Das Mädchen mit der Nadel (2024)

DAS KINDLEIN WOHL IM ARM

7/10


© 2024 MUBI


LAND / JAHR: DÄNEMARK, POLEN, SCHWEDEN 2024

REGIE: MAGNUS VON HORN

DREHBUCH: LINE LANGEBEK KNUDSEN, MAGNUS VON HORN

CAST: VIC CARMEN SONNE, TRINE DYRHOLM, BESIR ZECIRI, TESSA HODER, AVA KNOX MARTIN, JOACHIM FJELSTRUP, ARI ALEXANDER U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Es ist die Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Europa liegt in einem schwer traumatisierten Dämmerzustand, Millionen junger Männer sind aus ihren Leben gerissen worden. Frauen und Kinder stehen vater- und partnerlos vor dem Nichts, unklar, ob mit einer Heimkehr vom Schlachtfeld noch gerechnet werden kann. In diesem existenzialistischen, kränkelnden Dunst des Notleidens quält sich Karoline, deren Mann wie Schrödingers Katze sowohl als tot wie auch als lebendig gilt, tagtäglich in die Kleidermanufaktur des reichen Unternehmers Jørgen, in dessen Gunst sie steht und der ihr eindeutige Avancen macht. Nicht nur das: Bald schon trägt Karoline sein Kind aus, doch Jørgens herzlose alte Mutter will von dieser Liaison nichts wissen. Die junge Frau wird entlassen, wohin nun mit dem Fötus, der in ihrem Körper heranwächst? Karoline will den quälenden Umstand selbst aus dem Weg räumen, im Zuge dessen kommt die im Titel erwähnte Nadel ins Spiel, doch eine mütterliche Trine Dyrholm als Dagmar, die personifizierte Lösung für alles, bewahrt das verzweifelte Mädchen vor Schlimmerem. Sie weiß, wohin mit dem Kind, wenn es denn einmal da ist, schließlich gäbe es genug wohlhabende Leute, die als Zieheltern ihr großes Los ziehen würden. Was Karoline nicht weiß: Dagmar ist ein Monster.

Diese Figur einer kindsmordenden Psychopathin hat keinen fiktiven Ursprung – eine wie Dagmar Overby gab es wirklich. Magnus van Horn bedient sich dabei einiger biografischer Elemente und erweckt einen nach außen hin sozial integren, dahinter aber erbärmlich kranken Geist zum Leben, der genug heile Welt verspricht, um Karoline an sich zu binden. Ähnlich wie in Patty Jenkins Kriminaldrama Monster, in welchem Christina Ricci nicht von der männermordenden Charlize Theron lassen kann und beide eine Einheit bilden, so sucht die von Vic Carmen Sonne (u. a. Azrael) mit der notwendigen Zerbrechlichkeit, mit Opportunismus und Wut verkörperte Karoline mütterlichen Halt bei einer wie Dagmar, die Böses im Schilde führt. Komplexer wird Magnus van Horns Film durch das Auftauchen des vom Krieg gezeichneten Ehemannes Peter (Besir Zeciri), der, mit entstelltem Gesicht und Maske eine von der Gesellschaft geächtete Rolle einnehmen muss, die maximal für Freakshows reicht. Womit der Film eine gewisse Brücke zu David Lynchs Elefantenmensch schlägt, um Würde, Humanismus und Hoffnung auf soziale Integrität zu erörtern. Dabei wählt Das Mädchen mit der Nadel eine fulminante expressionistische Bildsprache, die ebenfalls an Lynchs frühe Werke erinnert und auf albtraumhafte Kontraste setzt, in düstere Räume dringt und phantasmagorische Collagen aus bodenlosem Abgrund hervorholt. Mit solchen Bildern fängt von Horn seine Schauergeschichte auch an – bizarrer Symbolismus wechselt mit akkurater, klarer Ausstattung. Soziale Härte trifft auf Macht und Abhängigkeit – Michael Hanekes Klassiker Das weiße Band ist da nicht weit entfernt.

Heuer für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert, mag sich van Horns bildgewaltiges Psychodrama genretechnisch gar nicht so gerne festlegen. Es entzieht und windet sich aus der Gunst des Publikums heraus und will kein Mitleid. Auf den ersten Blick wirkt Das Mädchen mit der Nadel daher spröde und viel zu abgründig, um sich in diesem entbehrungsreichen Kosmos gescheiterter Existenzen vorallem emotional zurechtzufinden. Magnus van Horn gelingen aber zwischen diesen real gewordenen bizarren Wachträumen, die mit dem Suspense-Kino ebenso herumexperimentieren, Szenen von Wärme, Liebe und voll von Sehnsucht nach Geborgenheit, dabei strahlt die Figur des Kriegsheimkehrers Peter trotz all seiner ihm widerfahrenen Entmenschlichung das größte Potenzial zwischenmenschlicher Verbundenheit und Nähe aus, und zwar so sehr, dass es einem hierbei fast das Herz bricht.

Das Mädchen mit der Nadel (2024)

A Different Man (2024)

SCHÖNHEIT MUSS LEIDEN

8/10


a-different-man© 2024 Universal Pictures International


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE / DREHBUCH: AARON SCHIMBERG

CAST: SEBASTIAN STAN, RENATE REINSVE, ADAM PEARSON, C. MASON WELLS, OWEN KLINE, CHARLIE KORSMO, PATRICK WANG, MICHAEL SHANNON U. A.

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


Den Kerl kenn ich. Es ist Adam Pearson, so ein Gesicht vergisst man nicht. Denn er war es, den Alien Scarlett Johansson in Under the Skin so bewundernswert anders fand. Pearson kann nun ein weiteres Mal brillieren, und nein, er muss sich nicht hinter einem Laken mit Löchern verstecken wie es seinerzeit William Hurt in David Lynchs Elefantenmensch tun musste. Als John Merrick, der vermutlich an einer ähnlichen deformierenden Krankheit litt wie Adam Pearson, musste dieser im England des späten 19ten Jahrhunderts als Freak in Schaubuden für großen Reibach sorgen. Unwürdige, inhumane Methoden waren das damals – Tod Browning hatte schon seinerzeit in seinem Klassiker Freaks all diesen Menschen ihr Wertebewusstsein zurückgegeben und sie Rache nehmen lassen. Merrick selbst gelingt in diesem düsteren Meisterwerk in Schwarzweiß dieses Kunststück eben nicht. Sein Wunsch, so behandelt zu werden wie ein normaler Mensch, geht erst in Erfüllung, als er stirbt.

So traurig wie Lynchs Film ist A Different Man bei weitem nicht. Das einzige, was man empfinden könnte, wäre Mitleid für Sebastian Stan. Aber nicht, weil er zu Beginn des Films hinter jener Gesichtsdeformation verschwindet, mit welcher Adam Pearson zu leben gelernt hat. Sondern, weil er zum schönen Prinzen mutiert. Das Wort Mutation ist auch hier mehr als nur angebracht. Denn die Frage, die Aaron Schimberg in seinem Film wohl am lautesten stellt, ist: Wer bestimmt denn dieses Ideal von Schönheit? Und leben wir wirklich noch in einem Zeitalter, in welchem Inklusion und Akzeptanz etwas ist, das wir unbedingt in unseren Social Media-Status festmachen müssen, weil es so etwas Besonderes ist?

A Different Man ist dahingehend Social Fiction. Die Darstellung einer progressiven, humanistischen Akzeptanzgesellschaft, in der einzig Sebastian Stan als lebendes, reaktionäres Fossil daherkommt, der, womöglich aufgewachsen mit diversen unzeitgemäßen Märchenstunden, immer noch dem Glauben anhängt, kein Lebensglück zu finden, wenn man äußerlich nicht der Norm entspricht. Und wieder die Frage: Was ist Norm? Was ist normal? Schließt diese Bezeichnung nicht schon von vornherein einen großen Teil der Gesellschaft aus, der anders ist oder anders sein will? Dieser Begriff ist antiquiert, und Schimberg bringt diese unreflektierte Rückschrittlichkeit anhand eines mit leisem Humor hochintelligent konstruierten Gleichnisses auf den Punkt.

Sebastian Stan ist, wie bereits erwähnt, zu Beginn noch der „entstellte“ Schauspieler Edward, unglücklich mit seinem Aussehen, sich selbst und überhaupt allem. In seiner Wohnung tropft es vom Plafond, der Schimmelfleck wird immer größer und spiegelt die Seele des Ausgestoßenen, der eigentlich gar keiner sein muss, denn nebenan wohnt Ingrid (Renate Reinsve, Der schlimmste Mensch der Welt), die sich sehr schnell an Edwards Aussehen gewöhnt und es bald schon so faszinierend findet, um immer wieder bei ihm aufzuschlagen, um mit ihm abzuhängen. Was würde Edward nicht alles geben, um ansehnlich zu sein. Also unterzieht er sich einem wissenschaftlichen Experiment, welches dazu führt, dass er seine Deformation im wahrsten Sinne des Wortes abwirft, um als Sebastian Stan hervorzugehen. Ein neues Leben muss her, sein altes erklärt er für tot. Nun kann er alles haben, wonach ihm jemals gelüstet hat: Frauen, Karriere, eine teure Wohnung mit Aussicht. Was plötzlich aber fehlt, ist menschliche Nähe. Währenddessen hat Ingrid längst ein Theaterstück geschrieben, um das Leben Edwards Revue passieren zu lassen. Dafür castet sie Menschen mit Gesichtsdeformationen. Was nun kommt, ist so kurios wie erhellend: Edward, nunmehr Guy, will sich bewerben – und legt sich dafür eine Maske zu.

Schimbergs Skript ist genial – und niemals auch nur ansatzweise gierend nach Bodyhorror-Erlebnissen, obwohl die Phase der Verschönerung Edwards durchaus auch etwas für David Cronenberg gewesen wäre. Doch anders als in Die Fliege stellt Schimberg das „Beauty and the Beast“-Konzept auf den Kopf. In Ansätzen haben dies bereits die Gebrüder Farrelly probiert: Schwer verliebt mit Gwyneth Paltrow und Jack Black aus dem Jahr 2002 hinterfragt den Begriff der Schönheit ebenfalls – nur mit derbem Witz und einer Lust am Bizarren. A Different Man bleibt elegant und geschmackvoll, behält sich stets einen leisen Sarkasmus und eine Schadenfreude im Hinblick auf Sebastian Stans fortschreitenden inneren Verfall. Adam Pearson als sein Counterpart lebt das Leben wie der glücklichste Mensch auf Erden, sein Äußeres ist nie ein Thema, und wenn doch, dann ist es zumindest kein Tabu. Die Darstellung dieser Akzeptanz zeigt das Ideal einer aufgeschlossenen Gesellschaft, wie sie natürlich zu wünschen wäre, wie es sie allerdings leider noch nicht gibt. Um diesen Konflikt zwischen den Begriffen Norm, Ideal und Individualität darzustellen, braucht es aber diese Plakativität, die dem Film erst die Schärfe einer Satire verleiht, die in ihrer unkonventionellen Exzentrik auf so verblüffende Weise eine neue Sichtweise präsentiert, die wir uns alle schon mal so überlegt, aber noch nie zu Ende gedacht haben. Wenn Kino so anders sein darf wie dieser Film hier, dann wäre das als neue Norm mehr als wünschenswert.

A Different Man (2024)

Border

ES IST NICHT LEICHT, EIN MENSCH ZU SEIN

6/10

 

border© 2019 Meta Spark – Kärnfilm

 

LAND: SCHWEDEN, DÄNEMARK 2018

REGIE: ALI ABASSI

CAST: EVA MELANDER, EORO MILONOFF, JÖRGEN THORSSON, STEN LJUNGGREN U. A. 

 

Im Meisterwerk von David Lynch, Der Elefantenmensch, ist das Andersartige Grund genug, um eine Attraktion zu sein, die Geld einbringt. Auch bei Tod Brownings Freaks ist das so. Diese Filme berichten aus einer Zeit, in welcher der Begriff Evolution gleichsam Blasphemie und das Abheben von der Masse nichts Gutes sein konnte. Aus dieser Unerkärlichkeit sichtbarer genetischer Mutationen entstanden allerlei Geschichten, Mutmaßungen, Ängste – zusammengefasst als Wunder, und diese Wunder, verpackt in Geschichten, die von Generation zu Generation wuchsen: Mythen. Dort, wo die Nächte lang und die Unwirtlichkeit der Natur unabänderlich sind, gediehen Mythen am Besten. So zum Beispiel in Schweden. Da sind die Wälder unendlich, die Tage seltsam hell oder in scheinbar ewig finster. In Schweden ereignen sich auch jene seltsamen Dinge, die Regisseur Ali Abassi zu einem modernen Märchen zusammengefasst hat, einem Märchen für Erwachsene und Aufgeschlossene wohlgemerkt, und nicht für Anhänger bekannter Versatzstücke und Schablonen, die wir von Grimm, Bechstein oder Andersen kennen. Border schweißt die Mythen des Märchen- und Legendenhaften in die industrialisierte und organisierte Nüchternheit einer Plastiktüte, verwahrt in einem Kühlschrank oder zwischen den kahlen Wänden einer nüchternen Zollstation mit Zimmern für Leibesvisitation. Dass es möglich ist, das Märchenhafte so dermaßen von folkloristischem Zauber zu entrümpeln, ist wiederum sagenhaft. Aber auch erschreckend.

Es ist schwierig, Border zu analysieren, ohne zu viel zu verraten. Meine Review sollte, so mein Ziel, sowohl von Kennern als auch von Nichtkennern des Films gelesen werden können. Klar ist, dass sich Border schwer einordnen lässt, allerdings aber weniger schwer in ein Genre als in ein Spektrum der Wertigkeit. Ist Border nun ein guter oder ein schlechter Film? Mag man ihn oder findet man ihn abstoßend? Abassis Adaption einer phantastischen Kurzgeschichte von John A. Lindqvist, der auch die erste Drehbuchfassung hierzu schrieb, und auf dessen Konto auch der Vampirklassiker So finster die Nacht geht, ist in jedem Fall eine feuchtkalte Ode an das Hässliche. Was schon mal damit beginnt, dass Zollbeamtin Tina nicht so ist wie alle anderen. Also nicht normal. Das sieht man schon, ihr Gesicht ist deformiert, grobknochig und derb wie das eines Neanderthalers. Ein genetisches Überbleibsel? Nein, womöglich nicht, denn Tina kann Gefühle riechen, oder besser gesagt: wittern. Fast wie ein Tier. Ein Tier ist sie aber auch nicht, dafür benimmt sie sich zu sehr wie ein Mensch, wie ein normaler Mensch. Und trifft irgendwann auf einen, der genauso aussieht wie sie, immer öfter ihren Weg kreuzt oder gar aufkreuzt und in die Hütte hinter ihrem Haus zieht. Vertrauen weckt der finstere Hüne aber nicht. Eher Furcht. Oder Verlangen. Und irgendwann lichtet sich der Wald des Unbekannten, und das, was man vor lauter Bäumen nicht gesehen hat, wird klar erkennbar.

Dabei hat Border die Natur weniger im Blick, als es zu vermuten gewesen wäre. Auch wenn Tina Füchse, Elche und andere Tiere des Waldes mit ins Vertrauen zieht, ist hier nur die zutrauliche Natur eine Reaktion auf etwas anderes. Abassi beschäftigt sich in seinem eigenwilligen Bildnis nicht nur mit der möglichen Subjektivität von Hässlichkeit, sondern auch mit Grenzen im weiteren Sinne. Mit Grenzen nämlich, die die Sicht auf gewohnte Dinge einschränken. Sind diese mal überschritten, ändert sich der Blickwinkel, und das Fremde, Abstoßende, völlig gegen die Norm Gebürstete wird zur logischen Konsequenz. Wann ist das Hässliche normal, und wann das Normale hässlich? Border bringt es auf den Punkt, weil er das Gewohnte pervertiert, das scheinbar Perverse aber nicht schönzeichnet, sondern in einen anders vertrauten Kontext stellt. Das kann zu einer durchaus unliebsamen, mitunter irritierenden Erfahrung werden, weil sich in Border Unerwartetes auftut und wir als Zuseher nicht so schnell schalten können, um das Sonderbare anzunehmen. Doch zum Glück für jene, die aufgeschlossen genug sind: Tinas Schicksal kokettiert ganz eindeutig mit dem uralten Phantastischen, mit den Mythen eben. Dieses Schicksal lässt am modernen Menschen kein gutes Haar und sehnt sich nach einer verschwundenen Vergangenheit. So bizarr Abassis Film aber auch sein mag, so urwütig und misanthrop – zwischendurch lässt sich im Hässlichen etwas Magisches entdecken. Ehe man sich’s versieht, ist es auch schon wieder verschwunden, und das Mythische bleibt entzaubert. Ob ich das will, weiß ich nicht. Ich glaube, eher nicht. In Border wird mir das Phantastische zu real. Und das Gewohnte zu unschön. Doch immerhin überlegt der Film mal ganz was anderes, hebt die Grenzen auch zwischen den Genres auf, und das ist unbequem. Und auch nicht notwendig. Immerhin aber ein Werk, auf das man sich einlassen muss, gerne kann und von mir aus auch soll, das vor allem ambivalent bleibt, das Kryptische in unserer Welt aber dennoch zu wenig wertschätzt.

Border

Mogli: Legende des Dschungels

DIE FRATZE DER WILDNIS

7/10

 

mogli© 2018 Netflix

 

LAND: USA 2018

REGIE: ANDY SERKIS

CAST: ROHAN CHAND, CHRISTIAN BALE, BENEDICT CUMBERBATCH, CATE BLANCHETT, ANDY SERKIS, NAOMI HARRIS, FREIDA PINTO U. A.

 

„Probier´s mal mit Gemütlichkeit,…“ brummt der freundliche Balu vor sich hin, und jeder, der diese Zeilen liest, wird womöglich an einen altbekannten Ohrwurm erinnert. So gemütlich wie in Disney´s Meisterwerk aus dem Jahre 1967 geht es in Jon Favreau´s Realverfilmung von vor zwei Jahren schon nicht mehr zu. Der unbekümmert abgehobene Musical-Touch von damals ist ganz gewichen, die Tiere des Dschungels sind teilweise mithilfe der Motion Capture-Technik generiert, was aber nicht übermäßig strapaziert wird, um die Wildnis nicht allzu künstlich wirken zu lassen. Inmitten all der Wölfe, Bären und Elefanten: ein Live-Act-Jungschauspieler, der den Bezug zur Natürlichkeit aufrechterhält. The Jungle Book war aus meiner Sicht ein gelungenes Remake, erdiger, düsterer und abenteuerlicher. Und famos in seiner Echtheit der Tierdarstellung. Zwei Jahre später, nach der Planet der Affen-Trilogie, hält auch Motion Capturing-As Andy Serkis die Füße nicht still, wenn es darum geht, Rudyard Kipling´s Legende des Dschungels mal selbst zu interpretieren. Und dabei alles anders machen zu wollen. Oder nur das Drumherum. Vor allem die Beschaffenheit der Tiere. In Mogli: Legende des Dschungels, wie sich die aktuelle Netflix-Produktion nennt, lassen die Macher Favreau´s Animations-Kunststück aussehen wie eine niedliche Urwald-Exkursion und legen in Sachen Düsternis, Blut und Erde nochmal gehörig eines drauf.

Der Wald, der ist zwar immer noch verspielt, bunt erblüht und wie aus dem Studio-Ei gepellt. Balu, Baghira und Co hingegen nicht mehr. Andy Serkis´ Stilwahl der animalischen Charaktere sorgt Anfangs für Irritation. Die Anmut gezeichneter Kreaturen ist einer Freakshow gewichen, in der hinkende, vernarbte und alptraumhaft hässliche Lebewesen wie nach einer nicht näher genannten zellenverändernden Katastrophe um ein entbehrliches Überleben kämpfen und keine Gefangenen machen. Spätestens nach den ersten zehn Minuten wäre es ratsam, dem mitverfolgenden Nachwuchs alles weitere zu ersparen: Mogli ist für Kinder womöglich verstörend, also kein Familienfilm, obwohl er dies gerne sein will, zumindest in den Landschaftsszenen. So schön der Flug über die Wipfel des Dschungels auch sein mag – darunter herrscht natürliche Auslese, balancierend an den Rändern eines finsteren Abgrundes. Balu ist das groteske Abbild eines Horror-Bären mit debil wirkender Hängelippe, die Wölfe wirken seltsam verzerrt, ebenso wie die Affen und ganz besonders die ekelhafte Hyäne. Baghira´s Kopf sieht manchmal aus wie die eines Menschen – Black Panther lässt grüßen, nur das Fell schillert auch des Nächtens. Der sogenannte Uncanny Valley-Effekt, der eigentlich bei computergenerierten, naturalistischen Darstellungen von Menschen eintritt, lässt hier auch Vierbeiner gespenstisch wirken. Wohl würde ich mich als Mogli unter all diesen Monstern wirklich nicht fühlen. Die Flucht zu den Menschen wäre dann nur eine Frage der Zeit.

Und tatsächlich – irgendwann wird der indische Kaspar Hauser mit seinesgleichen in Berührung kommen. Und mit einem ambivalenten Jäger, der dem Maneater Shir Khan das Fell über die Ohren ziehen will. Der irre dreinblickende Antagonist aus der Spezies der Raubkatzen reißt dann bald die Herrschaft über den Dschungel an sich und tötet die Nutztiere der Menschen, die als sichtbar verwesende Kadaver zwischen dem satten Blattgrün blutrot schimmern. Doch obwohl all der Atem der Wildnis irgendwie Fäulnisgeruch verströmt, ist Serkis gewagte Interpretation mit Mut zur Hässlichkeit ein Abenteuerfilm, der eigentlich hauptsächlich aufgrund seines menschlichen Hauptdarstellers fasziniert. Der 14jährige indischstämmige Rohan Chand ist der bislang beste Interpret des Mogli-Charakters – sein Spiel ist von einnehmender Intensität. Die besten Momente sind die, als der Junge von den Menschen eingefangen wird und dieser langsam in die Zivilisation zurückfindet. Der quälende Zweifel ob seiner Zugehörigkeit zu den Tieren oder zu den Menschen ist in seiner Mimik stets präsent. Mogli ist hier ein unglücklicher Charakter, ein Getriebener und Heimatloser. Genauso ein Freak wie alle anderen, nur verstoßener, unangepasster, kein Kind der selektiven Radiation. Rohan Chand lässt die Trick-Komponente des Filmes in den Hintergrund rücken, rettet Mogli vor der Ablehnung durch den Zuschauer und bindet ihn sogar noch emotional an das Schicksal seiner Figur. Dieses kann sich nur durch Gewalt zum Guten wenden. Denn dort, wo der gehetzte Junge herkommt, gilt entweder Leben oder Sterben. Das ist hart, finster und organisch, wie Campen im Dschungel bei Monsun.

Serkis geht es nicht um die Schönheit und das Liebliche. Das Rendezvous mit Tier und Mensch ist hier frei von verklärender Romantik, aber immer noch so viel Legende, damit Tiere sprechen können. Anmutig bleibt einzig das menschliche Wesen, das Gesetz der Evolution ist derweil erbarmungslos auf den eigenen Vorteil bedacht. Das ist zwar wahr, aber nicht unbedingt gefällig. Unter dieser Prämisse ist Mogli: Legende des Dschungels eine zwar verstörende und anders geartete, aber trotz allem nicht weniger sehenswerte Version eines Klassikers, der besungene Gemütlichkeit diesmal mit Pfoten, Klauen und Krallen aus dem Dschungel tritt.

Mogli: Legende des Dschungels