Jurassic World: Ein neues Zeitalter

UND EWIG LOCKT DER THEMENPARK

6/10


jurassicworld_dominion© 2022 Universal Studios and Amblin Entertainment. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: COLIN TREVORROW

CAST: BRYCE DALLAS HOWARD, CHRIS PRATT, ISABELLA SERMON, LAURA DERN, SAM NEILL, JEFF GOLDBLUM, DEWANDA WISE, CAMPBELL SCOTT, MAMOUDOU ATHIE, OMAR SY, SCOTT HAZE U. A.

LÄNGE: 2 STD 28 MIN


Es ist auch schon wieder knapp dreißig Jahre her, seit Laura Dern, Jeff Goldblum und Sam Neill vor dem heranpirschenden Tyrannosaurus rex im offenen Jeep das Weite gesucht hatten. Steven Spielberg konnte mit diesem Einstand tatsächlich das Kino verändern, allein dafür zählt er zu den wichtigsten Regisseuren der Filmgeschichte. Die Dinos im Kino waren ein Erlebnis – und sind es noch. Das kitzelt das Kind in jedem Manne hervor, und man schalt sich selbst dafür, die eigenen Plastiksaurier irgendwann mal billig auf dem Pfarrflohmarkt verhökert zu haben. Als Kind hätte man sich gewünscht, dass Urzeitriesen tatsächlich noch existieren würden – in friedlicher Nachbarschaft mit uns Menschen, die nicht auf dem Speiseplan sämtlicher Prädatoren stünden.

So eine ähnliche Vision ist nun, im sechsten Teil der ganzen Franchise, Wirklichkeit geworden, und John Hammond, der kauzige DNA-Weihnachtsmann mit Gehstock, hätte wohl die Hände zusammengeschlagen, wenn er noch gesehen hätte, was sein wissenschaftlicher Ehrgeiz letzten Endes losgetreten hat und vor welchem ökologischen Supergau die Welt heute steht, irgendwo in einem alternativen Universum, in dem passiert ist, was eben passieren muss, sofern wir der Chaos-Theorie laut Dr. Ian Malcolm Glauben schenken wollen: Die Natur findet seinen Weg. So viele Faktoren, die ineinandergreifen und sich gegenseitig bedingen, können vom noch so statistisch versierten menschlichen Superhirn gar nicht allesamt berücksichtigt werden. Statt Corona sind es nun die Urzeitechsen aus allen Epochen des Mesozoikums, die sich parthenogenetisch fortpflanzen und so ihr Überleben sichern, vielleicht gar das Überleben über die Existenz des um Kontrolle ringenden Menschen hinaus.

Mit dieser Dystopie – oder Utopie (je nachdem von welchem Blickwinkel aus man es betrachtet) konnte Regisseur und Drehbuchautor Colin Trevorrow gut arbeiten. Was Jurassic World: Ein neues Zeitalter hier grundlegend zeigt, ist das Was wäre wenn-Szenario einer unmöglichen Koexistenz. So sehr dem ganzen Konzept auch aus wissenschaftlicher Sicht der Boden unter den Füßen weggezogen werden kann (und das war, wenn man es genauer betrachtet, von Anbeginn an so), lässt dieses tendenziell triviale Wünschdirwas für Saurierfans sein Publikum erst dann so richtig staunen, wenn in einen für uns gewohnten Alltag plötzlich die Erdgeschichte bricht, unter tonnenschwerem Gestampfe und leider nervigem, weil unentwegtem Brüllen. Denn die Dinos in Jurassic World sind Attraktionen und selten lebendiger Teil eines nicht mehr vorhandenen Ökosystems – Pop-Ups mit Event-Knopf auf einem Themenpark, dessen Pforten seit 1993 immer noch offen stehen. Dieser Film hier zieht einen vorläufigen Schlussstrich unter einer so langen Zeit des Rennens, Rettens und Flüchtens. Alles, was gut und brauchbar war, findet hier wieder sein aufgedröseltes Ende, eben auch die gut in Form gebliebenen Altstars und die Helden Bryce Dallas Howard und Chris Pratt.

Da das Franchise sehr stark darauf ausgerichtet ist, die Masse zu begeistern, gibt’s auch keine vielen Überraschungen. Alles passiert abermals. Mit „more of the same“ bereiten zweieinhalb Stunden Abenteuer durchaus Vergnügen, auch wenn der Bonbon bis zum weichen Kern durchgelutscht scheint. Vom Wow-Moment aus Spielbergs Erstling sind wir meilenweit entfernt, doch zum Abklatsch verkommt das Grande Finale dann doch auch nicht. Die Liebe zum Stoff steckt eben im Detail. Wenn Pratt und Howard den maltesischen Schwarzmarkt fürs Dinos entern, findet Jurassic World: Ein neues Zeitalter zivilisationskritische, ja durchaus düstere Bilder und gelangt zu einer knackigen dramaturgischen Dichte, die an Mission: Impossible erinnert, nur mit dem Unterschied, dass hier nicht ab Abzüge, sondern Raptoren klicken.

Jurassic World: Ein neues Zeitalter

Ich bin dein Mensch

DIE SIMULATION DER ZWEISAMKEIT

7/10


IchBinDeinMensch© 2021 Majestic Filmverleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2021

REGIE: MARIA SCHRADER

CAST: MAREN EGGERT, DAN STEVENS, SANDRA HÜLLER, HANS LÖW, WOLFGANG HÜBSCH, ANNIKA MEIER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Es ist menschlich, sich was vorzumachen. Mit der eigenen zurechtverdrängte Realität lässt sich doch gut leben. Warum sollte man also da aufhören, wo es vielleicht am schönsten wäre? Bei der Partnerschaft. Manchmal reicht da einfach nur eine Stimme, um sich zu verlieben. Jean Cocteau hatte die Stimme am Telefon. Für Joaquin Phoenix in Spike Jonzes Her war Scarlett Johannsons Organ zu einer nicht körperlichen KI mehr als genug, um sich zu verlieben. Wenn dann aber ein attraktiver Mann mittleren Alters, augenscheinlich aus Fleisch und Blut, jeden Wunsch von den Augen abliest, kann das nur ein Erfolgsmodell werden. Damit nämlich rechnet eine in Berlin ansässige Robotik-Firma und hat bereits Eurozeichen in den Augen, als nur noch eine einzige Hürde überwunden werden muss, bevor die Innovation auf den Markt kommt: die Testung in privatem Haushalt. Für so etwas wird die Archäologin Alma mehr oder weniger zwangsverpflichtet. Sie muss den Partner-Androiden Tom für 3 Wochen mit zu sich nach Hause nehmen und auf die Frage Eignen sich Roboter als Partner-Ersatz? ein so gut es geht objektives Gutachten verfassen. Alma hat wenig Lust dazu, steckt sie doch bis über beide Ohren in einer Studienveröffentlichung zum Thema Keilschriften. Doch da muss sie durch – und nimmt den etwas hölzern wirkenden Charmebolzen mit in die eigenen vier Wände. Dieses Gekünstelte, so meint Tom, gibt sich bald – er muss seinen Algorithmus nur noch perfektionieren. Was aus diesen nächsten Wochen daraus entstehen mag – es ist nicht vorherzusehen. Und das ist schon mal eines der schönen Dinge, die diesen Film als etwas sehr Interessantes klassifizieren.

Ich bin dein Mensch ist ein Science-Fiction-Film, der noch weniger als Her visuellen Futurismus auch nur irgendwie nötig hat. Niemals blickt man in das Innere von Tom, niemals auch nur sind scheinbar schwebende Displays, Kabeln oder Knöpfe jemals relevant. Maria Schrader schlägt mit ihrem durchdachten Beitrag zum Informationszeitalter eine ganz andere Richtung ein. Dabei ist es, im Gegensatz zu ebenfalls recht durchdachten Filmen aus dem Roboter-Genre, auch nicht gerade die Frage der Ethik, die hier im Vordergrund steht. Für sie ist der Umstand, oder die Möglichkeit, alsbald einen Mensch-Ersatz menschlichem Willen zu unterwerfen, ein Umstand, der genauerer Betrachtung bedarf. Ein sozialpsychologisches Problem also. Eine ganz eigene Studie, die Maria Schrader hier betreibt, und für die sie mit Maren Eggert eine ebenso kritische wie leidenschaftliche Verfasserin gefunden hat. Vor ihr der charmante, ein bisschen als eine Mischung aus Anthony Perkins und James Stewart empfundene Gesellschafter – Dan Stevens (u. a. Die Schöne und das Biest, Downton Abbey) schafft als grüblerischer und gutmütiger Android mit britischem Akzent einen brillanten Balanceakt zwischen Star Trek´s Data und einem menschlichen Superhirn wie Sheldon Cooper, dazwischen aber gelingen ihm verblüffend menschliche Züge, bei welchen man als Zuseher fast schon selbst vergisst, dass dieser Tom eigentlich ein Roboter ist. Dabei zählen seine durchaus logisch nachvollziehbaren Handlungen, die enormes komödiantisches Potenzial entfalten, zu den wirklich witzigen Höhepunkten des Films.

Ich bin dein Mensch ist aber nur zum Teil Komödie. Im Grunde ist Schraders Film eine Gewissensfrage – an den Menschen im Zustand erdrückender Isolation und an ein künstliches Wesen, das vorgibt, alles zu verstehen. Die Simulation der Zweisamkeit allerdings kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein, ist sie doch darauf ausgerichtet, die Grundmotivation der Lebenden, nämlich das Streben nach unerfüllten Wünschen, vorwegzunehmen. Doch andererseits… was weiß man.

Diese nachdenkliche, spitzzüngige und enorm pointierte Komödie über ein gesellschaftliches Grundproblem unserer Zeit schlägt zwar klar einen Kurs ein, lässt aber trotzdem alle Fragen offen. Und das in einer Zeit der vermeintlichen Fortschritte und anmaßenden Gewissheiten.

Ich bin dein Mensch

Space Sweepers

GROSSREINEMACHEN IM ORBIT

4/10


SpaceSweepers© 2021 Netflix


LAND / JAHR: SÜDKOREA 2021

REGIE: SUNG-HE JOO

CAST: JOONG-KI SONG, TAE-RI KIM, SEON-KYU JIN, HAE-JIN YOO, RICHARD ARMITAGE U. A. 

LÄNGE: 2 STD 16 MIN


In Ermangelung richtig fetziger Kino-Events hat nun unser allseits stark frequentierter Streamingriese Netflix in Fernost angeklopft. Südkorea, um genau zu sein, hat da sogleich mit einem Film reagiert, der es, wie es scheint, locker mit amerikanischen Vorbildern aufnehmen könnte. Space Sweepers heißt die Weltraumoper, ist laut Trailer knallbunt und actionreich – doch ist man erst mit dem sicherlich sündteuren Abenteuer durch, stellen sich so manche Schlussfolgerungen ein, bevor der Film in der Mindmap eines Filmnerds ad acta gelegt werden kann. Resümee ist: die Koreaner können in Sachen Film wirklich vieles, in manchen Genres oder Genremixes gibt’s kaum jemand, der ihnen das Wasser reichen kann. Sobald aber Korea beginnt (und nicht nur Korea), sich das Blockbuster-Knowhow Hollywoods anzueignen, wird’s problematisch. Dieses Problem hat auch Space Sweepers. Kurz gesagt: das Abenteuer ist zu lang, zu konfus und der Plot selbst eine zu bequeme Adaption einer Reihe von Werken wie Das fünfte Element. Was so viel heißt wie: Space Sweepers ist so vorhersehbar wie die Zyklen unseres Trabanten. Und wagt auch keinen Mix mit anderen Genres – was Korea nämlich gut kann. Und sich auch sonst nicht davor scheut, Erwartungshaltungen zu unterwandern.

Warum bleibt gerade Space Sweepers so enttäuschend konventionell? Es ist ja bei diesem Film nicht so, dass der futuristische Status Quo der Menschheit nicht mit visuellem Schmackes in Szene gesetzt wurde. Vor allem das Interieur sämtlicher Raumschiffe ist voller Details und Krimskrams, was wiederum an die Detailverliebtheit von Star Wars erinnert. Sonst verwöhnt es das Auge mit CGI, das in seiner sterilen Geschmeidigkeit den Bildern aus der Serie The Expanse oder Enders Game gleichkommt. In Terras Orbit also tummelt sich alles mögliche – Raumstationen und Mülltrabanten und jede Menge umherfliegender Schrott, der eben eingefangen gehört, bevor er mehr beschädigt als den Menschen lieb sein kann. Dazu gibt’s Schrottpiraten – kann man so sagen – die zwar legal hantieren, untereinander aber in Konkurrenz stehen. Auf einem der geangelten Brocken allerdings entdeckt die Crew des Frachters Victory ein junges Mädchen, das, schenkt man den orbitalen Nachrichten Glauben, wider ihres süßen Aussehens im Grunde eine Bombe verkörpert, die jederzeit hochgehen kann. Was tun damit? Da das Kind überall gesucht wird, versprechen sich die 3 Menschen und ein Roboter den Deal ihres Lebens, wenn sie die Rückgabe des Dreikäsehochs in Rechnung stellen.

Auserwählte Individuen, die die Menschheit retten (oder eben vernichten) und um die es ein mordsdrum Gerangel gibt – gab’s schon x-fach. Nur selten auf so anstrengende Weise. Wie für südostasiatisches Actionkino mit Komödien-Attitüde üblich, wird hier in Sachen Hektik nicht gekleckert. Dieses viele Hin und Her, diese hudeligen Actionszenen und sehr viel schnelles Gerede sind nicht die Indikatoren eines ausgewogenen Filmerlebnisses, viel mehr eines seltsam aufreibenden Astro-Abenteuers nach Schema F, das mit einer differenzierten Dramaturgie wohl länger in Erinnerung hätte bleiben können.

Space Sweepers

Tenet

BE KIND REWIND

7/10

 

tenet© 2020 Warner Bros. GmbH

 

LAND: USA 2020

REGIE: CHRISTOPHER NOLAN

CAST: JOHN DAVID WASHINGTON, ROBERT PATTINSON, ELIZABETH DEBICKI, KENNETH BRANAGH, MICHAEL CAINE U. A. 

LÄNGE: 2 STD 30 MIN

 

Time is on his side: wenn Christopher Nolan über die Zeit nachdenkt, dann ist das garantiert nicht so, als würden Marty McFly und sein väterlicher Freund Doc Brown darüber nachdenken. Nein, es mag schon, gelinde gesagt, einen Tick komplizierter sein. Nolan, der denkt nicht nur darüber nach, er brütet vor sich hin. Sinniert, philosophiert. Jedenfalls versucht er, wie viele andere auch (die womöglich daran gescheitert sind), diesem Mysterium Zeit mithilfe eines logisch scheinenden Testversuchs auf die Spur zu kommen. Sorry, lieber Akribiker, du wirst letzten Endes scheitern. Denn die Zeit, die mag zwar in deinen Filmen stets auf deiner Seite sein – sobald man ihr ernsthaft auf den Grund kommen will, ist sie dein einziger Feind. Und ja, in Tenet (lat. für Grund- oder Glaubenssatz) ist sie das wirklich, sowohl storytechnisch als auch letzten Endes als Stich in die gedankliche Zeitblase.

Egal ob Memento, Inception, Interstellar, ja sogar in Dunkirk – das temporäre Gefüge, die linear ausgerichtete Entropie, ist für Nolan stets der gordische Knoten, den er nicht, wie Alexander der Große, einfach zerschneiden will. Er will ihn auseinanderfriemeln. Jedes Mal versucht er es aufs Neue, und jedes Mal sind es andere Ansätze. In Tenet findet er wieder einen komplett neuen Zugang, wie aus dem Ei gepellt. In seinem bereits vom Covid-müden Kinopublikum heiß ersehnten Science-Fiction-Thriller bekommen Dinge und Personen nämlich die Möglichkeit, zu invertieren. Das heißt, sie und ihre freigesetzte Energie werden zeitlich umgekehrt, laufen rückwärts. Der Zeitstrahl dürfte bei Tenet dabei linear verlaufen – von Paralleluniversen, die das Großvater-Paradoxon aushebeln könnten, ist eigentlich keine Rede. In diesem linear verlaufenden, entropischen Zeitstrahl also kann man sich selbst zurückspulen. Das heißt – man schafft keine andere Vergangenheit oder Zukunft, diese bleiben konstant. Verändert wird nicht das große Ganze, wie eben in Zurück in die Zukunft oder The Butterfly Effect. Die Zeit wird in Tenet erstmals in der Geschichte des Films zu einem – sagen wir mal so – nutzbaren Gegenstand, wie eine Waffe oder ein Werkzeug. Und verblüfft dabei das Publikum mit einem der ältesten Tricks des Kinos. Noch dazu spricht im global umherhetzenden Tenet einiges dafür, das Agenten-Franchise eines James Bond jemand ganz anderem zu vererben: einem Protagonisten namens John David Washington, der eine ausgesprochen charismatische Figur macht. Blöd nur, dass Nolan ihn vorweggenommen hat, sonst wäre er nach Daniel Craig der ideale Kandidat.

Der Geheimagent aus Tenet jedenfalls packt die Sache enorm integer an, nimmt die Möglichkeit einer Zeitumkehr gebührlich ernst, ohne aber aufs Augenzwinkern zu vergessen. Vergessen sollte man auch nicht, dass das Mindfuck-Kino mit Tenet auch seinen Zenit erreicht hat. Darüber hinaus wird’s dann nur noch verschwurbelt und das Publikum könnte verärgert den Hut draufhauen, weil es von Anfang bis Ende nicht mehr mitkommt. Tenet ist inhaltlich entsprechend herausfordernd, die Parameter der Zeit bieten ordentlich viele Leos für Logikhürden, die nicht gemeistert werden können, fallen aber wenig ins Gewicht. Kann sein, dass man hin und wieder den Faden verliert, dass man auf Details am Rande, die untergehen, zufrieden pfeift, weil die ausgearbeitete Strenge des Films mit all seinem typisch erdfarbenen Nolan-Kolorit und dem Rohbau-Kubismus ohnehin fasziniert. Ganz verstehen wird Tenet ohnehin niemand, man kann die Komplexität, die vielleicht auch nur vorgibt, eine solche zu sein, ohnehin nicht ergründen. Und vielleicht soll das auch gar nicht der Fall sein, da der Mystizismus um die vierte Dimension in diesem Film ein stilvoll servierter Appetizer ist, der als Spielwiese obskurer Gedankengänge voller verbogener Logik Gusto aufs Grübeln macht.

Tenet

The Lobster

ONLY THE LONELY

4,5/10

 

thelobster© 2015 Yorck Kinogruppe / Park Circus Ltd.

 

LAND: IRLAND, GROSSBRITANNIEN, GRIECHENLAND, FRANKREICH, NIEDERLANDE 2015

REGIE: YÓRGOS LÁNTHIMOS

CAST: COLIN FERRELL, RACHEL WEISZ, BEN WISHAW, JOHN C. REILLY, JESSICA BARDEN, LÉA SEYDOUX, OLIVIA COLMAN U. A. 

 

Bin ich froh, hier aus dem Schneider zu sein. Denn ja, ich lebe in einer Partnerschaft. Ich muss also nicht, würde ich in Yórgos Lánthimos abstruser Welt leben, in einem Nobelhotel die wahrscheinlich letzten Tage meines menschlichen Daseins fristen, bevor ich zu einem Tier verwandelt werde, sollte ich keine Partnerin finden. In der Welt des griechischen Exzentrikers, der unlängst mit dem Queen Anne-Intrigenspiel The Favourite auch oscartechnisch für Aufsehen sorgte, folgen dem Singledasein radikale Konsequenzen. Alleinsein gibt’s nicht. Die Welt will Paare, welchen Geschlechts auch immer, aber zumindest Paare, damit keiner allein sein muss, auch die nicht, die das vielleicht als angenehm empfinden würden. In dieses Hotel also steigt Colin Farrell ab, als verlassener Ex-Ehemann mit Franz Fuchs-Gedächtnisschnauzer und Krankenkassabrille, mit seinem Bruder an der Leine, der leider ein Hund wurde, und mit dem Wunsch, doch in einen Hummer verwandelt zu werden, sollte Amor seine Treffsicherheit nicht unter Beweis stellen können. Das klingt ja schon mal äußerst originell. Wem fallen denn bitte solche absurden Geschichten ein? Warum gerade in ein Tier verwandeln? Und wie genau erkennt man, ob zwei Seelen zusammenpassen?

Tja, das ist die Frage, die Lánthimos sichtlich beschäftigt. Ziehen sich nun Gegensätze an oder müssen beide einen verblüffenden Gleichklang aufweisen, um den Zufall bestimmen zu lassen? Dann könnte man ja gleich würfeln, viel anders ist das nicht. Farrells Filmfigur aber tut sich sichtlich schwer, aus seiner stocksteifen Haltung auszubrechen, er probiert es mit einer Lüge, doch damit scheint er nicht weit zu kommen. Maximal bis zur anderen Seite des Waldes, denn dort leben die, die sich darauf verschworen haben, Single zu bleiben. Die aber letzten Endes um kein Haar besser sind als die Paarfanatiker im Herrensitz.

Die Eingangsszene allein verspricht eine opulente Groteske, die den Parship– und Tinder-Wahn aufs Kreuz legt, auf eine Weise aber, wie es vielleicht nur noch der Theatermagier Peter Greenaway hinbekommen hätte. Colin Farrell habe ich bislang so auch noch nie spielen sehen. Wie ausgewechselt und konträr zu seiner übrigen Werkschau sitzt er seltsam clownesk, wie eine kafkaeske Figur, die gegen eine höhere Ordnung anzukämpfen versucht, zwischen den Beziehungskisten. Neben ihm können auch andere illustre Namen wie Rachel Weisz, Ben Wishaw und Léa Seydoux und auch die oscargekrönte Olivia Colman für Single und Paare zu Felde ziehen.

Yórgos Lánthimos ist in seinen Filmen ein relativ autarker Künstler, an dessen Werken sich natürlich die Geister scheiden sollen, alles andere wäre ihm zu wohlgefällig. Für den Mainstream ist der Mann nicht gemacht. Ein bewusstes Polarisieren wie dieses könnte auch nach hinten losgehen, und tut es auch, zumindest für mich und was The Lobster angeht. Seine visuelle Exzentrik in allen Ehren – gegen Mitte des Filmes macht sich eine geradezu lähmende Zähigkeit breit, die trotz aller Kuriosität unerwartet vorhersehbar erscheint. Seine Idee ist Lanthimos das Wichtigste. Weniger wichtig seine marionettenhaft agierenden Figuren, die in ihren olivgrünen Ponchos im Kunstraum hängen. Noch seltsamer: der Off-Kommentar des ohnehin Offensichtlichen, wie eine akustische Bildbeschreibung für Sehbehinderte. In diesem losgelösten Szenario einer bedrückenden Beziehungsgroteske, die vor dem Andeuten expliziter Gewalt auch nicht zurückschreckt, kann ich mich nur schwer zurechtfinden, alles ist von einer klinischen Kälte und einer pragmatischen Konsequenz, die mich in ihrer artifiziellen Kopflastigkeit gänzlich unberührt lässt.

The Lobster

Die Stadt ohne Juden

UTOPIE DES SCHEINBAR UNMÖGLICHEN

7/10

 

stadtohnejuden© 1924 / Foto: FAA/ZDF

 

LAND: ÖSTERREICH 1924

REGIE: HANS KARL BRESLAUER

CAST: JOHANNES RIEMANN, EUGEN NEUFELD, HANS MOSER, FERDINAND MEYERHOFER, ARMIN BERG U. A. 

 

Als hätte er es gewusst, der österreichische Schriftsteller Hugo Bettauer, der seinen Roman Die Stadt ohne Juden 3 Jahre vor seinem Tod aufgeschrieben hat. Als wäre die Prophezeiung eine metaphysische Tugend der Künstler. Nicht nur Bettauer, auch anderen war diese antisemitische Drift ein Dorn im Auge, ein unübersehbares Schwelen aus Missgunst, Niedertracht und faschistoiden Anomalien, das sich da abgezeichnet hat. Die 20er Jahre – ein brodelndes Jahrzehnt, gleichzeitig nach und vor dem Krieg. Das Chaos der Börsen, das Erstarken eines manipulativen Redners für den Nationalismus. All das und noch vieles mehr. In den 20ern, da konnte man gerade noch intellektuellen Widerstand leisten gegen ein zunehmend fanatisiertes Politpublikum. Da konnten Künstler gerade noch sagen, was ihnen im Kopf herumgeht, bevor die Meinungsfreiheit in wenigen Jahren flöten gehen wird. Hans Karl Breslauer hat Die Stadt ohne Juden zwei Jahre später verfilmt – diesen Roman von Übermorgen, diese Was-wäre-wenn-Vision von etwas Unmöglichem, von dem Auseinanderreißen einer Gesellschaft, die nur in ihrer Vielfalt so ergänzend und ausgleichend überleben kann. Utopia heißt auch die Stadt, in der diese politische Absurdität Gestalt annehmen kann. Es wird politisiert, in Gasthäusern philosophiert, die Ablehnung gegen jene Minderheit, die den Wohlstand anscheinend gepachtet hat und im Geiste des Kaufmannes von Venedig die Wirtschaft der Nicht-Juden am Laufen hält, in dem sie wie niemand sonst das Geld vermehren kann, unverhohlen hinausposaunt.

Was für ein Klischee, allerdings viel eher die Überzeichnung eines geduldeten Nischendaseins, in welchem sich das jüdische Volk zum Kenner der Materie aufschwingen konnte. Von diesem Klischee, dieser Abhängigkeit will sich der Ur-Utopia-Wiener befreit wissen. Diese Sache findet im Parlament Gehör, und ehe sich der gottgleiche Bundeskanzler versieht, findet der geplante Erlass positive Zustimmung. Das jüdische Volk hat also bis Weihnachten das Land zu verlassen. Der Exodus beginnt. Und niemand wird für möglich halten, was dann geschieht. Die Folgen werden spürbar sein, und dieses ethnisch gesäuberte Utopia wird sich diese Freiheit wohl ganz anders vorgestellt haben.

Wirklich spannend an Die Stadt ohne Juden ist neben einer prophetischen Grundstimmung vor allem auch die Tatsache, dass dieses Werk lange Zeit als verschollen galt. Die letzte Aufführung des Filmes, die kontrovers diskutiert wurde, fand 1933 statt. Dann: nichts mehr, knapp 60 Jahre lang. Bis 1991 im Filmmuseum der Niederlande eine der letzten Kopien gefunden wurde. Die Qualität ließ zu wünschen übrig. Doch es wird noch besser kommen. Wir schreiben 2015, Paris. Auf einem Flohmarkt findet ein Filmsammler eine weitere Rolle und übergibt sie dem Österreichischen Filmmuseum, das folglich das Budget zusammenkratzen konnte, um eine vollständige Restaurierung zu starten. Entstaubt, gereinigt, neu vertont und in Duplex eingefärbt, wie zuvor schon Fritz Langs Metropolis oder Das Wachsfigurenkabinett, beides Beiträge des expressionistischen Films wie eben Breslauers Werk. Es ist ein klarer, vielleicht zu stark vereinfachter, aber energischer Blick zurück in das mahnende Denken der Liberalen. Man kann auch sagen eine Art Denkmal, vielleicht gar eine Hymne auf das jüdische Volk und eine Predigt gegen das aufkeimende Hitlerdeutschland, dass sich Anfang der 30er längst festgesetzt hat. Wir sehen Szenen auf den Gassen und Straßen Wiens, mitunter klar erkennbar das aufgebrachte Volk direkt vor dem Volksgarten. Die Outdoor-Szenen sind ungewöhnlich dokumentarisch, ihrer Zeit geradezu voraus. In dieses turbulente Geschehen mischt sich ein bekanntes Konterfei: das des jungen Hans Moser, auf seine Art unverkennbar als kauziger, nörgelnde Grantler, der als Antisemit Bernard letzten Endes den Verstand verliert und in einem bizarren Konstrukt seiner Gedanken als verlorenes Häufchen Elend keine Zukunft hat. Kunstvoll auch die Neuvertonung zwischen stark verfremdeten Wienerlied,  Massenlärm und Kletzmermusik, was die irre Vision Bettauers nochmal unterstreicht. Die Realität hat den Film dann längst eingeholt, und zwar um Lichtjahre. Umso erschreckender der Einblick in den Ist-Zustand von damals, der das Unvorstellbare nur in zumutbaren Ansätzen vorwegnehmen konnte.

Die Stadt ohne Juden

Ad Astra – Zu den Sternen

IM STERNBILD DES VATERS

6/10

 

adastra© 2019 Twentieth Century Fox

 

LAND: USA 2019

REGIE: JAMES GRAY

CAST: BRAD PITT, TOMMY LEE JONES, DONALD SUTHERLAND, RUTH NEGGA, LIV TYLER U. A.

 

Es gibt Filme wie Stanley Kubricks 2001 – Odyssee im Weltraum oder Damien Chapelles Aufbruch zum Mond. Und es gibt Filme wie Ad Astra – Zu den Sternen. Wo genau liegt da jetzt der Unterschied? Dass sich meiner Meinung nach irgendetwas mit Kubricks Meisterwerk aus dem Jahre 1969 vergleichen lässt, halte ich für ein Gerücht. Filme wie diese, die ihrer Zeit Lichtjahre voraus waren, werden gut und gerne als Messlatte herangezogen, als Ideal, dem andere Filmemacher nacheifern möchten, die es bereits ins zeitlose Pantheon der Filmgeschichte geschafft haben. Das soll natürlich gerne so sein, und es gelingt auch tatsächlich das eine oder andere Mal. James Gray hat ähnliches versucht, und er ließ sich nicht nur von Stanley Kubrick inspirieren, der es wie kein anderer zustande gebracht hat, Spiegelungen auf Hemvisieren sphärisch einzufangen. Gray ließ sich auch von den bedeutungsschweren, verbalisierten Gedanken aus dem Off inspirieren, die Terrence Malick gerne nutzt, um die inneren Gefühlswelten seiner Figuren nicht nur im paraverbalen Spiel, sonder auch im gesprochenen Wort herauszuarbeiten. Das hat, klug eingesetzt, natürlich seine Wirkung. Das hat Malick in Der schmale Grat perfekt hingekriegt. In The New World geriet ihm dieser Stil bereits zu inflationär. Aufpassen, heißt es da. Und James Gray musste das auch. Doch so hypnotisch sich diese Multiplikation aus Weltraum, innerer Psyche und philosophischen Fragen auch anfühlt, so leicht kippt das ganze ins Pathetische. Und genau das ist Ad Astra leider passiert.

Obwohl ich dazusagen möchte, dass Ad Astra kein misslungener Film ist. Aber einer, der sich unter großem Ehrgeiz ereifert, so gut zu sein wie die anderen. Da ist Motivation dahinter, da ist Konsequenz dahinter, das sieht man. Da sind Kameraleute am Werk, die ihre Hausaufgaben gemacht haben, und Set-Designer, die einen befremdlichen interplanetaren Alltag aus dem Mond- und Marsstaub gehoben haben. Womit wir bei der staunenswertesten Feinarbeit des Filmes gelandet sind: der Idee, wie die nahe Zukunft aussehen könnte, die uns für viel Geld und auf relativ einfachem Weg auf benachbarte Himmelskörper bringen kann. Außer Paul Verhoevens Total Recall hat sich kaum noch ein anderer Film an ein Szenario wie dieses gewagt. Gray entlässt uns in einen expandierten Ballungsraum Erde, der am Mond genau so seine Wirtschaft ankurbelt wie am Ursprungsort, der mit der Besiedlung des Mars einen Außenposten geschaffen hat, der ungefähr so wirkt wie die Grenzkontrolle zum Sudan. Dort ist meist alles unterirdisch – was der Mensch da errichtet hat, verkommt schon längst wieder zur leblosen Betonwüste Marke Tiefgarage. Dorthin reist also Brad Pitt als vaterloser „Major Tom“, der die Menschheit vor dem Schlimmsten bewahren muss, das ihr vom Neptun aus in Form von Antimateriewellen um die Ohren fliegt. Grund dafür ist womöglich der vor Jahrzehnten verschollene Papa, angeblich noch unter den Lebenden und zu keinem Funkgespräch bereit. Der eigene Filius soll das Problem lösen, er soll Verbindung aufnehmen. Vielleicht ist hier Blut doch noch dicker als die Sturheit eines psychopathischen Weltraumnerds im Nirgendwo. Dabei fürchtet Brad Pitt nicht die Leere zwischen den Planeten, sondern die Chance, seinen Vater zur Rechenschaft ziehen zu müssen. Und Antworten auf Fragen zu bekommen, die womöglich sein Weltbild erschüttern.

Ad Astra ist in erster Linie ein Psychodrama. Dann eine Vater-Sohn-Geschichte. Ad Astra will dann auch noch Weltraumabenteuer sein mit Mondpiraten und havarierten Geisterschiffen. Und, bevor ich es vergesse, will Ad Astra noch philosophische Fragen beantworten, vor allem Fragen nach dem Wert der Gemeinsamkeit, nach dem Wert von Familie und was Heimat eigentlich bedeutet. Da muss ich mich mal hinsetzen, weil das wirklich eine Menge Content ist. Gebündelt werden die losen Enden in der Wahrnehmung eines Filmstars, der so wie Leonardo Di Caprio auch endlich mal zeigen will, was er so draufhat. Pitt ist zwar immer noch ein Stoiker, einer, der ernst, bedächtig und sinnend in die Runde oder ins Narrenkästchen blickt, der dafür aber gute Gründe hat und der innerhalb seines Stoizismus aber auch ordentlich changiert, von innerer Leere bis zu einer in den Weltraum gegreinte Bitternis, wobei er da sichtbar an seine Grenzen stößt. Dennoch  – der Mann war gefühlt seit Fight Club nicht mehr so gut. Und sein Schwermut wirkt echt. Doch was Ad Astra letzten Endes will und auf welche Singularität er seine Reise durchs Sonnensystem bringen möchte, ist ein Nachgedanke über die zukünftigen Werte des Menschen, fokussiert auf den Wechsel der Generationen und dem Loslassen von Daheim. Die Menschheit, so Gray, nabelt sich ab, wenn sie immer weiter vordringt ins Nichts, vergisst dabei vielleicht, woher sie kommt. Sucht, vielleicht vergeblich, nach Etwas, was nichts anderes ist als das, was man zurückgelassen hat. Demnach ist das ästhetisch bebilderte Planeten-Hopping in all seiner Zerfahrenheit und Unschlüssigkeit, was es sein will, nichts anderes als die verkopfte Suche des Menschen nach einer globalen Identität, für die er aber längst noch nicht reif ist.

Ad Astra – Zu den Sternen

Underdog

APOKALYPSE WAU

7/10

 

weissergott2© 2014 Delphi Filmverleih

 

LAND: UNGARN 2014

REGIE: KORNÉL MANDRUCZÓ

MIT ZSÓFIA PSOTTA, ZSÁNDOR ZSÓTÉR, KORNÉL MANDRUCZÓ, LILI HORVÁTH, LILI MONORI U. A.

 

Eben erst haben die diversesten Hunderassen in Wes Anderson´s utopischem Puppen-Mandala Isle of Dogs – Ataris Reise den Aufstand geprobt. Dabei gab es vor einigen Jahren bereits einen anderen, thematisch ähnlichen Film, der das Wesen des Hundes und seine Beziehung zu den Menschen auf eine gesellschaftspolitische Ebene hob. 2014 entstand im filmisch eher kleinlaut tönenden Land Ungarn die allegorische Parabel Fehér Isten, was soviel heißt wie Weißer Gott und hierzulande, also im deutschsprachigen Raum, mit Underdog betitelt wurde. Sowohl die eine als auch die andere Bezeichnung des Filmes ist passend, Weißer Gott trifft es aber eher, und war auch die ursprüngliche Wahl von Regisseur Kornél Mandruczó, dessen neuester Streifen Jupiter´s Moon in den österreichischen Kinos auf ungerechtfertigt wenig Aufmerksamkeit stieß.

Weißer Gott beginnt mit einem postapokalyptischen Szenario – wir sehen ein menschenleeres Budapest, verlassene Autos, deren Blinker immer noch an sind. Plötzlich ein Mädchen auf dem Fahrrad. Wäre das verlassene Auto nicht, könnte die Radlerin auch an einem Sonntag sehr früh aufgestanden sein – doch Sekunden später wissen wir, dass dem nicht so ist. Das Mädchen wird verfolgt von einer nicht enden wollenden Meute wilder Hunde. Die Aggressoren haben aber auch wirklich jeden Grund dazu, wütend zu sein. Im Zentrum steht die Promenadenmischung Hagen, die vom Vater der pupertären Lili erstmal nur gebilligt, dann missbilligt und folglich am Rande von Budapest ausgesetzt wird. Auf der verzweifelten Suche nach Nahrung kommt der Shar Pei-Retriever-Mischling tatsächlich in Teufels Küche, wo er Hackebeilen ausweichen muss. Wie ein vierbeiniger Oliver Twist wird der Hund fortan von einem Peiniger zum Nächsten gereicht, vom Sklaventreiber zum Hundekampftrainer. Zwischendurch müssen er und seine Leidensgenossen vor den Hundefängern flüchten, die wenig zimperlich ihre Arbeit erledigen wollen. Der Mensch, so erfährt Hagen, ist ein sadistisches, knechtendes Scheusal. Machgierig, eigennützig, erbarmungslos. Viel braucht es nicht mehr, und die ausgestoßenen, weil gemischtrassigen Vierbeiner tun sich zusammen – um dem „Weißen Gott“ zu zeigen, dass der Spieß sehr schnell umgedreht werden kann.

Immer noch ist der Hund ein Raubtier. Ein domestiziertes zwar, aber im Grunde seines Wesens ein archaisches Kraftpaket, schnell und wendig und mit einem Gespür für jene Angst, die von ihren Herren ausgeht. Mundruczó distanziert sich bewusst von den anthropomorphisierten Darstellungen von Hunden, die vor allem in Hollywood und insbesondere bei Disney gang und gäbe sind. Seine tierischen Stars können weder sprechen noch tun sie Dinge, die Menschen ihnen gerne andichten. Das einzige was sie tun, ist, sich zusammenrotten und gezielten Terror verbreiten. Spätestens hier wird Weißer Gott zur mysteriösen Chronik eines Ausnahmezustandes, der so unmöglich tatsächlich passieren kann und der endzeitliche Tendenzen aufweist, diese aber nicht wirklich bis zu letzten Konsequenz auslebt. Die Eroberung Budapests bleibt aus, die Zuspitzung ins Bizarre wäre womöglich misslungen, als mögliches, weil vielleicht gar nicht gewolltes Pamphlet gegen die Ideale einer Victor Orban-Regierung funktioniert Weißer Gott aber auch so, wenn auch entschärft. Obwohl in Anbetracht der Wiederwahl eines Rechtspopulisten eine nachhaltig tierische Pedigree-Revolution wohl noch mehr befreiender Zündstoff gewesen wäre.

Weißer Gott ist eine stringente Parabel auf Rassismus, Unterdrückung und Ignoranz. Nimmt sich viel Zeit, um zu beobachten und lässt sich nicht drängen, die Initiative ergreifen zu lassen, trotz all der animalischen Wut, die den Zuschauer befällt. Dass angesichts all dieser teils heftigen Tierszenen wirklich keine Hunde zu Schaden gekommen sind, wie nach jedem Film pflichtgemäß im Abspann deklariert wird, ist kaum zu glauben. Gut, mit Hunden lässt sich so manches Kunststück bewerkstelligen. Hunde sind angefangen von Benji bis zu Lassie die wohl dankbarsten tierischen Darsteller – weil sie sich perfekt abrichten lassen, weil sie lernen und gehorsam sind. Doch Vorsicht an alle Hundeliebhaber und all jene, die gerne Hundefilme wie Beethoven, Marley & ich, Scott & Huutch oder Pets in ihrer DVDthek wissen – Weißer Gott ist was ganz anderes und wird so manches Frauchen oder Herrchen mit Sicherheit verstören. Ihrem „besten Freund des Menschen“ als indikativer Spiegel der Gesellschaft aber wären sie womöglich dankbarer als zuvor.

Underdog

Isle of Dogs – Ataris Reise

HUNDE, WOLLT IHR EWIG LEBEN?

6,5/10

 

isleofdogs© 2018 Twentieth Century Fox

 

LAND: USA, DEUTSCHLAND 2018

REGIE: WES ANDERSON

MIT DEN STIMMEN (OV) VON BRYAN CRANSTON, EDWARD NORTON, SCARLETT JOHANSSON, KOYU RANKIN, BILL MURRAY, JEFF GOLDBLUM U. A.

 

Ihr kennt doch alle diese Bücher, die meist irgendwelche Märchen erzählen, und die, wenn man sie aufmacht, eine ganze Landschaft oder auch ganze Interieurs entstehen lassen, fein säuberlich aus Karton gestanzt, in mehreren Ebenen hintereinander montiert, um Tiefe zu simulieren. Meist lassen sich solche Bücher auf Floh- oder Weihnachtsmärkten finden. Die Produktion solcher Pop-Up-Bücher ist immens aufwendig, meist in Kleinauflage, und dementsprechend teuer. Der neue Film des in seinem Stil unverkennbaren Wes Anderson fühlt sich vergleichbar an. Wie eines dieser Bücher, mit nur wenigen Seiten, die aber im Querformat am Tisch liegend sachte geöffnet werden, bei jeder Seite ein staunendes Aufseufzen des Betrachters. Akribisch sucht der Leser jeden Winkel des staubfrei geschnittenen Sammelsuriums liebevoller Details ab, um natürlich nichts zu versäumen. Denn allzu oft will der Bucheigner sein Kunstwerk nicht vorführen müssen – oder gar selbst die fragilen Seiten zerlesen. Welch ein Glück aber auch – die Parabel Isle of Dogs – Ataris Reise ist nur ein Film, und ein Film lässt sich immer und immer wieder ansehen, ohne Abnützungserscheinungen. Was ratsam wäre, wie bei allen Filmen von Wes Anderson, denn die akkurate Perfektion des unheilbaren Perfektionisten lässt sich nicht auf einmal in seiner Gesamtheit erfassen.

Trickfilme sind eine Sache, Isle of Dogs eine andere. Und vergleichbar mit gar nichts. Angesiedelt in einem Japan der nahen Zukunft, wird die fiktive Stadt Megasaki von einer Hundeplage heimgesucht, die allerlei Krankheiten mit sich bringt, denen sich der Mensch nicht mehr erwehren kann. Megasakis Bürgermeister macht kurzen Prozess – und lässt alle Hunde, ob Streuner oder gepflegter Schoßhund, auf eine vorgelagerte Müllinsel deportieren. Darunter auch den Hund von Atari, dem Mündel des Bürgermeisters. Der 12jährige Junge wagt das Abenteuer seines Lebens – und begibt sich per Flugzeug in die verbotene Zone, um seinen vierbeinigen Freund zu suchen. Nach der unvermeidlichen Bruchlandung und einigen anderen Hunden im Schlepptau macht sich das Mensch-Tier-Kommando auf eine bizarre Reise durch eine postapokalyptische, menschenfreie Welt bis ans andere Ende der Insel.

Wes Anderson schlägt in seiner mit Trommelrhythmen unterlegten Bildgewalt alle seine bisherigen Werke über Längen. Selbst The Grand Budapest Hotel verblasst ein wenig angesichts dieser puppenhausgroßen Tableaus, die Isle of Dogs Szene für Szene vom Stapel lässt. Dabei bleibt nichts dem Zufall überlassen. Jedes Bewegtbild ist das Ergebnis eines im Vorfeld durchdachten, arrangierten Konzepts, auf den Millimeter genau in Position gebracht. Improvisieren ist hier nicht, aus dem Bauch heraus die Leinwand bepinseln – nicht auszudenken. Anderson lässt sich nicht lumpen, am Trickfilm-Set hat alles seine Ordnung. Diese Ordnung unterwirft sich dem Dogma einer beschränkt dynamischen Sachlichkeit, die einem neurotisch sortierten Setzkasten gleicht. Komposition ist alles, den goldenen Schnitt stets bedacht, Ausgewogenheit auf der Schaubühne das Ziel des Visionärs. Seine bewusst verlangsamte Bildfolge bringt den Bewegungsfluss in marionettenhaftes Stocken, was aber genau so gewollt ist und den Zauberkasten namens Leinwand in etwas verwandelt, das nicht unbedingt nur mehr Kino ist, sondern ein unbenanntes Medium dazwischen. Bewegte Miniaturen, projiziert auf Großformat. Anders lässt sich Isle of Dogs nicht betrachten, schon gar nicht im Heimkino, denn da müsste man mindestens knapp einen halben Meter vor dem Bildschirm kauern, damit nichts verloren geht von dieser Fülle an mathematischem Formelreichtum.

Das Ergebnis dieses durchrechneten Arrangierens wirkt seltsam steril. Die kunstvollen Kulissen, davor all die Hunde, die in irrer Optik mal als Close Up, mal weit entfernt einen ungeheuren Raum erzeugen, der die Ebenendynamik von Pop Up Büchern bei Weitem sprengt – das alles ist zugegeben ziemlich virtuos, trotz allem berührt mich die Erwachsenen-Fabel auf Totalitarismus, Hetze und Faschismus nur bedingt. Zu klinisch ist Andersons Bühnen-Ornamentik. Vielleicht auch zu manieriert, jedenfalls von einer statischen, trockenen Pedanterie, die ihresgleichen sucht.

Isle of Dogs – Ataris Reise ist dennoch fraglos ein Kunststück, weit abseits von Gewohntem.

Isle of Dogs – Ataris Reise

Okja

AUF DEN SCHWEINEHUND GEKOMMEN

5/10

 

An Seo Hyun as Mija in OKJA© 2017 Netflix

 

LAND: USA, SÜDKOREA 2017

REGIE: BONG JOON-HO

MIT TILDA SWINTON, AHN SEO-HYEON, JAKE GYLLENHAAL, PAUL DANO, GIANCARLO ESPOSITO, LILY COLLINS U. A.

 

Wie heisst es doch so schön: Überwinde deinen inneren Schweinehund! Was sich aber jeder von uns wahrscheinlich irgendwann mal gefragt hat: Wie sieht denn so ein Schweinehund eigentlich aus? Und wäre es nicht besser, ihn bei sich aufzunehmen als loszuwerden? Die Antworten darauf hat womöglich der südkoreanische Filmemacher Bong Joon-Ho hier parat, leidet doch in seiner neuen Kinovision die Menschheit der nahen Zukunft unter akutem Versorgungsnotstand. Mit anderen Worten: das Fleisch wird knapp. Kein Problem, denkt sich da ein multinationales Unternehmen namens Mirando mit Sitz in den USA. Freudig offenbart die bis zur Selbstpersiflage grotesk entstellte Tilda Swinton bei einer Pressekonferenz die Lösung aller Probleme – mit dem eben erst entdeckten Superschwein, angeblich aus dem Dschungel Südamerikas. In Wahrheit aber eine gentechnisch hochgezüchtete Kreuzung aus Nilpferd, Nashorn und Dackel – wie ein Schwein sieht das Ungetüm nicht aus. Und viel größer ist es auch. Eines dieser extrem wohlschmeckenden Tiere weilt zur Aufzucht im Hochland Südkoreas, unter der Obhut eines Mädchens namens Mija. Dem treu dreinblickenden Waldelefanten mit den Hängeohren, der auf den Namen Okja hört, verleidet die selige Ruhe zwischen Bächen, Moosen und Bäumen ein Fernsehteam mitsamt Mirando-Anhang, die der sprichwörtlichen eierlegenden Wollmilchsau das Zertifikat des Superschweins verleihen wollen.

Klar, dass das ganze Tohuwabohu rund um dieses Allzweck-Vieh ordentlich Schweinereien hinterlässt. Ein medialer Trubel, der sich quer über den Globus bis nach New York spannt. Als bizarre Gallionsfigur Jake Gyllenhaal, der bis zum Exzess überzeichnet als Karikatur eines Steve Irwin die Nerven und den Selbstwert schmeißt. Ganz im Gegensatz zur kleinen Mija – das Mädel zeigt, wie Tierliebe wirklich aussieht, und wie man sich für seinen Schweinehund gebührend einsetzt, wenn es droht, abhanden zu kommen. Zum Glück oder Unglück ist da noch die Parodie sämtlicher Greenpeace-Aktivisten, die dem Gen-Terror das Wilde runterräumen wollen und das Superschwein als Köder in den Keller des Konzerns schicken. Somit sind alle möglichen, latent hysterischen Parteien am Laufen und Trudeln. Das liebevoll animierte Schwein schlägt sich wacker quer durch Seouls Straßen. In einem Film, bei dem Bong Joon-Ho sicher enorm viel Spaß gehabt haben muss.

Denn kopflastig ist Okja nicht geworden. Im Grunde ist es eigentlich ein Tierfilm, ja sogar eine Art Familienfilm, wenn man von einigen Gewaltspitzen absieht. Vorsetzen würde ich ihn meinem Nachwuchs trotzdem nicht. Dafür sind Joon-Ho´s Filme stilistisch viel zu fordernd. Wer seinen viel gerühmten Korea-Kassenschlager The Host kennt, weiß, wie sehr sich Joon-Ho´s Filme aus dem Fenster lehnen und sich selten um einheitlich emotionale Färbung scheren. Aber ganz genau das ist das Bemerkenswerte an diesem Kino aus Fernost. Sowohl schrillen Slapstick als auch gefühlvolle Momente bilden einen ineinandergreifenden Schulterschluss, verbunden durch das märchengleich Parabelhafte, dass seinen Werken inhärent ist. War The Host allein aufgrund seiner Sprache bemerkenswert, hat mich die Railway-Dystopie Snowpiercer komplett vom Hocker gehauen. Besser lässt sich zivilisationskritische Social-Fiction kaum auf die Leinwand zaubern. Klar ist die Erwartungshaltung folglich sehr hoch – und ich will nicht sagen, dass Okja im Vergleich dazu ziemlich enttäuscht. Doch das utopische Öko-Abenteuer rund um ein Mastvieh, das gerne in Glück und Zufriedenheit wie ein argloses Meerschwein durch den Tann streifen will und nicht darf, ist Joon-Ho´s bislang simpelster Film geworden. Kaum kontrovers, nur bedingt berührend, um nicht zu sagen tatsächlich etwas flach. Vielleicht ist der Genremix etwas wüst geraten, und soviel Lob für die bisherige Werkschau tut selten gut. Meist wirkt Okja so, als würde es mehr wollen, sich selbst aber im Weg steht und das Potenzial der Geschichte nicht ausschöpft.

Was zurück bleibt ist der schale Geschmack eines Abenteuers Marke Lassie oder Flipper, die Erinnerung an den x-ten Aufguss einer stereotypen Free Willy-Dramödie. Beim genauen Hinsehen ist es das aber nicht, es würde viel mehr Satire dahinterstecken, ohne allerdings hervorzutreten. Okja als schaumgebremste Tragikomödie zu bezeichnen hätte der starbesetzte Film im Grunde nicht verdient. Doch genau diese Essenz bleibt letztlich über, nebst den treuen Augen des dicken Dings, das den Film natürlich lohnt, wenn man Dickhäuter und Hunde mag. Klar, dass Okja keiner weggeben will. Würde ich auch nicht. Angesichts des holprigen Drumherums von Film allerdings wäre die Übersiedlung in einen spannenderen filmischen Kontext aber durchaus denkbar.

Okja