Eat the Night (2024)

SARTRE NICHT NUR FÜR GAMER

8/10


eatthenight© 2024 Viennale


LAND / JAHR: FRANKREICH 2024

REGIE: CAROLINE POGGI, JONATHAN VINEL

DREHBUCH: CAROLINE POGGI, JONATHAN VINEL, GUILLAUME BRÉAUD

CAST: THÉO CHOLBI, LILA GUENEAU, ERWAN KEPOA FALÉ, EDDY SUIVENG, KEVIN BAGO, XAVIER MALY U. A.

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Man kann noch so oft und jahrzehntelang im Kino gewesen sein – die breite Palette technischer Gebrechen, die den Filmgenuss hinauszögern, mögen unendlich sein. Beim Screening von Eat the Night versagte die Tonspur der Schauspieler. Die hauseigene Technik war bald mit ihrem Latein am Ende – ein Ersatztermin musste her. Wahrnehmen oder nicht? Ich hatte schon so eine Ahnung, dass der französische Film Noir von Caroline Poggi und Jonathan Vinel etwas Besonderes sein müsste. Also konnte ich mir Anlauf Nummer zwei nicht verkneifen. Eines vorweg: Ich sollte es nicht bereuen.

An alle Nicht-GamerInnen, Analog-BrettspielerInnen und jene, die gerne ihre Existenz ausschließlich in der Realität verankert sehen: Eat the Night ist kein Spielsucht-Problemfilm für Nerds. Er wirft auch nicht mit Fachbegriffen um sich oder setzt Kenntnisse voraus, durch welche vielleicht die Zielgruppe für diesen Film stark gebündelt werden könnte. In Eat the Night ist das Online-Spiel eine existenzialistische Metapher, ein Ausweg, ein Portal und eine alternative Realität, die den Protagonistinnen und Protagonisten in diesem ausgesucht komplexen Film Noir eine Erfüllung ermöglichen, die sie in der eigentlichen harten und entbehrungsreichen Realität erst überleben lässt.

Mit Utopien wie Ready Player One hat Eat the Night nichts zu tun. Denn das ist Science-Fiction, ein Abenteuer, dort wird die virtuelle Welt zum Wettbewerb, zur Challenge, um einen Schatz zu bergen. Caroline Poggi und Jonathan Vinel haben nichts dergleichen im Sinn. Ihre virtuelle fantastische Welt namens Darknoon, bevölkert mit Kreaturen, Tieren und Landschaften aller Art, ist „Open World“ – heisst also, man kann, wie in World of Warcraft, überallhin, muss keine Mission verfolgen, kann seinen Avatar weiterentwickeln, stählen und reifen lassen. Darknoon ist die Welt, in der die Geschwister Apolline und Pablo eine Gemeinschaft bilden. Sie töten Monster, erforschen die Welt, sammeln Brauchbares, tanzen oder sitzen am Lagerfeuer. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist hier. Doch dann dämmert die Apokalypse. In wenigen Monaten, zur Wintersonnenwende, soll das Spiel abgeschaltet werden, die Server verstummen für immer. Apolline, die sich mit ihrer alternativen Existenz viel mehr identifiziert als ihr Bruder, ist am Boden zerstört, während Pablo versucht, dem Ende von Darknoon insofern zuvorzukommen, indem er eine Beziehung mit dem Supermarktangestellten Night eingeht. Beide verticken selbstproduzierte Drogen – ein bisschen Breaking Bad in einer undankbaren Welt. Doch wo Drogen ihre Abnehmer finden, ist die Konkurrenz nicht weit. Und die ortet Wilderei im eigenen Revier. Währenddessen tickt die Uhr, das Ende der Online-Welt rückt näher. Es ist ein Ringen um die Existenz, um Neudefinition und Resilienz. Was bleibt, wenn die ideale Welt verschwindet?

Spielsucht ist nicht das Thema in Eat the Night. Wie schon länger kein Film zuvor bringt dieser hier das existenzialistische Gedankengut eines Jean-Paul Sartre in die cybersphärische Gegenwart. Kennt man die Werke des großen Literaten wie zum Beispiel Das Spiel ist aus (übrigens ein Filmdrehbuch), Die schmutzigen Hände oder Geschlossene Gesellschaft, lässt sich diese Art der Philosophie auch hier finden. Sartre, würde er noch leben, hätte womöglich ähnliches verfasst, hätte er an einem Stoff wie diesen schreiben müssen. Mit symbolischer Bildsprache, einem leidenschaftlichen, doch niemals romantisierenden queeren Nebenplot und der Kunst, die Online-Spielewelt als Sinnbild eines Untergangs des wenigen zu setzen, das noch in Ordnung scheint, lebt Eat the Night das frankophile Desillusionskino früherer Jahrzehnte, ohne dabei reaktionär, antiquiert oder gar lethargisch zu wirken. Immer noch ist dieser Film ein handfester Thriller, eine familiäre Tragödie, eine Liebesgeschichte. Vieles scheinen Poggi und Vinel zu vereinen, zu verschmelzen, alles auf einen gleichen Nenner und auf Augenhöhe zu bringen. Wenn sich Apolline und Pablo am Ende in den letzten Minuten des Spiels verzweifelt suchen, ist das wohl einer der intensivsten und emotionalsten Filmmomente der Viennale. Man spürt, was am Spiel steht. Man spürt, das Spiel ist aus. Das ist schmerzhaft und kraftvoll. Das ist wunderschön hoffnungsloses, individualistisches Endzeitkino.

Eat the Night (2024)

Civil War (2024)

MAKE AMERICA BREAK AGAIN

8,5/10


civilwar© 2024 A24 / DCM


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2024

REGIE / DREHBUCH: ALEX GARLAND

CAST: KIRSTEN DUNST, WAGNER MOURA, CAILEE SPAENY, STEPHEN MCKINLEY HENDERSON, JESSE PLEMONS, NICK OFFERMAN, SONOYA MIZUNO, JEFFERSON WHITE, NELSON LEE U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Der Sturm aufs Kapitol hätte der Anfang werden können für etwas, dass wohl die ganze Weltordnung neu geschrieben hätte. Denn wir wissen längst: Die Vereinigten Staaten von Amerika haben diese immer schon mitbestimmt, war es nun der Erste oder der Zweite Weltkrieg, Operation Wüstensturm, der Sturz Saddam Husseins oder die Bereitschaft, die Ukraine gegen den russischen Aggressor mit allerhand Kriegsmaterial zu unterstützen. Das US-Amerika ist nicht nur Entscheidungskraft im weltpolitischen Handel, auch die Lebenswelt in Übersee ist uns dank des übereifrigen Outputs an Hollywood-Filmen so dermaßen vertraut, als würde man selbst dort drüben leben. Keine andere Staatengemeinschaft wie diese hat dermaßen viel Einfluss. Umso erschreckender muss es also sein, wenn die selbsternannte Weltpolizei, die geschlossen gegen die Achsen des Bösen angekämpft hat, plötzlich und im eigenen Land nicht mehr Herr der Lage ist und von innen heraus zerbricht. Es wäre eine Katastrophe langen Atems und alles umstürzend, was die Wohlstandswelt wertschätzt.

Als Anfang von etwas Neuem und zweifelhaft Gutem hätte der 6. Januar 2021 zwar nicht sogleich einen Krieg, dafür aber einen weitaus größeren Erdrutsch verursachen können, der Folgen nach sich ziehen hätte können, die Alex Garland nun in die existenzgefährdenden Albträume der US-amerikanischen Bevölkerung als böse Saat einpflanzt. Der Umbruch ist in Civil War längst nicht mehr aufhaltbar, die Ordnung ist dahin, der Notstand ein Euphemismus. Dieser Film ist nichts, was uns Europäer nicht angeht. Er bedient die größte Angst der westlichen Welt, ihre prachtvolle Convenience-Blase platzen zu sehen. Weil plötzlich ist, was nicht sein darf. Weil die Welt nur immer woanders zugrunde geht, nur nicht hier, wo der Überfluss alles richtet.

Civil War ist weniger ein politischer Film. Alex Garland ist es sowas von egal, wer nun wen bekämpft, welche politischen Agenden dahinterstecken, welche Ideale nun kolportiert werden und was sich der noch amtierende Präsident der Vereinigten Staaten eigentlich hat zuschulden kommen lassen, um jetzt um sein Leben zu bangen. Denn schließlich ist es ja so, dass jene Recht behalten, die dieses Gemetzel gewinnen. Kriege verlieren hingegen sehr schnell ihren Sinn, der Ausnahmezustand schafft ein Vakuum, in dem sich nur schwer ein gewisser Alltag leben lässt. Und wenn doch, erscheint er grotesker als alles andere. So einen Zustand müssen die vier Journalistinnen und Journalisten Lee, Jessie, Joel und Sammy erstmal verdauen und als gegeben akzeptieren. Sie sind unterwegs quer durchs Land, um zur rechten Zeit am richtigen Ort den schwindenden Präsidenten zu einigen letzten Worten zu bewegen, denn alles sieht danach aus, als stünden die Western Forces kurz davor, auch die letzte Bastion der alten Paradigmen niederzureissen. Es ist wie die Schlacht um Berlin, die Schlacht um Bagdad, die Schlacht um eine heile falsche Welt, die bald entbrennen wird. Das Quartett möchte vor allen anderen ins Weiße Haus gelangen, der Ehrgeiz des Reporters ruft, und die Versuchung, zu selbigem des Satans zu werden, lockt wie schnöder Mammon. Sie versuchen, Würde zu wahren und so zu tun, als würde sie der jeweils andere interessieren. Eine Zweckgemeinschaft, die während einer über 800 km langen Fahrt Zeuge einer Zombieapokalypse nur ohne Zombies wird, in der rechtsextreme Republikaner die Gelegenheit am Schopf packen, ihre Welt von allem Fremden zu säubern, Scharfschützen ohne Fraktion einander die Birne wegschießen und Lynchjustiz an der Tagesordnung steht. Es sind Bilder, die man von woanders kennt.

Endlich sieht man mal wieder Kirsten Dunst in einer Rolle, die ihr auf den Leib geschneidert scheint. In längst abgestumpfter Professionalität einer Kriegsreporterin hat sie alles schon gesehen, nur sie selbst war noch nie wirklich Teil davon. Wagner Moura als jovialer Cowboy, Stephen Henderson als der amerikanische Christian Wehrschütz, der schon längst in den Ruhestand hätte treten sollen, es aber nicht lassen kann, und zuletzt Cailee Spaeny (Priscilla) als kindlicher Ehrgeizling, der zum einen eine Scheißangst vor dem Krieg hat, zum anderen aber bald die Gefahr als Droge missbraucht, um noch bessere Bilder zu machen als Lee Smith aka Kirsten Dunst, die es anfangs für keine Gute Idee hält, dieses Greenhorn mitzunehmen. Garland schafft mit diesen „Vieren im Jeep“ neben all der Kriegsstimmung und des Notstands ein Ensemblespiel in kunstvoller Effizienz, was das Portraitieren von Charakteren angeht. Civil War ist Kriegsreporter-Kino allererster Güte, so eindringlich wie Salvador oder The Killing Fields – und dann das: Anders als all die besten aus der Hochzeit des Politkinos Ende der Achtziger fühlt sich Civil War aufgrund seiner Nähe zu einer uns wohlbekannten Welt und einem unmittelbarem Zeitgeist tatsächlich so an, als sähe man das, worüber Garland berichtet, in den hauseigenen Nachrichten. Civil War ist das schweißtreibende Imitat einer nahen, möglichen Realität, die scheinbar Unzerstörbares aushebelt und niederringt. Immer wieder findet Garland Bilder von weltvergessener Schönheit und konterkariert seinen Krieg mit einer Compilation aus Countrysongs, Hip Hop- und Space Rock, die das Gesehene so irreal erscheinen lassen wie Napalmbomben am Morgen unter den Klängen von The Doors. Coppolas Antikriegs-Meisterwerk Apocalypse Now wirft Garland auch verstohlene Blicke zu – so manche Szene ist zu bizarr, um ihm Glauben zu schenken. Der Boden unter den Füßen findet kaum Halt.

Gegen Ende uns Zusehern vor die Füße geworfen, ist die Schlacht um Washington D.C ein Brocken selten gesehener, moderner Kriegsführung, sie gerät weder prätentiös noch pathetisch, sondern so authentisch wie der Lockdown oder Flüchtlingsströme vor der Haustür. Auf diesen Zug, in welchem Good News Bad News sind und Bad News irgendwann vielleicht Good News werden, springt Civil War auf und fährt die Achterschleife. Garland bringt seinen Plot dramaturgisch auf den Punkt, lässt weg, was den Höllenritt nur ausbremst, lässt manches im Geiste seines Publikums weiterspinnen, redet auch nicht lang drum herum. Als klar wird, dass die Härte und Arroganz der Kriegsführung im eigenen Land auch jener entspricht, mit der die USA bereits allerorts auf dieser Welt einfielen, wird einem so richtig mulmig. Die Zivilisation zeigt sich als Camouflage, der Altruismus in Krisenzeiten als Lippenbekenntnis. Wo es die Menschheit hinbringt, lässt Garland im Ungewissen. Was sie anstachelt, ist weniger der Mut zur Veränderung als lediglich die Gier nach einem wie auch immer gearteten Sieg.

Civil War (2024)

LOLA (2022)

DAS VERSCHWINDEN DES DAVID BOWIE

7,5/10


LOLA© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: IRLAND, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2022

REGIE: ANDREW LEGGE

DREHBUCH: ANDREW LEGGE, ANGELI MACFARLANE

CAST: STEFANIE MARTINI, EMMA APPLETON, RORY FLECK-BYRNE, HUGH O’CONOR, AYVIANNA SNOW, AARON MONAGHAN, NICK DUNNING U. A.

LÄNGE: 1 STD 19 MIN


Gerade sieht es so aus, als würde sich die Geschichte wiederholen. Überall auf dem Planeten erstarren die rechten Lager, in Spanien wird bereits Kunst und Kultur zensiert, Europas Möchtegern-Faschisten werfen mit Begriffen wie Remigration um sich und nutzen die beschränkte Weltsicht der Bevölkerung, um diese mit Schlüsselwörtern zu ködern. Sind sie mal an der Macht, ist es zu spät. Die Anzeichen will keiner so recht bemerken, also währet den Anfängen, kann man an dieser Stelle nur sagen, wenn Freiheit und Menschenrechte die eigenen Werte anführen.

Wie immer bleibt zu wundern, wie sehr man sich täuschen kann. Und was alles möglich ist. Um Freiheit geht es im Ringen ums Dasein immer, und wären die Parameter nicht so gesetzt gewesen, wie sie letztlich zum Einsatz kamen, hätten wir eine Welt, die sich einer wie Phillip K. Dick bereits in seinem als Serie verfilmten Roman Das Orakel vom Berge zwischen Drogen und Paranoia ausgemalt hat: Die Machtübernahme der Nationalsozialisten rund um den Erdball, insbesondere der Vereinigten Staaten. Eine Horrorvorstellung, die beklemmender nicht sein könnte. Ist die USA einmal unter der Fuchtel faschistoider Regenten, wäre Europa dies ebenso. Das Gefühl, jene Orte, an denen noch Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit praktische Anwendung finden, immer mehr zusammenschrumpfen zu sehen, wird durch das irisch-britische Was-wäre-wenn-Szenario LOLA noch extra unterstützt. Als ob dies dringend nötig wäre, um die Hände vors Gesicht zu schlagen. Andererseits ist Andrew Legges Found Footage-Juwel eine deutliche Warnung davor, die entsprechenden Signale zu übersehen. Und die Aufforderung, sich selbst mal zu fragen, ob eine totalitäre Welt aus Strafen, Zensur und Unterdrückung wirklich das ist, was es zu wählen gilt.

Einen Film wie LOLA, den haben leider Gottes ohnehin nur Zuseher auf dem Radar, die bereits aufgeschlossen und tolerant genug sind für alles, was sie umgibt. Die innovative Zugänge zu brisanten Themen ebenso schätzen wie Nonkonformismus. Und die mit Philipp K. Dick, Science-Fiction und alternativen Realitäten so einiges anfangen können. Als Zeitreisefilm geht LOLA nur bedingt durch – viel mehr gewährt das nach der Mutter der beiden Schwestern Martha und Thomasina Hanbury benannte Orakel einen Blick in die mediale Zukunft der Welt. Mit diesem obskuren Konstrukt, das beide für den guten Zweck einzusetzen gedenken, lässt sich während des Zweiten Weltkriegs im Jahre 1941, als die deutsche Luftwaffe England heimsucht, etliche Leben retten. Als Engel von Portobello gehen die Schwestern in die alternative Geschichte ein. Und die Geschichte selbst erfährt ihre Veränderung, weicht ab von dem, so wie wir es kennen. Und führt dazu, dass das britische Militär Wind davon bekommt.

Klar lässt sich so ein Ding wie LOLA dazu nutzen, dem Feind immer einen Schritt voraus zu sein. All die Offiziere, Generäle und sonstigen Rangträger hätten wohl gut daran getan, sich zuallererst den Ausgang des Krieges vorhersagen zu lassen. Dann hätten sie gewusst, dass sich der Widerstand gelohnt haben, dass die Welt nicht dem Faschismus anheimfallen und eine liberale Ordnung Einzug halten wird. Doch der Wille, den Krieg gewinnbringend im Fokus zu behalten, führt letztlich zum Gegenteil. Was dann passiert, schnürt einem die Kehle zu. Wenn über den Dächern Londons  Hakenkreuzfahnen wehen und Hitler durch die Straßen der Stadt fährt. Wenn plötzlich David Bowie nicht mehr existiert, kein Bob Dylan oder Stanley Kubrick die Musik- und Filmwelt der kommenden Dekaden bereichern, stattdessen aber faschistoide Popmusik wummert, die so klingt, als wäre sie doch irgendwie von Bowie oder Elton John, es aber nicht ist, und wenn man genauer hinhört, in ihren Lyrics das Grauen heraufbeschwört, ist der Orwell‘sche Albtraum komplett.

Andrew Legge nutzt dabei die bereits etwas abgenutzte Stilmittel des Found Footage und schafft etwas vollkommen Neues. Das genreübergreifende, experimentelle Stückwerk aus Super 8-Tonfilmfragmenten, Standbildern und Archivmaterial, das eine alternative Wahrheit täuschend echt nachahmt, ist längst nicht nur eine Mockumentary, die das Spiel mit dem Determinismus variiert, sondern dazu noch eine glaubhaft dargebotene Dreiecksgeschichte mit einbezieht – und das, obwohl LOLA nur knappe 80 Minuten dauert. Trotz dieser Laufzeit entfaltet sich ein geradezu episches Drama voller Wendungen und lässt als prophetischer Thriller das Prinzip Verantwortung als Schlüssel zum Guten erkennen.

LOLA (2022)

Die Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds & Snakes (2023)

COUNTRYSONGS AUS DER ARENA

6,5/10


panem_songbirds_snakes© 2023 Leonine


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: FRANCIS LAWRENCE

DREHBUCH: MICHAEL ARNDT, MICHAEL LESSLIE, NACH DEM ROMAN VON SUZANNE COLLINS

CAST: TOM BLYTH, RACHEL ZEGLER, VIOLA DAVIS, JOSH ANDRÉS RIVERA, PETER DINKLAGE, JASON SCHWARTZMAN, HUNTER SCHAFER, FIONNULA FLANAGAN, BURN GORMAN U. A.

LÄNGE: 2 STD 37 MIN


Die eingägige Hymne Nothing You Can Take From Me schmettert West Side Story-Goldkehlchen Rachel Zegler schon zu Beginn des Films in souveräner Profi-Stimmlage dem Fußvolk des zwölften Distrikts ebtgegen. Der Song faucht wie eine Windspitze über die Menschenmenge dahin, die wohl heilfroh sein muss, das sonst keiner aus ihrer Runde zu den zehnten alljährlichen Hungerspielen rekrutiert worden ist. Die durchgeknallte Lucy Gray Baird wird wohl kaum jemand vermissen, doch allesamt, sowohl die im Kapitol als auch jene in den Außenbezirken, werden sich noch wundern, wozu diese zarte, charismatische und hübsch anzusehende Person denn fähig sein wird. Rachel Zegler hat nichts von der panischen Hysterie einer Katniss Everdeen, die andauernd um ihre Familie und Freunde bangen und angesichts tragischer Umstände die Nerven schmeißen wird. Ihr Auftritt wird einige Jahrzehnte später kommen, wenn der alte Diktator Snow, gespielt von Donald Sutherland in distinguierter Bösartigkeit, Jennifer Lawrence zum Hassobjekt auserwählt. In diesem Prequel, das in seiner Epilog-Szene mit der großen Dunkelheit beginnt, die diese alternative Realität eines nordamerikanischen Kontinents beherrschen wird, sind die ersten zehn der aus einer Schnapsidee heraus entstandenen Hungerspiele nicht viel mehr als ein Gladiatorengerangel wie im alten Rom. Gekämpft wird bis zur letzten Frau, bis zum letzten Mädchen, Buben oder Mann. Gefangene werden keine gemacht, und auch wenn die Arena nach einem Rebellenanschlag einem Trümmerfeld gleicht, müssen die Tribute antanzen.

Suzanne Collins selbst hat aufgrund des bahnbrechenden Erfolges ihrer Bücher natürlich eine Vorgeschichte verfassen müssen, einen rund 600 Seiten starken Wälzer, der unter der Regie des Panem-geeichten Francis Lawrence auf zweieinhalb Stunden komprimiert wurde. Stoff und Handlung gibt es also in Hülle und Fülle, und wenn schon der Werdegang Anakin Skywalkers, der später zu Darth Vader werden soll, für volle Kinosäle gesorgt hat – warum könnte das nicht auch Coriolanus Snow gelingen, der anfangs noch als rechtschaffener und moralisch gepolter Student, allerdings nicht ohne Eitelkeiten und narzisstischem Ehrgeiz, auf eine politische Karriere spekuliert. Was aus ihm werden wird, ist klar. Wie es dazu kommt – wie sich Gutes in Böses wandeln kann und was für Parameter es dazu braucht – entbehrt nicht ein gewisses Interesses. Somit ist die charakterliche Entwicklung das Um und Auf eines Film, der anfangs jede Menge bekannter Versatzstücke bemühen muss, um seinem Publikum ausreichend Fanservice zu bieten. Längst ist in Panem wieder alles im Argen, und die Spiele mögen beginnen.

Peter „Tyrion Lannister“ Dinklage und Viola Davis als fiese Medienhexe veredeln wie schon seinerzeit Philipp Seymour Hoffman oder Woody Harrelson eine Young Adult-Dystopie, die diesmal dank einer in ihrem Enthusiasmus ordentlich ansteckenden Rachel Zegler fast schon den Touch eines Musicals besitzt. Muffel dieses Genres können sich aber beruhigt zurücklehnen, denn die wenigen Songs gehen ins Ohr und Zeglers Stimme begeistert. Newcomer Tom Blyth, der den jungen Snow verkörpert, muss seine Metamorphose zum Ungeheuer erstmal stemmen – gegen Ende schwindet seine Kraft, so auch die Stringenz einer durchaus packend erzählten Politthriller-Romanze, die nach dem erwarteten Hungerspiele-Showdown in alle Richtungen zerfasert. Zwar sind nach wie vor Snow und Lucy Gray Bird im Spiel, doch wirken so manche Eckpunkte der Handlung aufgesetzt. Das ganze Szenario will kein Ende nehmen, wie gesagt: es sind 600 Seiten Buch, da müssen noch einige Staatsfeinde am Hanging Tree aufgeknüpft und der bereits bekannte Song gleichen Titels spotttölpelgleich von den Dächern gepfiffen werden. Verrat und Intrigen erschüttern das Vertrauen, Blyths Snow setzt Taten, denen der Beweggrund fehlt. Etwas konfus wirkt das Ganze, doch Zegler hält stets ihre Mitte – sie ist das herausragende und sturmfeste Zentrum des Films, der ohne sie wohl besser als Serien-Spinoff geeignet gewesen wäre.

Letzten Endes aber ist Die Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds & Snakes – eine überraschend grundsolide Antagonisten-Genese. Die Perfidität eines postapokalyptischen Faschismus verträgt sich nach wie vor gut mit dem Narrativ einer unmöglichen Zweisamkeit, solange eine(r) davon moralisch integer bleibt.

Die Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds & Snakes (2023)

Matrix Resurrections

LIEBE IN SIM CITY

6,5/10


matrixresurrections© 2021 Warner Bros. Entertainment Inc. and Village Roadshow Films (BVI) Limited – All Other Territories


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: LANA WACHOWSKI

CAST: KEEANU REEVES, CARRIE-ANN MOSS, YAHYA ABDUL-MATEEN II, JESSICA HENWICK, JONATHAN GROFF, NEIL PATRICK HARRIS, JADA PINKETT-SMITH, MAX RIEMELT, LAMBERT WILSON U. A. 

LÄNGE: 2 STD 28 MIN


Was ist real? Keine Ahnung. Viel eher sollte man die Frage stellen: Wann ist etwas real? Der im Film auftauchende Analytiker umschreibt das so: Real ist dann etwas, wenn die Emotionen echt sind. Gefühle sind immer echt, und da spielt es keine Rolle, ob die Welt, in der wir leben, von archaischen Techno-Kopffüßern kreiert wurde oder tatsächlich aus Sternenstaub besteht. Und ganz ehrlich: wenn ich mir die angeblich reale Welt so ansehe, die jenseits der Matrix unter wolkenverhangenem Fake-Himmel vor sich hindämmert, und mir dann die wohlgenährte urbane Komfortzone mit goldgelben Sonnenuntergängen zum Vergleich hernehme – nun, dann bleib ich lieber in der Matrix, allem Bewusstsein, einer Illusion zu erliegen, zum Trotz. Und überhaupt: woher weiß denn diese Handvoll Rebellen, die mit ihren prähistorischen Gliederfüßern herumschippern und womöglich von einem entspannten Urlaub am Strand träumen, ob das, was sie als real erachten, nicht auch eine Matrix ist? Das könnte ewig so weitergehen, wie in David Cronenbergs Cyberthriller Existenz – übrigens das Radikalste auf dem Gebiet virtueller Welten. Quantenphilosophisch betrachtet ist sowieso alles nur eine wahrgenommene Illusion des eigenen Denkapparats. Also was soll‘s. Der Punkt ist nur der, dass die Liebe – die gerne und oft und in Film und Literatur verehrte Liebe – Grund genug ist, dort zu verweilen, wo der oder die andere auch ist. Zumindest die Wahl sollte man haben, welche Realität wohl genehmer ist. 

Und die bekommt Thomas Anderson aka Neo auch, und zwar von der virtuellen Version des Morpheus, den Laurence Fishburne ob seiner Physiognomie drehbuchtechnisch nicht mehr vertreten kann. Es gibt die blaue und die rote Pille. Wie denn – alles auf Anfang? Das Szenario ist ein einziges Deja-Vu. Und auch die Katze des Therapeuten heißt so, während der Coffebreak gerne im Simulatte eingenommen wird. Das beste aber: Anderson ist der Kreator eines erfolgreichen Videospiels namens Matrix – und zwar gibt es drei Teile davon, der vierte ist in Arbeit. Seltsam, dass dem frappant an John Wick erinnernden Computerspezi die ganze Geschichte irgendwie vertraut vorkommt. Und auch die Begegnung mit Tiffany in besagtem Kaffee bleibt nicht ohne Wirkung. Alles schon mal erlebt? Jawollja. Denn die Maschinen sind immer noch geölt und werkeln vor sich hin, holen sich Energie aus den menschlichen Legebatterien für was auch immer und haben trotz des Heldentodes von Neo und Trinity selbige ins Spiel gebracht.

Wie das möglich ist? Fragen wir Lana Wachowski. Zwei Schicksalsschläge brachten die Filmemacherin dazu, ihren familiären Verlust zumindest auf künstlerischer Seite wieder auszugleichen. Das hieß: Neo und Trinity mussten wieder her, um das Ganze nochmal mit Gefühl zu erleben. Vielleicht weniger konfus, aber immer noch mit allen bekannten Versatzstücken wie der Bullet-Time, den Sonnenbrillen bei Nacht und jeder Menge Motorradstunts. Glas und Äpfel splittern in Zeitlupe, es weht der schwarze Ledermantel. All das und noch viel mehr versteckt sich als mehrgängiges Fan-Service-Menü in einem sagen wir mal Da Capo für ein Meisterwerk, das mehr als zwanzig Jahre auf dem Buckel hat. Als zeitlos würde ich dieses bezeichnen – und es grenzt an Genialität, wie Wachowski es angeht, das bahnbrechende Original in ihre eigene Reminiszenz einzuflechten. Das ist nicht nur voller Selbstironie, die liebevolle Hommagen so an sich haben, sondern streckenweise auch wahrlich gut durchdacht. Angesichts dieses Brockens an philosophischem Gedankengut muss es aber auch so weit kommen, dass sich Matrix Resurrections zumindest in der zweiten Hälfte ordentlich verhebt. Alles will mitmischen, und es scheint, als hätten wir wieder den konfusen Wahnsinn aus den alten Prequels zu verzeichnen – Aufdröselung bitte selbst angehen. Es fliegen die Fetzen, es kullern die grünen Ziffern und es explodieren in Häuserschluchten so manche Benzintanks. Nachhaltig ist das nicht, wohl eher dröhnend und verschwurbelt, und somit auch nicht auf Augenhöhe mit dem Klassiker.

Doch sei gesagt: besser als Matrix Reloaded und Matrix Revolutions ist Matrix Resurrections dann doch, allein schon aufgrund der etlichen kleinen Solonummern, die nach dem ersten Vorhang dank des Applauses nochmal über die Bühne geschmettert werden. Ungefähr so ist dieses Spektakel zu verstehen – abgesehen von Lana Wachowskis Seelenheil wäre die Wiederbelebung aber nicht notwendig gewesen. Auserzählt ist auserzählt – doch manchmal obsiegt die Wehmut angesichts des Vergangenen.

Matrix Resurrections

Spider-Man: A New Universe

ICH BIN VIELE

6,5/10

 

spiderman_anewuniverse© 2018 Sony Pictures

 

LAND: USA 2018

REGIE: BOB PERSICHETTI, PETER RAMSEY, RODNEY ROTHMAN

CAST (MIT DEN STIMMEN VON): SHAMEIK MOORE, MAHERSHALA ALI, NICOLAS CAGE, CHRIS PINE, HAILEE STEINFELD U. A.

 

Wo soll ich da bitte anfangen? Das frage ich mich des Öfteren, wenn ich bei Comicbörsen in den Sammlerboxen für Marvel-Hefte herumwühle. Avengers, Spider-Man, Iron-Man, für jeden Helden gleich mehrere Storylines, scheinbar schon seit ewigen Zeiten fortlaufend. Crossovers, Extras und Spin-Offs erschweren noch zusätzlich die Lage, hier Übersicht zu bewahren. Und womit ich jetzt heftmäßig starten soll, kann mir auch keiner genau beantworten. Wie viele Tode ist Batman eigentlich schon gestorben? Oder Superman? Oder eben Spidey? Da kann ich ja froh sein, zumindest im Kino noch alles auf die Reihe zu bekommen. Was aber durch die von Sony neu erschaffene, alternative Realität zum Marvel Cinematic Universe ähnlich erschwert wird, als würde man mit einer weiteren Nullnummer in Heftform für weiteres Chaos sorgen.

Ganz so viel Verwirrung wird aber durch Spider-Man: A New Universe auch nicht heraufbeschworen. Zumindest nicht, was den Plot betrifft. Dem lässt sich schon ganz gut folgen. Für unsere Helden im Film allerdings steht so ziemlich alles Kopf, nicht nur der kopfüber vom Spinnenfaden hängende Peter Parker. Oder ist es gar nicht Peter Parker? Radioaktive Spinnen (woher die Arachniden eigentlich kommen, bleibt doch in allen Filmen ungeklärt, oder?) gibt es im vorliegenden Abenteuer gleich mehrere, abgesehen von ihrer multiplen Existenz in alternativen Realitäten. Die andere radioaktive Spinne, um die es geht, zwickt diesmal den Schüler Miles Morales – und lässt ihn naturgemäß genauso werden wie den bereits werbewirksam vertretenen Helden Parker. Das Ganze spielt natürlich in einer weiter fortgeschrittenen Zukunft. Da ist Parker schon um einiges älter. Morales wird in seine Fußstapfen treten, zu verdanken hat er das dem Erzschurken Kingpin, ein Schrank von einem Ungustl mit Doppelkinn und Triefauge. Der will wiederum seine Familie zurück – und ist bereit, das Raum-Zeitkontinuum zu manipulieren. Da wir in Spider-Man: A New Universe alle davon ausgehen, dass die Multiversum-Theorie Fakt ist, lässt sich die Konsequenz dieses physikalisch-technischen Schindluders leicht erahnen: Spider-Man Morales ist nicht mehr der einzige Held im Netzkostüm. Da gibt es noch andere, die nacheinander durch diverse Sogportale zur knallbunten Party purzeln. Mitunter auch Schweine.

Und knallbunt, das ist des Comicfilms zweiter Vorname. Es gibt bereits Filme, vor allem Live Act-Filme, die ganz so aussehen wollen wie Comics. Natürlich Sin City, und natürlich 300. Spider-Man: A New Universe hat einen ähnlichen Look, spielt mit Panels, onomatopoetischen Einsprengseln und Bildtexten. Mit Splitscreens, groben Druckrastern und mixt auch noch unterschiedliche Zeichenstile, vor allem wenn die völlig anders entworfenen Alternativ-Spideys aus den anderen Dimensionen in Miles Morales Welt ihren Cameo hinlegen. Trotz all dieser Stilmittel, der graphischen Überstilisierung und der manchmal fast plastischen Anmutung eines realen Filmabenteuers wirkt Spider-Man: A New Universe erstaunlicherweise wie aus einem Guss. Die betont lässige Superheldenkomödie setzt ganz auf die jugendfreie Humorversion eines Deadpool, hat einen Wortwitz wie bei Roger Rabbit und führt seine Fülle an Anta- und Protagonisten mit lockerem Händchen ins Geschehen ein. Dieses geschickte Timing verdankt der Film dem Skript von Phil Lord, seines Zeichens Mastermind hinter den Lego-Movies. Den popkulturellen Klamauk mit den Noppensteinen im Hinterkopf, hat Lord auch hier Scheuklappen für stringente Erzählwelten entfernt. Die Marvel-Alternative und LEGO wirken plötzlich gar nicht mehr so fremd zueinander. Die augenzwinkernde Dynamik mit starkem Hang zur Selbstironie ist da wie dort ein Nerd- und Zitate-Flashmob sondergleichen. Was aber wirklich das Auge des Betrachters strapazieren kann, ist die Farb- und Formexplosion, die fast schon ans Psychedelische grenzt. Kadeisoskopartig langt das RGB-Spektrum tief unter die Netzhaut, vor allem wenn man den Film im Kino genießt. Da braucht man nachher einen leeren Raum, um das Auge zu entspannen, quasi eine visuelle Entreizungszone.

Spider-Man: A New Universe ist ein filmgewordenes Holi-Fest. Ist noch dazu rasant und zwar nicht dramaturgisch, dafür aber visuell durchaus nicht unanstrengend. Das invertierte Outfit des Miles Morales ist letzten Endes sogar noch cooler als das von Peter Parker. Und der muss noch ein bisschen abnehmen, falls er beim nächsten Mal überleben will.

Spider-Man: A New Universe