The Room Next Door (2024)

DABEISEIN IST ALLES

7/10


theroomnextdoor© 2024 Warner Bros. Pictures


LAND / JAHR: SPANIEN 2024

REGIE: PEDRO ALMODÓVAR

DREHBUCH: PEDRO ALMODÓVAR, NACH DEM ROMAN VON SIGRID NUNEZ

CAST: JULIANNE MOORE, TILDA SWINTON, JOHN TURTURRO, ALEX HØGH ANDERSEN, ESTHER MCGREGOR, VICTORIA LUENGO, JUAN DIEGO NOTTO, RAÚL ARÉVALO, ALESSANDRO NIVOLA U. A.

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Krankheit und Tod sind Themen, die selten ins Kino locken, will man Zerstreuung finden. Sie locken vielleicht ins Kino, um Schauspielgrößen dabei zuzusehen, wie sie als akribisch interpretierte Filmfiguren mit ihrer Endlichkeit klarkommen müssen. Mit Schmerz, Verlust und dem Herbst des Lebens womöglich mitten im Sommer. Meistens ist das schwermütiges Kino. Taschentücher sind in Griffnähe und Vorsicht davor geboten, im vielleicht sogar sentimentalen Morast zu versinken. Wie ein Stein im Magen liegen solche Filme. Nicht aber bei Pedro Almodóvar, seit Jahrzehnten schon im Filmgeschäft und bereits sämtliche Meisterwerke in seinem Oeuvre wissend, die eine gewisse Zeitlosigkeit genießen. Almodóvars Werke lassen sich ausschließlich anhand seiner Settings und vor allem seiner Farbtafeln erkennen. Dieser Kunst des komplementären Colorings in Szenenbildern und Kostümen verschreibt er sich auch in seinem neuesten Werk The Room Next Door. Und viel wichtiger als der tieftraurige Kloß im Hals, den man empfindet, wenn gute Freunde diese Welt verlassen, scheint ihm die erlesene Bildsprache allemal zu sein.

Den Stein im Magen lässt Almodóvar also anderen. Die wandelbare Tilda Swinton und die stets im Schauspielkino fest verankerte Julianne Moore müssen ihn auch nicht schlucken. Beide sind nicht dafür bekannt, zu Sentimentalitäten zu neigen oder sich in schmerzhaften Schicksalen zu verbeissen, obwohl Moore sich ab und an dazu hinreissen lässt, die Hysterikerin zu geben. Nicht so in diesem Film. Swinton und Moore sind zwei Freundinnen von früher, die sich nach langer Zeit wiedersehen. Gerade noch zur rechten Zeit, denn Swintons Figur der Martha ist an Gebärmutterhalskrebs erkrankt, wofür sie sich im Krankenhaus diversen Chemo- und Immuntherapien unterzogen hat. Von Selbstmitleid ist anfangs keine Spur bei der ehemaligen Kriegsreporterin, die alles schon gesehen hat auf dieser Welt, jedes Gräuel und allerlei schreckliche Tode. War der Krieg schon deren Arbeit, führt sie den letzten mit sich selbst. Und wünscht sich für einen selbstbestimmten Abgang Ingrid an ihre Seite, die nichts anderes tun muss als nur dabei zu sein, wenn Martha jene todbringende Pille schluckt, die sie aus dem Darknet erstanden hat.

Almodóvar zäumt das Pferd zwar nicht von hinten, nimmt aber längst nicht den direkten Weg, um zum Kern seiner Geschichte vorzudringen. Viel lieber hält er sich damit auf, beide Frauen erst einmal kennenzulernen. Was sie antreibt, was sie ausmacht, was sie verbindet. Dabei kippt The Room Next Door in eine melodramatische und recht plakative Nebengeschichte, die das Schicksal des für Marthas Tochter unbekannten Vaters bebildert. Es ist, als passe diese verästelnde Abkehr vom eigentlichen Erzählstrang nicht in dieses Konzept, genauso wenig manch fachsimpelnder Dialog über Kunstgeschichte, der letztlich nichts zur Handlung beiträgt. Und dennoch: dieses Konterkarieren der Erwartungen, dieses Hinhalten des eigentlichen Themas, macht etwas mit der Wahrnehmung und mit der Akzeptanz der eigentlichen, vielleicht gar eitlen Problematik zweier Damen aus dem intellektuellen Establishment, die jede für sich den Tod als etwas gänzlich anderes sieht. Letztlich hat dieses Mäandern einen Sinn, auch John Turturros Auftritt als Klima-Poet, der über das Ende der Welt rezitiert. Das Wichtigste dabei aber ist es, egal in welcher Lebenslage, ausschließen zu können, allein zu sein. Der Mensch ist dafür nicht geschaffen. Das Teilen von Meinungen, der Austausch von Empfindungen, das Interagieren mit einem Gegenüber erklärt Almodóvar als die Essenz menschlichen Glücks. All seine scheinbar überflüssigen Nebenszenen spiegeln doch nur die Lust am Zu- und Miteinander wider. Da wird das Thema rund um Sterbehilfe oder Tod zu einem Thema unter vielen anderen.

Interessant, dass es Almodóvar gar nicht darum geht, den illegalen Weg des Freitods zu bewerten oder zu analysieren. Er bleibt eine austauschbare Begrifflichkeit für einen Ist-Zustand in einer Welt der Lebenden und der Toten, der mit der Gewährleistung eines Miteinanders, um die Einsamkeit zu vernichten, alles hat, was er braucht.

The Room Next Door (2024)

80 Plus (2024)

DAS SCHICKSAL ÜBERHOLEN

7/10


80 Plus© 2024 Orbrock Film/ Tivoli Film/ Jovan Stevanovic


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2024

REGIE / DREHBUCH: SABINE HIEBLER, GERHARD ERTL

CAST: CHRISTINE OSTERMAYER, MARGARETHE TIESEL, MANUEL RUBEY, LAURA HERMANN, JULIA KOSCHITZ, THOMAS MRAZ, PETRA MORZÉ, JULIA JELINEK, STEFANIE SARGNAGEL, REINHARD NOWAK, DAVID SCHEID, GÜNTER TOLAR U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Die Jungen werden es nie verstehen. Oder doch? Wenn man alt wird, erweckt man seltsamerweise stets den Eindruck, immer knapp vor der Entmündigung zu stehen. Warum man als Greisin oder Greis nicht mehr das tun darf, was man will, liegt an unreflektierten Glaubenssätzen, die stets Demenz, Verwirrtheit und Arthritis in ihrem Wortschatz wissen. Die Jungen wollen dann für die Alten nur das Beste, in Wahrheit aber für sich selbst – aufgrund von Schuldgefühlen, falschem Gewissen oder einfach nur aus Eigennutz. Warum im Alter Selbstbestimmung so schwer zu erkämpfen ist und wie sich diese aber einfordern lässt, davon erzählt ein launiges und beherztes Roadmovie quer durch Österreich. Das klingt nun recht simpel, vielleicht auch vorhersehbar. Doch da ist noch eine andere Ebene, eine viel wichtigere Botschaft, die auch als Gebrauchsanweisung verstanden werden kann.

Denn nicht nur ums hohe Alter geht es hier, sondern natürlich auch um den Tod, der sich am Ende aller Lebensstraßen letztlich abzeichnen wird und den Helene bereits ausmachen kann. Der ehemalige Kinostar mit Stil und Noblesse hat sich dank des Erlernens sämtlicher Bühnen- und Filmrollen eine so gepflogene Aussprache angeeignet, dass man sich selbst dabei vorkommt wie ein röhrender Urmensch. Helene hat Krebs und hat die Krankheit schon einmal in ihre Schranken verwiesen, doch jetzt ist sie wieder da. Noch einmal diese schwere Therapie über sich ergehen zu lassen, ist keine Option. Von daher winkt das Nachbarland Schweiz, in welchem Sterbehilfe straffrei in Anspruch genommen werden kann, sind die Parameter dafür erfüllt. Das Problem: Helene sitzt in einer Seniorenresidenz und ist in ihrer Mobilität eingeschränkt, überdies quält sie ihr Neffe (ambivalent: Manuel Rubey) mit scheinbar fürsorglichen Sanktionen. Womit er nicht gerechnet hat: Zimmernachbarin Margarete Tiesel als Toni. Sie ist das genaue Gegenteil zu Diva Helene, ist bodenständig, urwienerisch und raucht wie ein Schlot. Es sieht niemals danach aus, als würden die beiden einen gemeinsamen Nenner finden, doch in Paul Harathers Indien gaben Alfred Dorfer und Josef Hader ebenfalls zwei wie Tag und Nacht. Ein Film wie dieser lebt davon, das sich Gegensätze anziehen und schließlich ergänzen. Und so suchen beide mit dem Oldtimer Helenes das Weite Richtung Westen, während Neffe Rubey und später auch die Polizei den beiden im Nacken sitzen. Klingt nach Thema & Louise? Vielleicht ein bisschen. Das Alter sollte dabei keine Unterschiede machen.

Nicht alles in 80 Plus ist, wie vermutet, vorhersehbar. Und auch wenn es das wäre: Christine Ostermayer und Margarete Tiesel sind das neue Dreamteam am österreichischen Filmhimmel. Beide spielen ihre Rollen mit Hingabe, erfrischender charakterlicher Kontinuität und einer Sympathie füreinander, die über den Dreh hinausgehen muss. Die 88jährige Ostermayer strahlt vor Schönheit und Anmut – die Dame hat Stil bis in die Fingerspitzen, sie weiß auch den Frust und den Drang ihrer Figur in der richtigen Balance zu halten und entsprechend auf Tiesels eher rabiatere Lebenseinstellung einzugehen. Tiesel wiederum, bekannt aus Ulrich Seidls Paradies: Liebe, gibt sich als scheinbar lebensfrohes, bodenständiges Original, das sich als Genussmensch mit Hang zur Autoaggression dem Hier und Jetzt verschrieben hat. Damit stehen zwei Philosophien anfangs gegeneinander, um später einander zu bereichern: Das Innehalten in der Gegenwart und das Versöhnen mit einer nicht mehr fernen Zukunft. Beides könnte einen Lebensabend voll innerer Zufriedenheit garantieren, trotz so mancher Dunkelheit, die sich anbahnt oder längst da ist. Worauf es dabei ankommt, um auch damit fertigzuwerden, bringen Sabine Hiebler und Gerhard Ertl (Sargnagel – Der Film, Anfang 80) auf traditionelle, wenn nicht gar deutlich konventionelle, aber entwaffnend liebenswürdige Weise ihrem Publikum in klar verständlicher Chronologie näher. Es ist nichts, was wir nicht ohnehin schon gewusst hätten, zumindest in der Theorie. Hätte Manuel Rubeys Filmfigur Josef diesen Film gesehen, würde er mir zustimmen. Doch die Praxis ist immer anders, spätestens dann weiß man es nicht mehr besser, sondern ist mittendrin. Vielleicht wirken Filme wie diese deswegen so selbstverständlich in ihrer Conclusio.

Dass 80 Plus auch Tränen mit sich bringt und sich zu Sentimentalitäten hinreissen lässt, die in trivialeren Fernsehformaten meist besser funktionieren, mag man skeptisch betrachten. Gefühle richtig darzustellen, ohne sie zu verseifen, ist schwierig. Hiebler und Ertl retten sich aber schnell wieder da raus, somit sei gesagt: Keine Scheu vor Alter und Tod, schon gar nicht in diesem Film, in welchem es dann doch viel mehr um das Leben geht.

80 Plus (2024)

Liebe

BIS DASS DER TOD UNS SCHEIDET

7,5/10


Liebe© 2012 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH 2012

BUCH / REGIE: MICHAEL HANEKE

CAST: EMMANUELLE RIVA, JEAN-LOUIS TRINTIGNANT, ISABELLE HUPPERT, ALEXANDRE THARAUD, WILLIAM SHIMELL, RITA BLANCO U. A.

LÄNGE: 2 STD 7 MIN


Zehn Jahre hat es gedauert, bis ich mich imstande sah, mir Michael Hanekes wohl erfolgreichstes filmisches Werk zu Gemüte zu führen. Liebe ist schließlich kein Streifen, welchem man sich einfach so zwischendurch oder gemütlich, nach einem anstrengenden Tag, aussetzen möchte. Liebe ist auch nichts zur Unterhaltung oder zur Zerstreuung, sondern etwas, das dem Zuseher eine gewisse Bereitschaft abverlangt, das zu Sichtende entsprechend zu fokussieren. Das Kammerspiel um die Opferbereitschaft von zwei alten Menschen birgt überdies Inhalte, die so sehr mit dem realen Alltag zu tun haben, dass man selten bereit dazu sein mag, die eigene Freizeit mit derlei Problemen zu belasten. Denn wer kennt sie nicht: die eigenen Eltern oder Großeltern, daheim oder im Heim darniederliegend und wartend auf das Grande Finale, auf den Wechsel vom Diesseits in eine andere Daseinsform, weil das Diesseits überhaupt nichts mehr besitzt, wofür es sich zu atmen lohnt. Da sind eine ganze Menge Emotionen mit im Spiel, Trauer und Verlustangst, bittere Melancholie und vielleicht auch Wut. Vor allem aber Verzweiflung und Tränen. Diese alten Menschen hier könnten frappante Ähnlichkeiten mit der eigenen weiter gefassten Biographie aufweisen – doch das sind nur Zufälligkeiten. Nicht aber für Michael Haneke selbst, der seine Geschichte autobiographisch gefärbt hat. Und man darf sich von einem nicht in die Irre führen lassen: dass Haneke, der mit vielen seiner Filme schon verstört hat, dieser Ambition auch nicht immer folgen will. Das verhält sich so ähnlich wie David Lynch und seinem tragikomischen Ausreißer The Straight Story. Auch Lynch kann anders – warum nicht auch Haneke? Und dem ist auch tatsächlich so: Liebe ist des Meisters zugänglichster und behutsamster Film. Er schockiert nicht, übertreibt nicht und quält nicht. Er mag zwar in seiner fortlaufenden Handlung radikale Maßnahmen ergreifen, doch je genauer man diese betrachtet, um so mehr setzt Liebe auf eine nonkonforme, aber nüchtern betrachtet zutiefst humane Schrittsetzung. 

Haneke, der gerne französisch filmt, vereint in einer noblen Wohnung irgendwo nahe des Zentrums von Paris ein Leinwandehepaar, deren Namen Filmkenner in den Ohren klingeln: Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva (Durchbruch mit Alain Resnais Hiroshima, mon amour). Für beide dürfte dieses Konzept eines um die elementarsten Dinge des Lebens handelnden Kammerspiels ein Anliegen gewesen sein – vielleicht auch, um eigene Ängste und Sehnsüchte zu verarbeiten. Beide lassen, sofern sie diese je gehabt haben, Eitelkeiten und Allüren vor der Haustür und sind, was sie sind: aufs Wesentliche reduzierte Liebende. Evira, deren Schauspiel hier kaum zu toppen ist, gibt die pensionierte Klavierlehrerin Anne, die eines Morgens am Frühstückstisch einen Schlaganfall erleidet – dies führt zu einer missglückten Operation, die den verheerenden Fortschritt einer solchen Krankheit letztlich auch nicht aufhalten kann. Anne ist halbseitig gelähmt und wird zum Pflegefall, will aber partout in kein Krankenhaus. Georges respektiert dies, will seine bessere Hälfte auch nicht umstimmen, und tut, was in seiner Macht steht, um seine Lebenspartnerin im letzten Abschnitt ihres Daseins zu pflegen. Was sogar machbar gewesen wäre, würde es nicht rapide bergab gehen. In diesem degenerativen Mahlstrom sieht sich Georges gezwungen, zum Äußersten zu greifen. Im Sinne seiner großen Liebe.

Es gestaltet sich schwierig, einen Film, der von Kritikern lobgepriesen und mit Auszeichnungen überhäuft wurde, unvoreingenommen zu betrachten. Sind da andere Meinungen überhaupt möglich, ohne dass impliziert werden kann, diese Art Kunst nicht verstanden zu haben? Diese Frage muss ich mir zum Glück nicht beantworten – Liebe ist ein präzise ausformuliertes, streng komponiertes Ereignis und soweit vom Kitsch und anderen Sentimentalitäten entfernt, dass man diesen Film fast schon einem anderen Genre zuordnen möchte. Michael Haneke ist ein Meister der Reduktion – hier treibt er das Weglassen offensichtlicher narrativer Elemente an die Spitze. Seiner Vorliebe für das indirekte Spiel, Stimmen außerhalb des Blickfelds und halb geöffneten Türen gewährt er die Chance, ein strenges Alphabet zu kreieren, dass nichts dem Zufall überlässt. Bleiben Emotionen da außen vor? Zumindest solche, die aus Mitgefühl Mitleid heischen würden. Daher ist Liebe kein bleiernes Bestürzungsdrama, sondern unerwartet schwerelos und leicht, pragmatisch und von endgültigen Entscheidungen geprägt. Hanekes Film ist eine Begegnung mit dem Schicksal, ohne dieses zu verachten. Und genau in dieser Methode liegt überraschend viel Trost.

Liebe

Euphoria

STIRB AN EINEM ANDEREN TAG

5/10

 

euphoria© 2018 Wild Bunch

 

LAND: SCHWEDEN, DEUTSCHLAND, GROSSBRITANNIEN 2017

REGIE: LISA LANGSETH

CAST: ALICIA VIKANDER, EVA GREEN, CHARLOTTE RAMPLING, CHARLES DANCE, ADRIAN LESTER U. A.

 

Zum cineastischen Fastenprogramm abseits vom Leben und Sterben Jesu lassen sich natürlich auch Werke zählen, die sich mit Glauben und Kirche auseinandersetzen – und ganz schlicht und ergreifend mit dem Thema Tod, auch wenn der Sensenmann seine eigentlichen Feiertage von Halloween bis Allerseelen hat. Aber macht nichts. Besinnlich darf und kann man diese Woche ja durchaus sein, wenn einem danach verlangt, als Gläubiger oder auch als Agnostiker, das ist ganz gleich. Der Tod ist sowieso konfessionslos und bietet so viel Stoff, da ist für jeden etwas dabei. Wie zum Beispiel ein Film über das sowieso recht brisante und streitbare Thema der Sterbehilfe.

Die gibt’s bei uns nicht, das ist klar. Die gibt’s in der Schweiz, soweit ich weiß. Sterbehilfe ist hierzulande immer noch Mord, egal wie schlecht es dem oder der zu Sterbenden geht. Das eigene Recht auf den Freitod könnte ein Grundrecht sein, könnte Freiheit bis zum Ende bedeuten. Das hat schon Richard Dreyfus in Ist das nicht mein Leben zu Tränen rührend eingefordert. Javier Bardem wollte als vollständig gelähmter Seemann in Das Meer in mir auch nicht mehr weiterleben. Bedürfnisse, die nichts für Zwischendurch sind, und für die man sich erst sammeln muss, um sich das Elementarste im Leben als Fallbeispiel zu Gemüte führen zu wollen. Das schwedisch-britische Sterbedrama Euphoria von Autorenfilmerin Lisa Langseth packt die ganze Thematik in einen abendlichternen Ausflug durchs schwedische Grün eines späten Sommers. Und lässt dabei zwei Schwestern nach langer Abstinenz aufeinander treffen, die sich vieles zu sagen hätten, aber nichts mehr voneinander wissen oder auch wissen wollen. Bis die eine draufkommt, dass die andere todkrank ist – und an einem ominösen Ort der Ruhe inmitten nordischer Wälder nach eigenem Ermessen und nach eigener Bestimmung das Zeitliche segnen will. Wie jetzt? Gerade mal wieder gefunden, schon winkt der Exitus? Alicia Vikander, die eine mäßig erfolgreiche Künstlerin gibt, muss diese vollendeten Tatsachen, vor die sie gestellt wird, erst verdauen. Eva Green, unheilbar an Krebs erkrankt, ist sich ihrer Sache sehr sicher, und versteht die ganze Entrüstung nicht. Erinnerungen von damals poppen auf, das Leid einer Familie von früher wird zur Prüfung beider Seelen, die mit Vorurteilen und Beschuldigungen nur so um sich schmeißen und erst mal lernen müssen, wie gute Kommunikation im Selbsthilfe-Rest einer Familie überhaupt funktioniert.

Der ganze Film erinnert an die existenzialistischen, melancholisch-düsteren Werke, vor allem Spätwerke eines Ingmar Bergmann. Schach mit dem Tod wird hier zwar nicht gespielt, aber das Flanieren im Vorhof zum Paradies wird zur romantischen Akklimatisierung auf das Jenseits. Wenn all die Freitod-Touristen hier durch íhr letztes bisschen Leben schlendern, wenn „Tywin Lennister“ Charles Dance noch einmal groß die Sau rauslässt, ganz im Stile von Klaus Maria Brandauer aus Jedermanns Fest, dann ist die Todessehnsucht keine geringe. Dann wird Euphoria zu einem Märchen für Mieselsüchtige, die ihre letzte Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod verwetten. Oder die letzteres gar nicht brauchen, weil die Stille, die folgt, vielleicht das Erholsamste ist, was man sich vorstellen kann. Charlotte Rampling gibt das Mädchen für alles, was das Klientel der Übergänger noch benötigt. Vom üppigen Frühstück bis zum Glockenläuten, der den nächsten Dead Man Walk für Freiwillige ankündigt.

Euphoria ist trotz seines tröstenden, morbiden Ambientes, trotz seiner Waldesruh in Thomas Mann´scher Manier, in welcher der Tod sein Tässchen Tee trinkt, ein unerquicklich trister Film. Eva Green will partout nicht mehr leiden müssen, und Vikander leidet wegen ihrer Versäumnisse aus frühen Jahren. Das Ganze ist schon sehr viel Kümmernis, sehr viel Selbstmitleid, aber mit kaum Mitleid für die, die sich dem Ende stellen. Letzten Endes werden es nicht alle tun, denn das Leben hat für manche noch die Reboot-Taste parat. Für viele aber ist es der letzte Gang – womit wir wieder bei der Karwoche wären, die Freitags entlang der Via Dolorosa in Richtung Zukunft marschiert. Die Euphorie kommt erst 3 Tage später, wie wir wissen – in Langseths Film eigentlich gar nicht.

Euphoria

Arthur und Claire

AMSTERDAM SEHEN… UND STERBEN?

7/10

 

arthurundclaire© 2018 Tivoli Film – Wolfgang Amslgruber

 

LAND: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND, NIEDERLANDE 2018

REGIE: MIGUEL ALEXANDRE

MIT JOSEF HADER, HANNAH HOEKSTRA, RAINER BOCK U. A.

 

Für alle, die den österreichischen Kultfilm Indien von Alfred Dorfer und Josef Hader aus dem Jahr 1992 nicht kennen, sei er dringend ans Herz gelegt. Dort gibt der noch sehr junge Kabarettist Hader mit Kinnbart einen vereinsamten Restauranttester, der durch die Ödnis Ostösterreichs tingelt und eine bittersüße Zweckfreundschaft fürs Leben findet. Jetzt ist der latent griesgrämige „Woody Allen“ Österreichs im besten Sinne zumindest ansatzweise zu seiner Paraderolle des lebensüberdrüssigen Einzelgängers zurückgekehrt. Allerdings gibt Hader diesmal nicht den Biedermann wie in Indien – seine Figur stammt aus anderen, gehobeneren Kreisen der Gesellschaft, ist aber nicht weniger ausgestoßen.

Der Charakter des Unsozialen mit ausgeprägtem Sinn für Zynismus zur richtigen Zeit steht dem stets blassnasigen Schauspieler mit dem Wiener Schmäh und dem unverkennbaren Sprachklang ganz ausgezeichnet. Überhaupt ist sein Arthur die wohl beste und sehenswerteste Performance seit Langem – da ist ihm Stefan Zweig im Exil aus Vor der Morgenröte längst nicht so gut gelungen. Den Dichter und kritischen Denker zu spielen ist auch offen gesagt eine ziemlich schwierige Aufgabe. Da fällt die Rolle des Arthur schon leichter, trotz der immensen Schwere des Schicksals, die ihn nach Amsterdam führt.

Den Freitod will er wählen, ganz offiziell. In ausgeschlafenem Zustand und mit Giftspritze. Dass am Abend davor das Schreiben des Abschiedsbriefes aufgrund von Unruhestörung im Nachbarzimmer des Hotels so gar nicht gelingen will, wird aber zum unbequemen Anfang von etwas, dass sich fast schon Fügung nennt. Denn Claire, die will ihrem Leben auch ein Ende setzen. Wogegen Josef Hader – in der womöglich intensivsten und virtuosesten Szene des Filmes – ordentlich dagegen interveniert – und sich beide zuerst wiederwillig, aber dann immer hilfesuchender, näherkommen.

Der Portugiese Miguel Alexandre (Der Mann mit dem Fagott), der mit Josef Hader gemeinsam auch am adapierten Drehbuch schrieb, ist eine Tragikomödie par excellence gelungen. Eine mal zutiefst traurige, mal urkomische Romanze, die unerwartet leicht von der Hand geht und fast schon so natürlich und launig durch die Krachtenstadt gondelt, als wäre Arthur und Claire eine französische Komödie. Zwischendurch blitzt immer wieder Haders ganz eigener trockener Humor auf, den seine Filmpartnerin Hannah Hoekstra mit Leidenschaft auffängt. Die niederländische Schauspielerin ist eine bereichernde Neuentdeckung. Ihre Sympathie zu Josef Hader dürfte auf alle Fälle nicht gespielt gewesen sein. Andernfalls wäre der Film ohnehin nicht gelungen, würde die Chemie nicht stimmen. Und der niederländische Dialekt entfaltet vor allem bei Hoekstra ihren liebevoll kauzigen Reiz. Das Sprachkolorit des Tulpenlandes bekommt nicht nur einmal sein Fett weg – Hader nützt jede Gelegenheit dazu.

Arthur und Claire ist Kopf-hoch-Kino zum Mitfühlen, ein urbanes Außenseitermärchen mit ganz viel keckem Charme. Niemals trist, oft trotzig, und in manchen Szenen so aufrichtig ungekünstelt und so direkt aus dem Bauch heraus gespielt, wie man es vor allem von Josef Hader noch nie so gesehen hat. Ausser in Indien vielleicht.

Arthur und Claire