in The Road oder Mad Max. Diese Gegenden gibt’s wirklich, und die liegen nah an der US-amerikanischen Grenze, im Norden Mexikos. Gesetzloses Niemandsland, regiert von schwer bewaffneten Banden und unmöglich zu verwalten. Durch diese Todeszone müssen aber all jene, die ihren Mut aufgebracht haben, um über die Grenze in die USA zu gelangen, um eben dort der Willkür finsterer Kartelle zu entgehen, die mit Drogen und Menschenhandel Geld scheffeln.

Wie der deutsche Titel bereits verrät (im Original nennt sich Valadez‘ Streifen Sin señas particulares, was so viel bedeutet wie „keine besonderen Anzeichen“), wird Bus 670 auf der Fahrt an die Grenze sehr bald vermisst. In diesem Bus saß Jesús, gemeinsam mit seinem Freund Rigo – beide gerade mal Teenager im ersten Drittel, das ganze Leben noch vor sich. Zu Beginn des Films verabschiedet sich ersterer von seiner Mutter, die Hoffnung auf ein besseres Leben stirbt zuletzt. Und da fällt sie auch schon in Agonie, die Zuversicht, doch Mutter Magdalena sucht weiter, man findet lediglich die Leiche des Freundes Rigo, von Jesús fehlt jede Spur. Auf ihrer gefährlichen Suche trifft die verzweifelte Frau auf andere Schicksale – auf einen abgeschobenen jungen Mann, der jahrelang schon in den USA gelebt hat. Und eine Mutter, die den bestätigten Tod ihres Sohnes nach Jahren ohne Lebenszeichen nicht wahrhaben will.

Was geschah mit Bus 670? ist ein metaphysisches, zwischen Wachen und Träumen, Erinnerungen und gerade Erlebtem wechselndes Stück Endzeitkino in einer längst nicht zu Ende gehenden Welt. Es ist bevölkert mit Geistern und verdammten Seelen, Klageliedern und ausweglosen Schicksalen. Mercedes Hernández als beharrlich nachforschende Mutter ist selbst wie ein Geist; wie ein verletzbares, barfüßiges Kind in einer Wildnis, bevölkert von Dämonen. Valadez findet mit ihrer Kamerafrau Claudia Becerril Bulos erstaunlich unorthodoxe Bilder – einerseits ruhend, fast statisch, sich in den Erinnerungen wiederholend. Ein bisschen wie Sergio Leone. Und dann der virtuose Kniff, die überlieferte Tragödie der Busfahrt als eine im Bokeh-Stil gefilmte, dem Übernatürlichen zugeordnete Mär zu illustrieren, die den Beelzebub wüten lässt. Unschärfen werden hier zum Schleier des Selbstschutzes, der die Gräuel nicht von dieser Welt sein lassen will.

Der am Sundance Festival 2020 erstmals gezeigte Film mag nicht die erste Wahl für unterhaltsame Stunden sein – doch sollte er auf der Watchlist ganz oben stehen, wenn es heißt, mit neuen Sichtweisen und innovativen Ideen das Kino – und vor allem das Weltkino – aus seiner Routine zu holen. Mit einem in sich stimmigen Twist sorgt Was geschah mit Bus 670? am Ende noch für ein Durcheinander an Empfindungen, wechselnd zwischen Verblüffung und untröstlicher Melancholie.

Was geschah mit Bus 670?

Elle

WAS MICH NICHT UMBRINGT

6,5/10


elle© 2016 MFA+ FilmDistribution e. K. 


LAND / JAHR: FRANKREICH, DEUTSCHLAND 2016

REGIE: PAUL VERHOEVEN

CAST: ISABELLE HUPPERT, LAURENT LAFITTE, ANNE CONSIGNY, CHARLES BERLING, VIRGINIE EFIRA, CHRISTIAN BERKEL U. A.

LÄNGE: 2 STD 10 MIN


Farrah Fawcett und Jodie Foster, beide Opfer von Sexualverbrechen im Film, werden sich angesichts des verstörenden Verhaltens von Isabelle Huppert wohl fragen: was hat die Gute für ein Problem? Ehrlich gesagt: ein ziemlich großes. Eines, das der Zuseher erst nach und nach in Erfahrung bringt, und es sei auch an dieser Stelle nicht mehr verraten, denn Sinn und Zweck in Paul Verhoevens Filmen ist es natürlich, erstmal ordentlich das provokante Kinn hervorzurecken und seine auserwählten Geschichten mit einer etwas herablassenden Ironie zu betrachten. Denn ernst nimmt der Niederländer seine Filme selten. Und das hört sogar dann nicht auf, wenn so etwas Schreckliches passiert wie die völlig aus dem heiteren Himmel hereinbrechende Straftat einer brutalen Vergewaltigung.

Isabelle Huppert ist selbst bei so etwas aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Und in ihrer Rollenwahl selten abgeneigt, wenn es darum geht, abartige sexuelle Bedürfnisse zu verspüren, die mit Dominanz und Erniedrigung zu tun haben. Die Erinnerung an ihre Rolle in Michael Hanekes Die Klavierspielerin ist, ob ich will oder nicht, immer noch präsent, der Quickie in den öffentlichen Sanitäranlagen etwas, wo man sich’s abgewöhnt. Was Huppert als Unternehmerin Michèle aus dem traumatischen Erlebnis mitbringt, sind halbherzige Versuche, so etwas nicht noch mal passieren zu lassen. Zur Polizei geht sie nicht, das hat auch seine Gründe. Was sie allerdings versucht, ist, der Identität des Verbrechers auf die Spur zu kommen – mit Pfefferspray, einer Axt und dem Heraufbeschwören einer Wiederholung des Ganzen. Denn vielleicht, so Michèles Ansatz, lässt sich so manches aus der eigenen Biographie besser durch den Teufel austreiben als durch gängige Methoden der Psychoanalyse.

In seiner Überzeichnung erinnert Paul Verhoeven an die gehaltvollen Werke des Spaniers Pedro Almodovar, dessen melodische Theatralik lässt er allerdings vermissen. Und auch seinen Figuren nähert man sich nur ungern. Huppert spielt schließlich stets die Unnahbare, trotz ihrer Bereitschaft zum Koitus. Doch körperlicher Sex ist nicht gleich Gefühl und Beziehung. Ihre Figur bleibt kalt. Auch alle anderen Nebenfiguren umgibt ein großzügiges Niemandsland. Das wiederum erinnert wieder an Elfriede Jelineks gestörtes Mutter-Tochter-Verhältnis, nur haben wir es hier mit einem gestörten Opfer-Peiniger-Verhältnis zu tun, das naturgemäß eine andere Richtung nimmt als erwartet. Würde Verhoeven bereits betretenen Pfaden folgen, wäre das nicht er. Stets bleibt das Überraschungsmoment in Bezug auf das Handeln seiner Figuren ein wichtiges Versatzstück in seinem Schaffen. Langsam aber doch überrascht es aber niemanden mehr, wenn die kleine, zarte Isabelle Huppert einer höheren Gewalt mit autoaggressivem Trotz begegnet.

Elle ist aber insofern bemerkenswert, da der Film als eine aus der Distanz betrachtete Psychostudie funktioniert, mit einigen Thriller-Elementen, die aber zu vernachlässigen sind. Viel interessanter sind die Verzerrung der Mechanismen des Ausgeliefertseins und die Katharsis, die es dafür benötigt, um aus einem Trauma mit variablem Erscheinungsbild zu entkommen. Nach dieser vollendeten Erkenntnis verliert sogar Verhoeven seine plakative Häme, wird geradezu versöhnlich und folgt einer gesunden moralischen Gerechtigkeit.

Elle

Fuchs im Bau

MIT FEHLERN LERNEN

5/10


fuchsimbau© 2021 Filmladen


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2020

BUCH / REGIE: ARMAN T. RIAHI

CAST: ALEKSANDAR PETROVIĆ, MARIA HOFSTÄTTER, LUNA JORDAN, SIBEL KEKILLI, ANDREAS LUST, KARL FISCHER, FARIS RAHOMA, ANICA DOBRA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Lockerflockig inszenierte Komödien aus Österreich sind selten. Weil das Genre der Komödie in seiner Umsetzung am schwierigsten ist. Eine gute Komödie ist eine Meisterleistung. Die Migrantigen von Arman T. Riahi ist zum Beispiel so ein Fall. Eva Spreitzhofers Womit haben wir das verdient ist ebenfalls nicht zu verachten, wenn auch etwas handzahm und gefällig geraten. Riahi hat allerdings nicht im Sinn, nur mit Filmen hintersinnigen Humors sein Œvre zu füllen. Das österreichische Kino ist eines, das gerne und viel über allerlei soziale Missstände in unserem Land nachdenkt. Und nicht nur in unserem Land – für ganz Europa fühlt es sich mittlerweile verantwortlich. Ein noble Eigenschaft. Allerdings auch ernüchternd. Angesichts der vielen subventionierten Themen rund um Menschenhandel, Prostitution, Kindesmisshandlung und Psychosen – um nur einige zu nennen – könnte man bereits alle Hoffnung fahren lassen und die menschliche Apokalypse liebevoll in die Arme schließen. Eine entführte Elfriede Ott ist da nur eine Fußnote eines zaghaft aufzeigenden Optimismus. Aber – nichtsdestotrotz: Riahi bleibt ernst, gräbt tiefer. Nimmt sich eines Problems an, das bislang – wenn man kurz mal die letzten Jahre des österr. Filmschaffens evaluiert – noch fehlt: Der Alltag in einem Jugendknast.

Das kann natürlich ein Coming of Age-Lock Up werden. Oder Der Club der toten Dichter, nur vom anderen Ende aus betrachtet. Dazu noch gewaltbereiter, soziopathischer und widerspenstiger. Letzteres ist es auch geworden: Das Bildnis eines unorthodoxen Lehrer-Alltags in einer Strafvollzugsanstalt irgendwo in Wien (als Kulisse diente die Justizanstalt Josefstadt) mit ganz vielen, nicht enden wollenden Problemen. Doch nicht nur die Jungen mit vorzugsweise Migrationshintergrund tragen ihr Herz auf den Lippen und suhlen sich in gassenüblicher Jugendsprache, um ihre Unsicherheit zu überspielen. Auch die Lehrkräfte, zumindest „Frau Lehrer“ Berger (wie immer treffsicher besetzt: Maria Hofstätter), gibt sich auffallend lässig und hat ihre ganz eigenen, seltsamen Methoden, um die Mädchen und Burschen bei der Stange zu halten. Sie unterrichtet Kunst, oder besser gesagt: sie bringt ihre Schützlinge dazu, ihr Innerstes in Form von Maltherapie nach außen zu kehren. Mit dabei: Noch-Assistenzlehrer Hannes Fuchs (Migrantiger Aleksandar Petrović), der allerdings mit sauertöpfischer Mine nicht so recht in sein neues Arbeitsfeld finden will. Noch dazu gibt’s da eine Insassin, deren Verhalten ihm gar nicht gefällt. Um die er sich – zu Recht – Sorgen macht. Und der Sache nachgeht, zum Unwillen der Justizwachebeamten, die dem ganzen chaotischen Zirkus eigentlich nichts abgewinnen können.

Da haben wir es wieder – das Superdrama. Problemkinder plus Problemlehrer in einer heillosen Problemwelt. Problemkinder würden ja prinzipiell schon genug des schwergewichtigen Inhalts mitbringen. Schauspielerin Luna Jordan spielt sich da als traumatisierte Tochter eines eigenhändig ins Koma geprügelten Vaters die Seele aus dem Leib. Was für eine verbissene Wucht. Ihr gegenüber der Rest des Ensembles, das ebenfalls sein Trauma mit sich herumträgt. Ausnahme: Sibel Kekilli, enttäuschend farblos und mit ihrer befremdend akzentlosen Aussprache wie ein Fremdkörper in all dem sozialen Schmuddel. Riahi will jedoch, dass alle hier den Ursprung für ihr verqueres Verhalten in tragischen Schicksalen verorten. Erklärt aber niemals genau, welche. Vieles bleibt indirekt und verlässt sich auf die Interpretations- und Kombinationsfähigkeit des Publikums. Das kann man natürlich gezielt einsetzen – doch nicht auf Dauer. Weder erfahren wir etwas über die biographischen Hintergründe der Jugendlichen, noch taucht Riahi tiefer in das Schicksal des Lehrers Fuchs ein, noch erklärt sich Maria Hofstätters entrücktes Verhalten. Es bleibt in diesem Drama so viel Wissenswertes verborgen. Ahnungs- und daher auch emotionslos bleibt man zurück, ist vielleicht etwas angeregt durch das gelungene Finale, in welchem ich auch Robin Williams gesehen hätte, doch mit einigem Abstand zum Gesehenen zeugen leichte Ermüdung und ein Brummschädel, dass Fuchs im Bau zwar natürlich gut gemeint und relevant genug ist, intellektuelles Prosakino mit handfestem Jugenddrama jedoch ungeschickt verknüpft hat.

Fuchs im Bau