Belfast

KINDHEIT HINTER BARRIKADEN

7/10


belfast© 2021 Focus Features, LLC.


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2021

BUCH / REGIE: KENNETH BRANAGH

CAST: JUDE HILL, CAITRIONA BALFE, JAMIE DORNAN, JUDI DENCH, CIARÁN HINDS, COLIN MORGAN, LARA MCDONNELL, GERARD HORAN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Harry Potter-Fans wird er als egomanischer Zauberer Gilderoy Lockhart ewig in Erinnerung bleiben – alle anderen schätzen womöglich sein Faible für Shakespeare und Agatha Christie. Die Rede ist von Kenneth Branagh, dem man wirklich nicht vorwerfen kann, arbeitsscheu zu sein. Im Gegenteil: der gebürtige Nordire hat den Lockdown des Jahres 2020 dafür genutzt, in seiner eigenen Vergangenheit zu kramen. Entstanden ist Belfast – eine sehr persönliche, ins Detail gehende Arbeit, die vom wohl prägnantesten Wendepunkt in Branaghs Leben erzählt. Sein Alter Ego ist der neunjährige Knabe Buddy, der im Sommer des Jahres 1969 mitten hinein in die katholisch-protestantischen Unruhen gerät. Für ihn ist der wütende Mob, der Fenster einschlägt, Leute verprügelt oder Autos ausbrennen lässt, etwas Unbegreifliches. Die Welt, in der Buddy sich bislang befunden hat, ist eine unbekümmerte, lausbübische. Da wird mit Holzschwert und Mülleimerdeckel Ritter und Drache gespielt. Da ist der Sommer in kurzen Hosen auch einer, der die erste Romanze bringt – jedoch keine so grundlose Gewalt wie diese. Als Folge dieser Unruhen wird die Wohnstraße Buddys verbarrikadiert – mit Bodenplatten, Autos und Stacheldraht. Ein besonderer Sommer. Ein besonderes, wenn auch nicht zwingend gutes Jahr – aber das letzte in Belfast, in vertrautem Zuhause, inmitten von Cousins, Cousinen, Freunden – und den geliebten Großeltern.

Diese sind mit Judi Dench und Ciarán Kinds als entspanntes, weises und in den heiligen vier Wänden omnipräsentes Paar ein Zufluchtsort für alle Unsicherheiten dieser Welt. Abrahams Schoß sozusagen, eine Konstante in einer Zeit voller Veränderungen. Mit viel Liebe werden diese skizziert, und man spürt Branaghs melancholisches Zurückerinnern an den wertvollsten, inneren Kern seiner Familie. Alles andere ist stets in Bewegung – und in diesem Abenteuer einer Kindheit hinter Barrikaden klappert der kleine Buddy (famos und freudvoll verkörpert von Newcomer Jude Hill) eine Vielzahl an Orten, Individuen und Persönlichkeiten ab, als würde er bereits ahnen, dass die Heimat Belfast bald Geschichte sein wird. Was Branagh wirklich gut gelingt, sind die kurzen, aber intensiven Blicke auf all diese Gesichter, Details und Szenen, in Schwarzweiß und im Stile kunstvoller Wochenblatt-Reportagen noch mehr Symbole des Vergangenen, aber nicht Verdrängten. Belfast begibt sich auf Augenhöhe zu seinem kleinen Helden, dadurch sind all diese Momente, die anderswo vielleicht nur oberflächlich abgehakt wären, von einer kindlichen Neugier beseelt, die manchmal in Furcht, Verwirrung oder Triumph umschlägt. Dazu gehören ebenso das Kino und Fernsehen der Sechziger – und ganz wichtig – die erhabene, aber schwer einschätzbare Figur von Buddys Mutter. Die irische Schauspielerin Caitriona Balfe ist dabei die absolute Sensation des Films. Branagh weiß, was er von ihr verlangen kann, und setzt auch ganz auf ihre Ausstrahlung. Zwischen Muttersorgen und Feierlaune ist Balfe ein faszinierendes Charakterbild gelungen.

Kindheitserinnerungen im Kino gibt es so manche. Hope and Glory von John Boorman zum Beispiel. Der Junge muss an die frische Luft über Hape Kerkelings frühem Sinn für Spaßmacherei im Schatten einer depressiven Mutter. Das ist Wehmut, sind ins Gedächtnis eingebrannte Momente, sind verklärte und subjektiv gefärbte Vergangenheiten. Filme dieser Art erzählen weniger komplexe Geschichten, sondern  fischen vielmehr in assoziativen Erinnerungen, die lose einer Entwicklung folgen. Und so ist auch Belfast keine epische, wuchtige Geschichte, sondern ein tragikomisches Abenteuer zwischen blutigem Ernst und dem elektrisierenden Gefühlschaos eines aufgeweckten Kindes.

Belfast

Tod auf dem Nil (2022)

DER DETEKTIV UND DIE LIEBE

6,5/10


todaufdemnil© 2022 Twentieth Century Studios


LAND / JAHR: USA 2019

REGIE: KENNETH BRANAGH

CAST: KENNETH BRANAGH, GAL GADOT, ARMIE HAMMER, EMMA MACKEY, ANNETTE BENING, TOM BATEMAN, LETITA WRIGHT, SOPHIE OKONEDO, ROSE LESLIE, RUSSEL BRAND U. A.

LÄNGE: 2 STD 8 MIN


Wie wär‘s heuer mal mit Ägypten? Wenn die Covid-Regeln überschaubar bleiben und keiner dort akut den Dschihad probt, dann hätte ich durchaus Lust darauf, Tutanchamuns Grab oder Ramses höchstpersönlich einen Besuch abzustatten. Natürlich einschließlich Pyramiden, Karnak und vielleicht sogar Abu Simbel ganz im Süden. Dorthin fährt nämlich Agatha Christies Vorzeigebelgier Hercule Poirot an Bord eines Luxus-Schaufelraddampfers, um den IQ einer illustren Hochzeitsgesellschaft zu heben. Beim Publikum hebt sich erstmal die Lust aufs Reisen angesichts dieser pittoresken Postkartenmotive. Die Motive für einen Mord sind zwar weniger nobel, aber zahlreich vorhanden. Im Mittelpunkt steht nämlich Wonder Woman Gal Godot (wie immer eine Augenweide) als steinreiches It-Girl Linnet, die ihrer besten Freundin den Mann ausgespannt hat. Sowas tut man nicht, aber andererseits: wo die Liebe hinfällt, wächst keine Moral. Also heiratet die Schöne den schnauzbärtigen Simon und reist mit ihm samt Entourage an den Nil, auf welchem der Tod natürlich schon eingecheckt hat. Weiters mit im Schlepptau: die um ihre rosige Zukunft geprellte Ex, die fröhlich durch die Gegend stalkt. Mit Hercule Poirot, der sich aus ganz anderen Gründen ebenfalls dort aufhält, hat sie allerdings nicht gerechnet, und Linnet bittet den alten Hasen mit den grauen Zellen, die Gesellschaft doch lieber im Blick zu behalten – es könnte ihr Übles widerfahren. Es dauert nicht lang, da fällt schon der erste Schuss. Poirot muss sich anstrengen, denn diesmal ist nicht nur das Kapital anderer, sondern auch ganz viel Liebe mit im Spiel. Sogar die eigene.

Und da hat Kenneth Branagh den eleganten Denker an seiner Achillesferse erwischt. Was John Guillermin in seiner Verfilmung mit Peter Ustinov nicht getan hat. In der ebenfalls sehr edlen Adaption aus den Siebzigern ist der Detektiv eine Ikone des Moments, geradezu eine Art Superheld der Kombinationsgabe. Wie Sherlock Holmes in etwa, vor dem man Ehrfurcht haben kann. Branagh legt seinen Poirot ganz anders an. Und das erkennt man schon in den ersten Szenen des neuen Films, bei welchem mich das Gefühl bemächtigt hat, im falschen Saal zu sitzen. Erster Weltkrieg, Grabenkämpfe in Belgien, Giftgas – und dann der junge Poirot, noch ohne Schnauzer, der seinem Bataillon den Allerwertesten rettet, selbst aber nicht ganz unversehrt bleibt. Was dann passiert, hat viel Einfluss auf den Charakter des Kriminologen, und daher geht Branagh auch entscheidend tiefer in die Psyche der Figur als es Guillermin jemals hätte tun wollen, um dem Idol außer einigen Spleens keine Schwächen zuzugestehen. Branagh hingegen hat keine Angst davor. Poirot ist hier kein zwingend frohsinniger Genießer wie Ustinov, sondern verbittert, aber distinguiert und gut erzogen. Dass einer wie Poirot sentimental werden kann, schien bislang unmöglich – diese Neuentdeckung des detektivischen Charakterzuges ist das Herzstück des Films und überwindet die Distanz zum Zuschauer. Das übrige Ensemble ist weicher gezeichnet, wenngleich mit Annette Bening oder der brillanten Sophie Okonedo gut besetzt. Ein schmissiger Score, der die Klänge des amerikanischen Jazz über den längsten Fluss Afrikas trägt, verleiht dem Setting eine launige Atmosphäre, der Nachbau der 70 Meter langen Sudan und des Abu Simbel-Tempels in den britischen Studios beweist wieder mal, dass man bei großen Filmen wie diesen keine Mühen scheut. Und dennoch bleibt das Gefühl, einen Rückschritt in das Studiokino ganz früherer Zeiten gemacht zu haben. Abgesehen von den Drohnenaufnahmen ist die ganze Reise den Nil entlang nur Stückwerk von überallher, nur nicht aus Nordafrika. Ägypten nachzubauen oder eben dort zu sein, sich ganz auf den Vibe der Location zu verlassen, das sind dann doch zwei Paar Schuhe. In Tod auf dem Nil wird manche Szenen überdeutlich kulissenhaft, womöglich mit dieser Art Projektionstechnik umgesetzt, die schon Jon Favreau für The Mandalorian entwickelt hat. Die Raffinesse gelingt nicht immer, vieles erscheint artifiziell, auch das Licht sitzt oftmals nicht richtig und passt meist nicht zu den Dämmerstunden im landschaftlichen Hintergrund.

Schade, dass Marokko als Drehort dann doch nicht genutzt worden war. So bleibt uns zumindest ein Kammerspiel, dessen kreuz und quer gesponnenes Netzwerk aus Bedürfnissen, Leidenschaften und sinisteren Plänen solide unterhält. Statt des Orient-Express ist es nun ein Schiff. Das Konzept, der Rhythmus – ungefähr gleich. Branagh, den der Doppeljob aus Dreh und Schauspiel nicht überfordert, gelingt ein weiteres Whodunit, dem man trotz der durch Ustinov für viele bereits bekannten Auflösung gerne zusieht. Am Schluss tut der Brite sogar etwas, das undenkbar scheint. Doch andererseits: Poirot ist auch nur ein Mensch.

Tod auf dem Nil (2022)

Tenet

BE KIND REWIND

7/10

 

tenet© 2020 Warner Bros. GmbH

 

LAND: USA 2020

REGIE: CHRISTOPHER NOLAN

CAST: JOHN DAVID WASHINGTON, ROBERT PATTINSON, ELIZABETH DEBICKI, KENNETH BRANAGH, MICHAEL CAINE U. A. 

LÄNGE: 2 STD 30 MIN

 

Time is on his side: wenn Christopher Nolan über die Zeit nachdenkt, dann ist das garantiert nicht so, als würden Marty McFly und sein väterlicher Freund Doc Brown darüber nachdenken. Nein, es mag schon, gelinde gesagt, einen Tick komplizierter sein. Nolan, der denkt nicht nur darüber nach, er brütet vor sich hin. Sinniert, philosophiert. Jedenfalls versucht er, wie viele andere auch (die womöglich daran gescheitert sind), diesem Mysterium Zeit mithilfe eines logisch scheinenden Testversuchs auf die Spur zu kommen. Sorry, lieber Akribiker, du wirst letzten Endes scheitern. Denn die Zeit, die mag zwar in deinen Filmen stets auf deiner Seite sein – sobald man ihr ernsthaft auf den Grund kommen will, ist sie dein einziger Feind. Und ja, in Tenet (lat. für Grund- oder Glaubenssatz) ist sie das wirklich, sowohl storytechnisch als auch letzten Endes als Stich in die gedankliche Zeitblase.

Egal ob Memento, Inception, Interstellar, ja sogar in Dunkirk – das temporäre Gefüge, die linear ausgerichtete Entropie, ist für Nolan stets der gordische Knoten, den er nicht, wie Alexander der Große, einfach zerschneiden will. Er will ihn auseinanderfriemeln. Jedes Mal versucht er es aufs Neue, und jedes Mal sind es andere Ansätze. In Tenet findet er wieder einen komplett neuen Zugang, wie aus dem Ei gepellt. In seinem bereits vom Covid-müden Kinopublikum heiß ersehnten Science-Fiction-Thriller bekommen Dinge und Personen nämlich die Möglichkeit, zu invertieren. Das heißt, sie und ihre freigesetzte Energie werden zeitlich umgekehrt, laufen rückwärts. Der Zeitstrahl dürfte bei Tenet dabei linear verlaufen – von Paralleluniversen, die das Großvater-Paradoxon aushebeln könnten, ist eigentlich keine Rede. In diesem linear verlaufenden, entropischen Zeitstrahl also kann man sich selbst zurückspulen. Das heißt – man schafft keine andere Vergangenheit oder Zukunft, diese bleiben konstant. Verändert wird nicht das große Ganze, wie eben in Zurück in die Zukunft oder The Butterfly Effect. Die Zeit wird in Tenet erstmals in der Geschichte des Films zu einem – sagen wir mal so – nutzbaren Gegenstand, wie eine Waffe oder ein Werkzeug. Und verblüfft dabei das Publikum mit einem der ältesten Tricks des Kinos. Noch dazu spricht im global umherhetzenden Tenet einiges dafür, das Agenten-Franchise eines James Bond jemand ganz anderem zu vererben: einem Protagonisten namens John David Washington, der eine ausgesprochen charismatische Figur macht. Blöd nur, dass Nolan ihn vorweggenommen hat, sonst wäre er nach Daniel Craig der ideale Kandidat.

Der Geheimagent aus Tenet jedenfalls packt die Sache enorm integer an, nimmt die Möglichkeit einer Zeitumkehr gebührlich ernst, ohne aber aufs Augenzwinkern zu vergessen. Vergessen sollte man auch nicht, dass das Mindfuck-Kino mit Tenet auch seinen Zenit erreicht hat. Darüber hinaus wird’s dann nur noch verschwurbelt und das Publikum könnte verärgert den Hut draufhauen, weil es von Anfang bis Ende nicht mehr mitkommt. Tenet ist inhaltlich entsprechend herausfordernd, die Parameter der Zeit bieten ordentlich viele Leos für Logikhürden, die nicht gemeistert werden können, fallen aber wenig ins Gewicht. Kann sein, dass man hin und wieder den Faden verliert, dass man auf Details am Rande, die untergehen, zufrieden pfeift, weil die ausgearbeitete Strenge des Films mit all seinem typisch erdfarbenen Nolan-Kolorit und dem Rohbau-Kubismus ohnehin fasziniert. Ganz verstehen wird Tenet ohnehin niemand, man kann die Komplexität, die vielleicht auch nur vorgibt, eine solche zu sein, ohnehin nicht ergründen. Und vielleicht soll das auch gar nicht der Fall sein, da der Mystizismus um die vierte Dimension in diesem Film ein stilvoll servierter Appetizer ist, der als Spielwiese obskurer Gedankengänge voller verbogener Logik Gusto aufs Grübeln macht.

Tenet

Artemis Fowl

STIMMEN AUS DER IRISCHEN UNTERWELT

3,5/10

 

artemisfowl© 2020 Nicola Dove / The Walt Disney Company

 

LAND: USA 2019

REGIE: KENNETH BRANAGH

CAST: FERDIA SHAW, COLIN FARRELL, JUDI DENCH, JOSH GAD, LARA MCDONNELL, NONSO ANOZIE, TAMARA SMART U. A.

 

Was Joanne K. Rowling kann, können andere doch auch: mit dem Harry Potter-Hype hat sich gegen Ende der Neunziger das literarische Genre der Jugend-Fantasy auf olympische Höhen gestemmt. Darunter dann einige, die es fast in ähnliche Höhen geschafft hätten, allerdings deutlich drunterblieben, die aber genug Leser finden konnten, um in Potters Fahrwasser mitzuplantschen. Percy Jackson zum Beispiel, mit den Figuren aus der griechischen Mythologie, derer sich natürlich auch Rowling bedient hat. Wirklich kreativ musste da keiner werden – die europäische Sagenwelt ist ein Fass ohne Boden, auf jedem Teil des Kontinents erzählt man sich etwas anderes. Hinzu kommt das Erbe eines Tolkien, der Orks, Zwerge und Elfen für den realitätsflüchtenden Liebhaber magischer Welten mit Peter Jacksons Verfilmungen neu etabliert hat. Natürlich blieb da Irland mit seinen Leprechauns und Fairies nicht außen vor. 2001 erschien unter der Feder Eoin Colfers das erste Abenteuer eines zwölfjährigen superklugen und superreichen Alleskönners und Erbe einer Verbrecherdynastie: Artemis Fowl. Die Fowls schwimmen im Geld, so wie die Waynes, und der distinguierte Knabe erinnert nicht rein zufällig an den juvenilen Bruce, der einen Butler an seiner Seite hat, der auch voller Skills zu stecken scheint, die das Unbequeme vor den Toren des Schlosses halten.

Da stellt sich natürlich die Frage: wie sehr identifiziert man sich mit einem geistig hochbegabten, reichen und durchaus arroganten Burschen, der keine Ecken und Kanten zu haben scheint, alles besser weiß und den nichts erschüttert? Die Skala von eins bis zehn arbeitet sich nur mühsam nach oben. Artemis Fowl ist irgendwie einer, der sowieso alles im Alleingang regeln kann, zumindest interpretiert Shakespeare-Liebhaber Kenneth Branagh den verfilmten Star der Buchreihe genau so, die, gäbe es den Film nicht, mir womöglich unbekannt geblieben wäre. Man erkennt: Casting-Frischling Ferdia Shaw verleiht dem jungen Meisterdieb (was im Film längst nicht klar wird, dass dieser überhaupt einer sein soll) ein an emotionalen Facetten armes Charakterbild. Was bleibt, ist Überheblichkeit unter einem völlig entgleisten Haarschnitt. Mit Sonnenbrille und Begräbnis-Outfit sieht Shaw eher aus wie ein junger Rekrut aus den Untiefen der Men in Black-Organisation. Und im Grunde genommen ist es das ja auch: Was es zu entdecken gilt, das sind die mythischen Welten im Untergrund, die sowieso die ganze Zeit parallel zu der unsrigen existieren. Gut, das ist auch alles andere als neu. Der Punkt geht an Harry Potter. Jenseits der irischen Wiesen tummelt sich ein fahriges High-Tech-Universum an Elfen, Kobolden und Trollen, wovon der eine oder andere in die Menschenwelt entkommt und in kostengünstigem CGI für Radau sorgt. Vor allem die Figur des Trolls wirkt wie ein computergenerierter Zwischenstand ohne Plastizität. Mit unfreiwilliger Komik fehlbesetzt bleibt Charaktermimin Judi Dench als spitzohrige Reinkarnation mit David Bowie-Gedächtnisfrisur, die durch eine unausgegorene phantastische Welt trottet, und die in jeder Minute nicht weiß, was sie hier eigentlich zu suchen hat.

Das sind die Dinge, die mir bei Artemis Fowl vorrangig in Erinnerung geblieben sind. Alles andere ist ein flüchtig notierter Spickzettel für einen über mehrere Filme hinwegziehenden roten Faden, der versucht, das Anfang und das Ende eines Epos zusammenzuhalten, dabei aber ziemlich durchhängt. Dieses Ringen um ein bestimmtes Artefakt hat weder Atmosphäre noch Zauber, auf Zeitdruck schnell hin inszeniert, unter der Fuchtel des Disney-Finanzresorts dahinkreisend und irgendwie längst nicht fertig. Branagh kann unmöglich damit glücklich gewesen sein – ich weiß, wie gut der Mann sonst inszenieren kann. Artemis Fowl dürfte dasselbe Schicksal erleiden wie The Seventh Son, die Verfilmung gleich mehrerer Romane des britischen Autors Joseph Delaney. Oder Der dunkle Turm von Stephen King. Alles Schnellschüsse, runterkupiert auf 90 bis 100 Minuten und wahllos mehrere Elemente aus verschiedenen Büchern vereinend. Was wohl dahintersteckt? Vielleicht haben all die Filme gemeinsam, dass die Studios schon während der Produktion gesehen haben, dass das Projekt nicht das erfüllt, was es versprochen hat, angesichts sämtlicher Verträge aber die Sache zu Ende gebracht werden muss. Und statt der Schublade gibt’s neuerdings das studioeigene Streaming-Portal, wo sich Filme wie diese leicht ins Exil retten lassen.

Artemis Fowl

Mord im Orient-Express

DIE GRAUZONEN DER GERECHTIGKEIT

6/10

 

orientexpress@ 2017 Twentieth Century Fox

 

LAND: USA 2017

REGIE: KENNETH BRANAGH

MIT KENNETH BRANAGH, JOHNNY DEPP, MICHELLE PFEIFFER, DAISY RIDLEY, JUDI DENCH U. A.

 

Nein, gezwirbelt hat er das liebevoll arrangierte Bartkunstwerk nicht, so wie einst Sir Peter Ustinov als Hercule Poirot. Und auch ist Kenneth Branagh nicht so eine einnehmende, kernsympathische Wuchtbrumme wie der hochintelligente Brite, aber immerhin fast annähernd ein solcher Genussmensch. Die von Kultautorin Agatha Christie ersonnene Figur des belgischen Detektivs Poirot ist um Eckhäuser zugänglicher als der arrogante Sherlock Holmes, der nicht weiß wohin mit seiner Hochbegabung. Poirot ist vor allem in den Filmen von John Guillermin und Guy Hamilton kein Kostverächter, und gleichzeitig ein akribisch denkender und stets beobachtender Mensch mit fotografischem Gedächtnis und einer Kombinationsgabe, die uns im Vergleich dazu jubeln lässt, wenn wir einfache Schlussrechnungen auf die Reihe bekommen. Kombinieren und Mörder finden, das können wir getrost anderen überlassen. Am Liebsten auch Miss Marple, die von Grand Dame Margarete Rutherford mit ihren weißen Locken und dem kuscheligen Knautschgesicht bis in alle Ewigkeit wegweisend besetzt wurde. Peter Ustinov war in seine Rolle ebenso unverwechselbar – ein anderer sollte diese Figur gar nicht mehr spielen dürfen. Doch Ustinov weilt in den ewigen Jagdgründen, und also müssen andere ran – sofern man noch die Muße hat, das bereits dreimal verfilmte Meisterwerk Agatha Christie´s tatsächlich nochmal zu bebildern.

Die meisten Leser und Kinogeher wissen, was es mit dem Mord im Orient-Express auf sich hat. Es ist längst kein Geheimnis mehr, auf was für eine unglaubliche Wahrheit der zwangsrekrutierte Detektiv inmitten schneeverwehter Landschaft da stoßen wird. Aus dieser Perspektive betrachtet ist die nun vierte Verfilmung unter der Regie des theateraffinen Briten Kenneth Branagh äußerst entbehrlich, und ganz ehrlich gesagt wollte ich mir das altbekannte Szenario nicht noch einmal geben. Fast muss ich zugeben, dass Christie´s berühmtestes Buch und all jene Verfilmungen, die es bereits gibt, Branagh Neuauflage ungefähr so notwendig machen wie Gus van Sant´s farblich durchwirktes Imitat von Psycho. Aber sei´s drum – die wirklich geniale, leicht klaustrophobische und tiefenpsychologische Mörderhatz ist längst nicht nur ein Krimi. Bei Mord im Orient-Express kann sich der Zuseher trotz der widrigen Umstände des Schauplatzes irgendwie geborgen fühlen. Was zu erwarten ist, passiert auch. Branagh´s Film ist wie ein Samstagnachmittag auf der Couch, wenn man beim Zappen zufällig auf einen Agatha-Christie-Krimi stößt und dabei hängen bleibt, weil einfach die Stimmung, das Setting und die Schauspieler vielleicht ein bisschen an die zweite Dekade der Kindheit erinnern. Oder eben Reize auslöst, auf welche sich enorm kribbelige Gemütlichkeit einstellt. Das ist die eine Sache, die die Story immer wieder sehenswert macht. Die andere ist die, das hier ausnahmsweise Quantität tatsächlich gleich Qualität ist – nämlich die illustre Besetzungsliste, die sich liest wie die Sitzordnung eines Tisches bei der Oscarverleihung. Publikumslieblinge wohin man blickt – sogar „Jedi“ Daisy Ridley zwängt sich ins Abteil, Willem Dafoe gibt den Österreicher und Judi Dench ist sowieso die angenehm versnobte Grand Dame, die eigentlich bei keiner Agatha-Christie-Verfilmung fehlen sollte. Der, von dem wir vielleicht am Ehesten noch die Nase voll hätten, wäre Johnny Depp, aber der ist ja bekanntlich das Opfer und segnet das Zeitliche nach rund einer halben Stunde. Dafür legt Michelle Pfeiffer einen ehrwürdigen Auftritt hin. Und der rote Kimono fehlt auch nicht – den kennen wir schon aus den Vorgängerfilmen.

Der ganze Film ist ein elegantes, kurzweiliges Déjà-vu in opulent-nostalgischen Bildern und keinerlei Innovation, aber einem penetrant schnauzbärtigen Kenneth Branagh in der Titelrolle, der seine Sache allerdings souverän hinbekommt und den Gehirnakrobaten Poirot tatsächlich wiederauferstehen lässt. Natürlich, Ustinov ist er keiner. Aber das muss er auch nicht. Worauf Branagh aber Wert legt, ist die psychologische Tiefe der Geschichte. Das Motiv ist, worum es hier geht, weniger der Weg der Wahrheitsfindung. Das Ensemble schlittert und entgleist fast so wie der Zug in eine diffuse Schneeverwehung der Gerechtigkeit – in eine Grauzone aus Recht, Rache und Genugtuung. Ein Aspekt, der in keinen Agatha-Christie-Romanen je wieder so ambivalent und diskussionsanregend zu Tage tritt. Hätte ich einen Mustache wie Poirot, hätte ich ihn mir beim Abspann des Filmes womöglich nachdenklich gezwirbelt.

Mord im Orient-Express