Ein Festtag

VENUS IM HERRENHAUS

7/10


einfesttag© 2021 Tobis Film


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2021

REGIE: EVA HUSSON

SCRIPT: ALICE BIRCH, NACH EINEM ROMAN VON GRAHAM SWIFT

CAST: ODESSA YOUNG, JOSH O’CONNOR, OLIVIA COLMAN, COLIN FIRTH, GLENDA JACKSON, SOPE DIRISU, PATSY FERRAN, EMMA D’ARCY U. A.

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Eine junge Frau spaziert nackt durch die menschenleeren Hallen eines stattlichen Landsitzes. Die Herrschaften sind ausgeflogen, es ist schließlich Mothering Sunday, also Muttertag. Mit leisen Sohlen schleicht sie über gebürstete Teppiche und leise knarzende Dielen, streicht über die Buchrücken akkurat einsortierter Lederbände in einer dunkel getäfelten Bibliothek. Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster fällt, lässt diesen weiblichen Körper als etwas Sphärisches erscheinen. Als eine vom Olymp herabgestiegene Aphrodite – oder Venus, wenn es römisch sein soll.  Dabei ist diese Venus „nur“ ein Zimmermädchen, und noch dazu eines, dass hier, in diesen Räumen, eigentlich nichts zu suchen hätte. Doch die Liebe zum Erben des ansässigen Gutsherren Sheringham ist größer und stärker als die gesellschaftliche Ordnung, welche besagt, dass Pärchen unterschiedlicher Klassen nichts gemeinsam haben sollen. Weder Ehebett noch Kinder noch ihre Ideale. Dazu ist Paul Sheringham, die große Liebe von Jane Fairchild, einer anderen Dame der Oberschicht versprochen, die während des Picknicks am See nervös auf ihren Verlobten wartet. Die Zukunft der jungen Leute, die schmieden immer noch die noblen Eltern. Dass es daraus kein Entkommen gibt, weiß auch Jane. Doch sie weiß nicht, welches Schicksal dieser Tag wohl noch bringen wird, nachdem sich Paul nach einem Nachmittag aus Leidenschaft, Hingabe und inniger Vertrautheit verabschieden muss.

Statt den Crawleys auf Downton Abbey gibt es hier die Nivens und die Sheringhams, Adelsfamilien mit Anstand und Reichtum, jedoch seelisch gezeichnet, denn wir schreiben die bitteren Nachkriegsjahre der 1920er, und Mrs. Niven (Olivia Colman) kommt über den Tod ihres Sohnes am Schlachtfeld einfach nicht hinweg. Dieser Schatten des Krieges und eine Zeit des kummervollen Phlegmatismus, in welcher Güter und Gesellschaft längst nicht die nötige Freude am Leben lukrieren, hängt über Graham Swifts Romanadaption wie die weißen Laken über dem Interieur in einem Anwesen, dass schon viel zu lange Zeit keiner mehr betreten hat. In dieser begüterten Einsamkeit bleibt Jane eine selbstbewusste Erscheinung, die gute Seele eines traurigen Hauses und gleichermaßen befähigt und rebellisch genug, starre Gesellschaftsstrukturen aufzubrechen. Die junge Australierin Odessa Young ist dabei eine Offenbarung, und am meisten zu verdanken hat sie dies Kameramann Jamie D. Ramsay, der Youngs Bereitschaft, sich durchaus freizügig in Szene setzen zu lassen, mit erotischen und enorm geschmackvollen Bildern honoriert, für die sich ein David Hamilton wohl etwas weniger kompetent fühlen könnte.

Ein Festtag, die auf mehreren Zeitebenen ausgetragene, bittersüße Erinnerung an eine Liebe, ist weder ein durch Dialoge ermüdetes Kostümdrama noch schmachtender Historienkitsch, der sich an Erfolgsshows wie Bridgerton oder Downton Abbey auch nur irgendwie anbiedern will. Ein Festtag ist auf innovative Weise losgelöst von allzu konventionellen Versatzstücken. Regisseurin Eva Husson setzt ihren Fokus vor allem auf die Inszenierung einer vertrauten, entspannten, unbeobachteten Atmosphäre aus Intimität und intellektueller Reife. Jenseits dieses Nachmittags der Zweisamkeit hadert die Oberschicht mit vergangenen und zukünftigen Schicksalen.

Der britische Virtuose James Ivory hätte diesen Stoff vermutlich dezenter umgesetzt – doch gerade die Offenheit von Hussons Sicht auf die Dinge, die im Argen liegen und andererseits so schön sein könnten, wäre Freiheit seiner Zeit nicht so sehr unterworfen, schenkt diesem Liebesfilm besondere Momente, die in seiner Art nur dort zu finden sind.

Ein Festtag

The Good Liar – Das alte Böse

WER EINMAL LÜGT, DEM GLAUBT MAN NICHT

4/10

 

thegoodliar© 2019 Warner Bros. GmbH

 

LAND: USA 2019

REGIE: BILL CONDON

CAST: HELEN MIRREN, IAN MCKELLEN, RUSSEL TOVEY, JIM CARTER, JOHANNES HAUKUR JOHANESSON U. A.

 

Ich hätte nie gedacht, dass der integre, weise, knollennasige Gandalf zu so etwas fähig wäre: nämlich zu lügen wie gedruckt. Er sieht ja auch viel zu treuherzig aus, aber Vorsicht: man soll nie einen Menschen nach seinem Äußeren beurteilen. Ian McKellen, der sieht tatsächlich schon sehr knuddelig aus, fast schon wie seinerzeit Walter Matthau. Dessen Hängebacken waren legendär, aber auch Matthau war zuletzt ein richtiger Grumpy Old Man. Ian McKellen ist – ohne wallendem weißen Haar, Rauschebart und Zauberhut – ein gewinnender älterer Herr, der scheinbar überhaupt nichts Böses will. Seine kleinen wässrigen Augen blicken gütig, er ist ganz Gentleman, vor allem Damen gegenüber, und insbesondere Helen Mirren, die beim ersten Date der beiden ganz die diskrete feine Dame gibt und fast ein bisschen wie die Queen mit verschmitztem Understatement punktet. Wir wissen natürlich: der Schein trügt hier gewaltig, auf beiden Seiten, so schmeichelnd, süßlich und zuvorkommend die beiden auch sind. Der Film würde nicht The Good Liar – Das alte Böse heißen (der deutsche Zusatztitel ist ein bisschen bärbeißig, aber gut), würden Mirren und McKellen sich nicht gegenseitig gehörig auf die Seife steigen lassen.

Und ja, anfänglich macht es Spaß, den beiden zuzusehen. Und der beste Moment ist wohl der, wenn Ian McKellen mit sich alleine ist, ganz inkognito, und aus dem gütigen Opa-Blick plötzlich ein finsteres „Gschau“ wird, inklusive abschätziger, arroganter Mundhaltung. Gut gemimt, keine Frage. McKellen weiß, Theater zu spielen. Und selbiges vorzuspielen. Ob aber Helen Mirren etwas im Schilde führt, bleibt lange unklar. In diesem Punkt erreicht The Good Liar doch einige Momente dezenten Suspense, in gepflegter pensionsbedingter Gemütlichkeit, obwohl Altsein allein nicht zwingend heißt, nichts mehr auf dem Kerbholz zu haben.

Dann aber ganz plötzlich weiß The Good Liar einfach nicht mehr weiter. Bill Condon, der mit Mr. Holmes jetzt nicht gerade für den cineastischen Bringer in Sachen Sherlock Holmes gesorgt hat, der hat sich meiner Meinung nach mit der literarischen Vorlage zu seinem aktuellen Film gehörig vergriffen. Der Roman von Nicholas Searle ist nur bedingt empfehlenswert. Der Plot nimmt eine Wendung, die ungefähr so aufgesetzt wirkt wie die pflichtbewusste Sonntagseinladung der lamentierenden Schwiegermama am Muttertag. The Good Liar fühlt sich an, als wären zwei Geschichten fragmentarisch vorhanden, die aber unbedingt entweder einen Anfang oder ein Ende brauchen. Natürlich auch mit Story-Twist, denn ein Thriller ohne solchen ist kein Thriller mehr, der Rest wäre dann allzu vorhersehbar. Schön und gut, wenn beide Geschichten zusammenpassen würden. Das überkonstruierte Schicksal der beiden Altvorderen jedoch ist weder glaubwürdig noch authentisch oder ernsthaft nachvollziehbar. Das, so vermute ich, liegt sicher an der literarischen Vorlage, und ein Film dazu macht es nicht besser.  Interessant dabei ist, dass beide Darsteller – Mirren und McKellen – nur schwer die unwillkürlich aufgebrummten Aufgaben ihrer Filmfiguren stemmen können. Als hätten sie selbst nicht gewusst, was auf sie zukommt. Und darauf verzichtet, ihre Charaktere dem Plot entsprechend neu zu orientieren. Nun, das hätten sie schon zu Beginn machen sollen, aber der Beginn des Films, der versprach etwas ganz anderes. Und der hätte diesen bedeutungsschweren Überbau über Schuld, Verjährung und Rache überhaupt nicht nötig gehabt. Lieber einfach ganz charmant hinters Licht führen, ohne die Welt zu bewegen. Das hätten die augenzwinkernden Psychoduelle der beiden zwischen Kaffeekränzchen, Schlummertrunk und galantem Türaufhalten schon vollauf erfüllt.

The Good Liar – Das alte Böse

Cold War – Der Breitengrad der Liebe

KEIN KRAUT GEGEN LIEBE

6/10

 

coldwar© 2018 Polyfilm

 

LAND: POLEN 2018

REGIE: PAWEL PAWLIKOWSKI

CAST: JOANNA KULIG, TOMASZ KOT, BORYS SZYC, AGATA KULESZA U. A.

 

Unterwegs im Nachkriegs-Polen, natürlich in Schwarzweiß. Erinnerungen an Schindlers Liste werden wach, aber das legt sich bald. Viel mehr ist nun Andrej Tarkowskij am Zug. Die Bilder aus der Provinz sind karg und authentisch, irgendwie auch entrückt. In dieser folkloristischen Wildnis bemüht sich Komponist Wiktor, altes Liedgut zu entlocken, direkt vorort, sowohl von den Alten als auch von den Jungen. Entdeckt verborgene Talente und Melodien, die berühren. Mitunter berühren sie auch deswegen, weil die Liebe ewiges Thema dieser Volksstücke sind. Kummer, Sehnsucht, ewiges Versprechen. Da findet die traute Zweisamkeit zwischen Mann und Frau ihr Elysium, ihre poetische Reife. Da wird Liebe zur Legende. Zu etwas, das sich wiederholt rezitieren lässt, in harmonischen Klängen. Wiktor weiß das zu schätzen, will er doch ein Ensemble auf die Beine stellen, das all die vom Krieg verschüttete Kultur wieder auf einen Nenner bringen soll, gebündelt und überarbeitet, neu und auch jenseits der Grenzen präsentierbar. Kultur darf natürlich nicht verloren gehen, muss konserviert werden. So wie die Liebe. Und die ist manchmal da, wenn man sie gar nicht braucht. Wie im Fall der jungen, selbstbewussten Zula (Joanna Kulig, auch zu sehen in der amazon-Serie Hanna), die einfach jeden Ton trifft, quasi ein verborgenes Talent zu sein scheint und den ehrgeizigen, etwas stoisch dreinblickenden Komponisten fasziniert. Aber ist das nicht eher ein Fluch, der da übertragen wird? Ähnlich einer ansteckenden Krankheit, der Krankheit Liebe?

Liebe, so wie wir sie uns jetzt vorstellen mögen, mit all ihrem rosenstreuenden Brimborium, schmachtenden Blicken und gehauchten Geständnissen, fast ein bisschen so wie Bogart und Bergmann in Casablanca, diese Liebe werden wir in Cold War – Der Breitengrad der Liebe, leider verzweifelt vermissen. Obwohl Pawel Pawlikowski sich zumindest bei Thomasz Kot an das charakterliche Grundmuster des Trenchcoatträgers Bogart angelehnt hat. Joanna Kulig hingegen ist längst nicht Ingrid Bergmann. Dafür ist sie viel zu resolut. Viel zu eigennützig. Und ebenfalls einem Fluch verfallen, der sich nur zu gerne abschütteln lassen würde. Allein – es klappt nicht. Denn was die beiden verbindet – den Komponisten und die Sängerin – ist höchstens ein gewisses gemeinsames Leiden unter einer Verbundenheit, die sich wie ein amorphes Stigma über die beiden Auserwählten gelegt hat. Das klingt jetzt etwas hart, vielleicht habe ich da auch zu radikale Wörter bemüht. Was ich damit aber sagen will: Cold War ist zwar ein Liebesfilm, aber einer, der soweit von Romantik und Gefühlsidealen entfernt ist wie Roman Polanskis bizarrer Beziehungsreigen Bitter Moon.

Pawlikowskis Film ist eine mögliche Antithese zu diesem viel zitierten, in Kunst und Kultur flächendeckend angewandten Mysterium zwischenmenschlicher Zweisamkeit. Sobald sich die erste Gelegenheit ergibt, stehlen sich Zula und Wiktor davon, um ihrer vorrangig sexuellen Wut Luft zu machen. Sex wird zu einem quälenden Symptom, schafft kaum Befriedigung, ist wie das Niesen bei einem Schnupfen. Ist der Einstand mal getan, können Mann und Frau nicht mehr voneinander lassen, obwohl, und das lässt sich in jeder Szenen des Filmes spüren, beide dies so gern tun würden. Weder Zula noch Wiktor vermitteln dem Zuseher das innige Lodern einer Leidenschaft. Beide bleiben sachlich, direkt kühl und abschätzend. Nach längerer Trennung dann wieder die Vereinigung – im Zuge dieser Stationen der Beharrlichkeit eines inneren, unzerreissbaren Bandes verändert sich auch die Liedkultur des Minnesangs. Vom ländlichen Stimmzauber bis zum anrüchigen Chanson reicht die Palette, und immer bizarrer wird das Verhältnis zueinander. Immer ignoranter, beschämender, eigentlich ausdrucksloser. Thomasz Kot trägt sowieso nur die Maske eines vorgestrigen Männerbildes. Joanna Kulig ist wie eine Joanne Moreau in ihren besten Jahren, die, und das könnte man vermuten, die bessere Hälfte rational betrachtet am liebsten loswerden will.

Die Liebe, die hat in Cold War nichts verloren, von Anfang an nicht. Sie bleibt konserviert im Liedgut europäischer Romanzen aus Stadt und Land. Pawlikowskis Film ist wie ein Versuch, einer seltsamen Bestimmung auszuweichen, ungefähr so wie Amors Pfeil, der seine Opfer sucht. Trifft er, so hat man ihn, und der einzige Weg hier wieder raus bleibt vielleicht nur Shakespeare überlassen.

Cold War – Der Breitengrad der Liebe

Mudbound

KEIN SCHÖNER LAND

6/10

 

Roots© 2017 Netflix

 

LAND: USA 2017

REGIE: DEE REES

MIT CAREY MULLIGAN, JASON CLARKE, GARRETT HEDLUND, JASON MITCHELL, JONATHAN BANKS U. A.

 

Zuerst sucht Bauer Frau. Hat Bauer mal Frau, weiß Frau, worauf sie sich einlässt. Ist aber der Bauer im Vorfeld kein solcher, sondern verliebt und verheiratet sich mit einer Partnerin, die gar nicht weiß, wie sehr sie die Frau des Bauern werden wird, dann ist das schon ein Fall von Übervorteilung. Denn ehe sich Carey Mulligan versieht, befindet sie sich im Nirgendwo des Gigantischen Mississippi-Deltas, auf einem mückenverseuchten Schlammteppich, in einer windschiefen Bruchbude, die außer der täglichen Schinderei Krankheiten, Zwietracht mit dem Schwiegervater und Rassenhass bietet. So sieht garantiert kein Urlaub auf dem Bauernhof aus, geschweige denn ein ganzes Leben, in welchem zwar die Sonnenuntergänge was hermachen, die Freuden des täglichen Lebens aber darin bestehen, Schadensbegrenzung zu betreiben.

In grünbraune Düsternis getränkt, eröffnet Regisseurin Dee Rees für den Leinwandverschmäher Netflix ein dreckverkrustetes Epos aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg. Irgendwo zwischen John Steinbeck und Legenden der Leidenschaft. Mit einem Bären wird hier allerdings nicht gekämpft, dafür aber mit dem scheußlichen Ku-Klux-Klan, der es auf die feldarbeitenden Schwarzen abgesehen hat, die für den Eigentümer des Landes, deren Pächter und für sich selbst erwirtschaften, was dieser fruchtbare Boden alles hergibt. Die Söhne und Brüder sowohl von der Familie um Jason Clarke als auch von der Familie um Mary J. Blige, die heuer sogar für den Oscar als beste Nebenrolle nominiert wurde, leisten gegen Hitlers Truppen ihren Dienst in Übersee, in der Luft und am Boden. Verlieren Freunde und entdecken die Liebe, trotz aller Widrigkeiten. Sie beide, der belesene Ronsel, gespielt von Jason Mitchell, und der galant-draufgängerische Jamie, gespielt von Garrett Hedlund, bilden eigentlich das Kernstück der Geschichte, die auf dem Roman von Hillary Jordan beruht. Auf ihrer Beziehung, ihrer zögerlichen und dann innigen Freundschaft, ruht die ganze erschütternde Tragödie, die da noch kommen wird. Und die unweigerlich hereinbrechen muss, wenn man die Muße hat, den rund eineinhalb Stunden schwelenden Eiterherd eines von Rassismus durchtränkten Mississippi mitzusezieren.

Natürlich zahlt es sich aus, wenn man zum Beispiel das nationaleigene kompromisslose Subgenre des Blut und Boden-Heimatfilms zu schätzen weiß. In Mudbound spielt die Erde, aus welcher alles wächst – sogar das Böse – eine im wahrsten Sinne tragende Rolle. Wenn die duldsame Carey Mulligan im Zuber ihren schlammverschmierten Körper wäscht, bekommt Naturverbundenheit eine neue Bedeutung, ist aber im Gegensatz zum heimatlichen Genrefilm frei von jeglicher romantisierender Nostalgie. Das Herz ist keine Mörder-, sondern eine Schlammgrube. Üble Dinge werden getan, die letztendlich üblere Dinge abwenden sollen. Ein trostloser Heimatfilm, für welchen Kamerafrau Rachel Morrison satte, erdfarbene, sumpfgrüne Panoramen findet. Das Holz, die regennasse Veranda, der sonnengetrocknete Lehm auf den Straßen, der hochstaubt, wenn rostige Hinterlader durch das Marchfeld Amerikas brettern – all diese Details, die förmlich zu spüren und zu riechen sind, prägen das Provinzepos mehr, als es den Figuren oder der Geschichte selbst jemals gelingt. Schwer zu sagen, warum es sich so anfühlt, als gingen die Mikrokosmen der schuftenden Familien und hasserfüllten Erzkonservativen niemanden sonst etwas an. Mudbound ist ein pittoreskes Zeitbild, ein rustikales Relikt des Naturalismus, von unnahbarer Trübsal und resignierendem Pflichtgefühl. Aber nicht ganz ohne Zuversicht. Denn die Long and Winding Road durchs subtropische Feldermeer ist ein Bangen und Hoffen auf bessere Zeiten. Etwas, was den Film dann doch wieder durchaus erträglich macht.

Mudbound

A United Kingdom

EIN HERZ UND EINE KRONE

6/10

 

unitedkingdom© 2017 Alamode Film

 

LAND: FRANKREICH, GROSSBRITANNIEN 2017

REGIE: AMMA ASANTE

MIT ROSAMUNDE PIKE, DAVID OYELOWO, TOM FELTON U. A.

 

Es wäre eine Frage für den Ö3-Mikromann: Was wissen Sie über Botswana? Neben einigen Uuhs und Ääähs wird womöglich nicht sehr viel Wissenswertes zutage treten. Maximal erwischt Tom Walek einen Briefmarkensammler, der zumindest von wunderschönen zweidimensionalen Sammlerstücken mit Zackenrand schwärmt, die die Fauna des eigentlich relativ still vor sich hin existierenden Landes zeigen. Und damit hätten wir auch schon so ziemlich die Charakteristika Botswanas beschrieben – das Land im Süden Afrikas beherbergt das wohl größte und artenreichste Feuchtgebiet des gleichnamigen Kontinents – das Okavango-Delta. Großwild inklusive. Die erstaunliche Biomasse ist in mehrere Nationalparks unterteilt – ich selbst kenne jemanden, der Feldstudien zu den Pavianen des Landes betrieben hat. Noch Mitte des 20ten Jahrhunderts war die große Wildnis als Betschuanaland bekannt – und damals wussten ihre Einwohner noch nichts von den enormen Bodenschätzten, die sich unter der staubigen Savanne verbergen. Jede Menge Diamanten, die dem Land zu Wohlstand verholfen haben werden – bis heute. Botswana ist sauteures Pflaster, fast schon wie die Schweiz. Öko-Reisen dorthin kosten so manchen Monatslohn. Sehenswert wäre es ja, keine Frage. Und vielleicht verschlägt es mich ja irgendwann dorthin, wenn sonst genug Kleingeld überbleibt. 

Das Kleingeld für einen Film über die Geburt des demokratischen Staates Botswana war allerdings vorhanden. Die aus Ghana stammende Britin Amma Asante, eine Jugendfreundin von Naomi Campbell, hat sich einer politisch-romantischen Geschichtsstunde angenommen, die fast schon zu sehr aufwühlender Liebesroman zu sein scheint als eine wahre Geschichte. Dennoch ist genau das passiert, und zwar nach Ende des Krieges, Ende der 40er Jahre, zu einer Zeit, in der die britischen Kolonien am schwarzen Kontinent Land und Leute immer noch fest im Griff und keine Skrupel davor hatten, den angeeigneten Grund und Boden auszubeuten. Botswana hatte Glück, denn das Diamantenfieber ist erst nach Eintritt der Selbstverwaltung ausgebrochen. Weniger Glück hatte der Kongo, aber das ist eine andere, noch viel traurigere Geschichte. Auslöser der Zeitenwende von Betschuanaland war die Liebe des Thronfolgers Seretse Khama zu einer weißen Britin, einer Büroangestellten aus der gesellschaftlichen Mittelklasse. Klingt wahnsinnig schnulzig, ja geradezu ideal für eine Seifenoper im Fernsehen. Aber was will man machen, wo die Liebe hinfällt, fällt sie hin. Da gibt es kein Rassendenken mehr, keine Vorurteile, bei Liebe hört sich alles auf. Und das zu einer Zeit, in der sich die menschenverachtende Ausgeburt der Apartheid in Südafrika gerade erst im Begriff befand zu erstarken. Südafrika unter der National Party, der Knute der weißen Minderheit, in einem hauptsächlich von Schwarzen bevölkerten Land – war an schamloser Arroganz kaum zu überbieten. Na gut, vielleicht noch von Großbritannien. Doch das Großbritannien unter Churchill will sich das Buckeln vor dem herrischen Dämon ganz im Süden nicht ersparen. Letztendlich führte diese nutznießerische Verbundenheit der Länder, allerdings aber auch die Macht der Medien zu einem Paradigmenwechsel – und einer gesellschaftlichen Konstellation, die ihrer Zeit weit voraus war.

Das Liebespaar Ruth Williams und Seretse Khama sind ein Musterbeispiel für Prinzipientreue gewesen, für Durchhaltevermögen und gesundem, freien Denken. Vorreiterrollen, in der man gegen den Strom schwimmen muss. Man könnte meinen, dass ohne gegen den Strom zu schwimmen in der Geschichte der Menschheit überhaupt nie etwas weitergegangen wäre. Dem Unbequemen, Schmerzhaften erhobenen Hauptes zu begegnen, bereit, Opfer zu bringen für ein Ideal, dass vom Einzelnen auf die ganze Gemeinde überspringt – das kennen wir bereits seit der Zeit des Alten Testaments. Und finden wir im Laufe der Geschichte immer wieder. Und siehe da – Beharrlichkeit führt zum Ziel. 

Alleine die Geschichte des Landes Botswana und die Liebesgeschichte dahinter, die vieles verändert hat, ist es wert, Amma Asante´s Film A United Kingdom anzusehen. Allerdings – eine Dokumentation hätte es auch getan. Wenn es wirklich nur die Fakten in einem Film für Faszination sorgen, ohne filmisch zu begeistern, wäre besagtes Kleingeld vielleicht woanders besser aufgehoben gewesen. Das hausbackene Erzählkino schafft weder schauspielerisch noch dramaturgisch denkwürdige Momente. Der ähnlich konzipierte Film Der Stern von Indien, der von der Geburt des Milliardenstaates erzählt, mengt seinem Tatsachenbericht die fiktive Geschichte einer Romanze in den Unruhen des Umbruchs bei – und zaubert eine Mischung aus Bollywood-Nostalgie und Dokudrama. A United Kingdom kann sich eines Bollywood-Stils nur schwer bedienen – und weist somit kein spezielles Kolorit auf. Auf dem zwar durchdachten, aber konventionellen Niveau eines Fernsehfilms wird man Zeuge tragisch-hoffnungsloser wie hoffnungsvoller Ereignisse – wofür es den Film aber so nicht gebraucht hätte.

A United Kingdom

Maikäfer flieg!

PULVERLAND IST ABGEBRANNT

5/10

 

maikaeferflieg02© 2016 Filmladen/kgp

 

Bevor Joanne K. Rowling, Thomas Brezina und andere Bestsellerautoren die Bücherregale häuslicher Spielzimmer erobert hatten, konnte sich die österreichische Schriftstellerin und Ikone der Jugendliteratur, Christine Nöstlinger, fast schon auf monopolisierte Arte und Weise die Vorreiterrolle für die Lesewelt der Grundschüler sichern. Nöstlinger war und ist bei Mädchen und Jungs gleichermaßen beliebt. Werfe ich selbst einen Blick in unsere Wohnbibliothek, finden sich dort einige Klassiker, die aus der Kindheit der 80er einfach nicht mehr wegzudenken sind. Rosa Riedl Schutzgespenst, Am Montag ist alles ganz anders, Wetti & Babs – um nur ein paar der schnell verschlungenen und enorm kurzweilig geschriebenen Werke zu nennen, die noch dazu mit sehr viel Zeit- und Lokalkolorit punkten und den jungen Lesern stets auf Augenhöhe begegnen. Im Grunde eine Seltenheit in der Kinderliteratur. Die Geschichten vom Franz liest mein 9jähriger Neffe immer noch gerne. 

Aber wer ist Christine Nöstlinger genau? Ein kurzes Nachgooglen verrät, dass die werte Dame bereits 81 Lenze zählt – und somit in vollem kindlichen Bewusstsein den Zweiten Weltkrieg miterleben musste. Jedenfalls das Ende, und vor allem die Nachkriegszeit. Erinnerungen, die prägen, verändern und traumatisieren. Und die niedergeschrieben werden müssen, vor allem von einer Schriftstellerin. Das Gewesene nicht zu dokumentieren – diese Frage stellt sich für Zeitzeugen der schreibenden Zunft meistens nicht. Und auch Christine Nöstlinger hat diese Erfahrung bereits 1973 auf Papier gebracht. Maikäfer flieg – so lautet der Titel des Buches, basierend auf einem aus Reimen aufgebauten Kinderlied, womöglich aus dem 18ten Jahrhundert und in Des Knaben Wunderhorn, eines von Achim von Arnim und Clemens Brentano erstellten Liederbuches, enthalten. Dieses Maikäfer flieg trällert die kleine Christine Nöstlinger stets vor sich hin, wie das Kinder eben so machen, auch wenn die Gesamtsituation alles andere als dazu einlädt, munter vor sich hinzusingen. Doch die Welt, durch Kinderaugen oder Weihnachtskugeln betrachtet, ist eine ganz andere. Sie ist ein Abenteuer. Die ganze Bandbreite des Wahnsinns erschließt sich erst viel später. Begreifen kann das, was sich im Herzen Europas gerade abspielt, ein 9jähriges Mädchen natürlich noch nicht. Für ein 9jähriges Mädchen hat der Vorabend vor dem Kriegsende neben sehr viel Angst auch mit sehr viel Neugierde zu tun. Christine Nöstlinger war, wie sie selber von sich sagt, ein recht aufmüpfiges Kind. Mutig, ungestüm, risikofreudig. Ein unfolgsames Kind, das ungeachtet aller mütterlichen Sorgen ihrer eigenen Nase nachging. Da waren die Großeltern wichtiger als der kriegsversehrte Papa und die Mama im Kittel, die in einer Villa in Neuwaldegg mitsamt Anhang ein Ausweichquartier beziehen hat müssen. 

Mirjam Unger hat die autobiografische Erzählung ähnlich angelegt wie John Boorman seinen Weltkriegs-Kinderfilm Hope and Glory über seine eigenen Erlebnisse während des deutschen Bombardements auf London. Boorman hat das Geschichtsdrama sowohl geschrieben als auch inszeniert. Interessant wäre gewesen, wenn Christine Nöstlinger ihre Geschichte selbst filmisch umgesetzt hätte. Unger betrachtet die Dinge logischerweise aus der Perspektive der Kinder. Dennoch gerät die filmische Erinnerung Maikäfer flieg relativ behäbig und antriebslos. Nach Gesprächen mit Kennern der literarischen Vorlage dürfte der Film geradezu eins zu eins und in gefühlter Echtzeit dem Buch nachempfunden sein. Die akribische Orientierung entspricht mehr dem Rhythmus des Lesens, weniger dem des Sehens. So ist Maikäfer flieg zwar gut besetzt – vor allem Ursula Strauss macht als g´standene Wiener Mutter am Rande des Nervenzusammenbruchs eine nachvollziehbar gute Figur – hat aber zwischen den bizarren Momenten des Ausnahmezustands einer Gesellschaft sehr viel Leerlauf. Vielleicht entspricht auch das dem Buch – wenn der Papa im Krieg und das Pulverland abgebrannt ist, gibt’s auch sonst nicht viel zu tun außer auf bessere Zeiten zu warten.

Maikäfer flieg!