Stiller (2025)

WIE MAN JEMAND NICHT IST

4/10


© 2025 Constantin Film


LAND / JAHR: SCHWEIZ, DEUTSCHLAND 2025

REGIE: STEFAN HAUPT

DREHBUCH: STEFAN HAUPT, ALEXANDER BURESCH, NACH DEM ROMAN VON MAX FRISCH

KAMERA: MICHAEL HAMMON

CAST: ALBRECHT SCHUCH, PAULA BEER, MARIE LEUENBERGER, SVEN SCHELKER, MAX SIMONISCHEK, STEFAN KURT, SABATA SAFET, MARTIN VISCHER, GABRIEL RAAB, MARIUS AHRENDT, INGO OSPELT U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN



„Ich bin nicht Stiller!“, versucht sich mehr schlecht als recht der diesem Stiller so frappant ähnlich sehende mittelalte Mann aus der Affäre zu ziehen. Das Problem dabei: Man glaubt ihm nicht. Wie, so Albrecht Schuch in zwar nicht verzweifeltem Tonfall, aber schulbühnenartiger Inbrunst, könne man denn beweisen, dass man jemand nicht ist? Heutzutage alles kein Problem, liegen die notwendigen Papiere griffbereit. Im Zeitalter des Internets und einer sozialen Lebensweise, wo dich zumindest immer eine Handvoll Leute kennt, sind Identitäten meistens bewiesen. Auch der hauseigene Zahnarzt kann da weiterhelfen, liegt man mal irgendwann als verkohlter Überrest unter den abgebrannten Trümmern einer Wohnung. Bei diesem hier aber, bei Max Frischs völlig unidentifizierbarer Figur, scheinen die Parameter eines gesellschaftlichen Wesens, wie der Mensch nun mal eines ist, nicht zu ziehen.

Identifikation ist nicht alles

Jene, die Stiller vor zehn Jahren das letzte Mal gesehen haben, denen könnte der Lauf der Zeit durchaus auch einen Streich spielen, das Erinnerungsvermögen ein bisschen hinterherhinken. Wie sehr kann sich eine Person in so vielen Jahren schon verändern, es sei denn, er hat sich unters Messer legen lassen? Der Unbekannte und doch Bekannte hat das scheinbar nicht – in den 50er Jahren, in denen Stiller spielt, sind Methoden wie diese zur Unkenntlichmachung des eigenen Ichs wohl noch nicht so in Mode. Also macht der gute Mann wohl keinen auf Udo Proksch, sondern lässt sich während einer Zugfahrt durch die Schweiz erwischen. Man fragt sich, weswegen? Womöglich war Stiller in einem politischen Attentat verwickelt, das nur nebenbei angerissen wird, und da ihn ein mitfahrender Gast als jenen Mann, der er angeblich nicht ist, identifiziert hat, wird dieser in polizeiliches Gewahrsam genommen. Zur Identifizierung muss Tänzerin Julika aus Paris antanzen, sie muss es ja schließlich wissen, war sie doch mit Anatol Stiller verheiratet. Natürlich weigert sich dieser, seine Ehefrau zu erkennen, und während das Gänseblümchen gerupft wird – ist er es, ist er es nicht – erfahren wir, wie es denn überhaupt dazu kommen hatte können, dass man James Larkin White  verhaftet hat.

Ein Buch sperrt sich der Verfilmung

Max Frisch ist stets eine gute Bank für vielschichtige Dramen, moralische Metaphern und gesellschaftskritische Gedankenspiele. Die Sache mit der Notlage eines jeden, unentwegt Rollen spielen zu müssen, die man von anderen zugeteilt bekommt, ohne sich selbst oder jemand anderes sein zu können, kumuliert in Frischs Roman Stiller zu einer Identitätskrise bar excellence, zu einem sachlich-klaren, reduktionistischem Psychospiel über den Versuch eines Neuanfangs, der letztlich scheitert, weil die Fesseln der Vergangenheit nicht abgeschüttelt werden können. Als prachtvoller Plot in literarischer Form mag Stiller den Status als moderner Klassiker verdienen, als filmische Interpretation wird wohl nichts davon in die Filmgeschichte eingehen. Der Schweizer Stefan Haupt, der unter anderem dem Reformator Zwingli eine Biografie geschenkt hat, verlässt sich zu sehr auf die Wirkung eines Titels, der jeder auch nur halbwegs versierten Leseratte geläufig sein muss. Dahinter erkämpft sich ein relativ starrer Albrecht Schuch sein Recht auf freie Identitätswahl, während eine noch eindimensionalere Paula Beer, die nicht nur in Filmen von Christian Petzold mitspielt, ihrem Charakter keinerlei Profil verleiht. Stiller hin, Stiller her – im Schatten einer möglichen Verleugnung ist auch die Hintergrundgeschichte selbst, Stillers künstlerisches Schaffen und seine Beziehungen, mitunter auch eine Liaison mit Marie Leuenberger (Mother’s Baby), die wenig empfundene fiktive Biografie eines verschlossenen Mannes, den man nicht unbedingt kennen muss und dessen Versäumnis, ihn kennenzulernen, auch nicht bedauert.

Der Mann mit den zwei Gesichtern

Dem Psychodrama fehlt es an Psychologie, dem Justizdrama an packenden Indizien, die Literaturverfilmung hingegen leidet dabei an zu viel Routine. Einzig wirklich interessant, irgendwie verblüffend und auch richtig geglückt ist die subversive Idee, Stillers Figur zu Beginn des Rückblicks mit zwei Schauspielern zu besetzen. Will heißen: Nicht nur Schuch spielt Stiller, sondern auch der ihm ähnlich sehende Sven Schelker, und so weiß man nie genau, ob man sich nur einbildet, Stiller mit anderem Gesicht zu sehen oder auch nicht. Irgendwann, in einem unmerklichen Moment, wo man längst auf anderes konzentriert ist, übernimmt Schuch dann vollends. Dieses Spiel mit der Wahrnehmung ist Haupts bester Moment, während die übrige Umsetzung in seinem Pragmatismus reichlich schal wirkt.

Stiller (2025)

Juror #2 (2024)

DIE SKRUPEL DER GESCHWORENEN

5,5/10


© 2024 Warner Bros.


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: CLINT EASTWOOD

DREHBUCH: JONATHAN ABRAMS

CAST: NICHOLAS HOULT, TONI COLLETTE, ZOEY DEUTCH, KIEFER SUTHERLAND, CHRIS MESSINA, J. K. SIMMONS, GABRIEL BASSO, LESLIE BIBB, AMY AQUINO, ADRIENNE C. MOORE, FRANCESCA EASTWOOD U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Mit dem 2021 erschienen Cry Macho wollte Clint Eastwood nochmal beweisen, dass er mit stolzen 91 Jahren nicht nur noch hinter, sondern auch vor der Kamera stehen kann. Das Ergebnis war von schaumgebremster Zähigkeit, irgendwie wollte der Film nicht in die Gänge kommen, vielleicht lag das auch an der deutlichen Sichtbarkeit des hohen Alters und den damit einhergehenden motorischen Defiziten. Für seinen kolportierten letzten Film, bevor er nun endgültig in den wohlverdienten Ruhestand gehen wird, hat es sich Clint Eastwood wohlweislich verkniffen, nochmal selbst als einer von zwölf Geschworenen über Schuld und Unschuld wild gestikulierend zu verhandeln. Eastwoods Arbeit ist in Juror #2 gänzlich hinter der Kamera passiert, stattdessen erfüllt J. K. Simmons den Part des pensionierten Polizisten, der auf eigen Faust versucht, dem Mordfall, um den es hier geht, mehr Transparenz und Plausibilität zu verleihen, um eben nicht aus lauter Bequemlichkeit jemanden schuldig sprechen zu müssen, der im Grunde nichts dafür kann. Schließlich geht die Schuldfrage in Juror#2 mit der Erkenntnis einher, dass es fast unmöglich scheint, aufgrund eines gesunden, redlichen Gewissens eine eigene begangene Straftat zu vertuschen.

Der mittlerweile recht omnipräsente Nicholas Hoult, gerad mit Nosferatu – Der Untote im Kino und heuer als Lex Luthor im neuen Superman durchstartend, hat gegenwärtig einen sagenhaft guten Karrierelauf. Auch Clint Eastwood wollte ihn für die Rolle des von Skrupeln übermannten Geschworenen, der die Nummer Zwei trägt und welchen während der Verhandlungen zu einem Mordfall, der bereits ein Jahr zurückliegt, langsam aber doch und siedend heiß die Ahnung überfällt, er selbst könnte daran beteiligt gewesen sein. Schließlich war Justin genau an jenem verregneten Abend ebenfalls unterwegs, und bislang schien es noch, er hätte ein Rotwild gerammt. Wahrscheinlich aber ist: Auch Justin könnte das ganze Desaster verursacht haben. Was also tun? Das eigene Familienglück opfern und sich stellen? So tun als wäre nichts? Oder zumindest alles daransetzen, den Angeklagten nicht schuldig zu sprechen? Dafür braucht es aber die Überredungskunst für fast den ganzen Rest des Dutzends Geschworener, die überzeugt davon sind, der Rowdy mit den Tattoos hat die Tat vorsätzlich begangen.

Eastwood muss wohl Zeit seines Lebens Fan von Reginald Roses Fernsehspiel Die 12 Geschworenen gewesen sein, der von Sidney Lumet mit Henry Fonda in der Hauptrolle verfilmt wurde. Juror #2 fühlt sich ganz ähnlich an, nur ergänzt der Film das saubere Gerichtsdrama um die sozialphilosophische Ebene des schlechten Gewissens und dem Willen, gerecht zu handeln. Dieser Humanismus beschert dem Drama zwar keine Alleinstellungsmerkmale, macht den Plot aber insofern interessanter, da man neugierig genug bleibt, um dem Lösen des moralischen Knotens unbedingt beizuwohnen. Hoult macht seine Sache gut, man sieht ihm an, wie sehr er damit ringt, das Geheimnis für sich zu behalten oder sich selbst von dieser möglichen Schuld zu befreien. Doch auch er stößt an die Grenzen eines behäbigen Drehbuchs, das keine Eile dabei hat, und auch nicht die Ambition, aus dem Gerichtssaaldrama einen hakenschlagenden Thriller zu kreieren. Juror #2 bleibt ein solide abgefilmtes Drama voller klassischer Figurenstereotype – Toni Colette zum Beispiel oder J. K. Simmons bleiben undankbar schablonenhaft. Auch lässt sich nicht erklären, wie die mangelnde Beweislast den Angeklagten so sehr in die Bredouille bringt, ist doch alles nur ein Indizienprozess. Eastwood und Drehbuchautor Jonathan Abrams kümmern sich kaum um die Details dieses Falls, auch fragt man sich während des Lokalaugenscheins am Tatort, wie sich statt eines vorsätzlichen Mordes ein Autounfall vereinbaren lassen könnte. Man tut sich schwer, den Tathergang vor Augen zu führen. Die wahre Auflösung der Szene lässt man außen vor, viel wichtiger ist die Möglichkeit einer Schuld, der psychologische Aspekt, der dann aber doch in diesem Film zu kurz kommt.

Von atemberaubender Gerichtssaalspannung, wie es das Genre in den 80ern und Neunzigern immer wieder mal zusammenbrachte, kann in Juror#2 kaum die Rede sein, dennoch verliert man nicht das Interesse. Das Warten auf den Twist wird allerdings nicht belohnt – Eastwood lässt sein Dilemma ins Leere laufen.

Juror #2 (2024)

Argentina, 1985 (2022)

NÜRNBERG WAR AUCH ANDERSWO

7/10


argentina1985© 2022 Amazon Studios


LAND / JAHR: ARGENTINIEN, USA 2022

REGIE: SANTIAGO MITRE

BUCH: MARIANO LLINÁS, SANTIAGO MITRE

CAST: RICARDO DARÍN, PETER LANZANI, GINA MASTRONICOLA, FRANCISCO BERTÍN, SANTIAGO AMAS ESTEVARENA, ALEJANDRA FLECHNER, NORMAN BRISKI, GABRIEL FERNANDEZ CAPELLO U. A. 

LÄNGE: 2 STD 20 MIN


Versteckt im Angebotssortiment der Flatrate von Amazon Prime findet sich ein Film, der gute Chancen hat, bei den diesjährigen Oscars den Goldjungen für den besten internationalen Film mit nach Argentinien zu nehmen: Die Rede ist von Argentina, 1985, einem akkurat inszenierten Politdrama, das so ungefähr in jene Richtung geht, die seinerzeit Stanley Kramer mit Das Urteil von Nürnberg eingeschlagen hatte. Der für elf Oscar nominierte Streifen konnte einen für Maximilian Schell gewinnen, den anderen für das beste adaptierte Drehbuch. Letzteres ist wahrlich kein Wunder: Nazis bei ihrem verzweifelten Versuch zuzusehen, wie sie ihr bizarres Weltbild erörtern, hat schon etwas Verstörendes, abgesehen von den vielen niederschmetternden und an die Nieren gehenden Aussagen scheinbar unendlich vieler Zeugen, die allesamt das System hinter den Gräueln bestätigen konnten.

Was in Europa in den 30er und 40er-Jahren passiert war, gab es in abgewandelter, aber nicht minder heftiger Form auch in Argentinien – da riss in den 70erjahren das Militär die Macht an sich und errichtete eine Schreckensherrschaft aus Überwachung, Entführung, Verhör, Folter und Mord. 1983 war dann Schluss damit. Wie es zu diesem Befreiungsschlag kam, darauf geht Argentina, 1985 eigentlich nicht ein. Man muss jedoch, als nicht ganz so mit profundem Südamerika-Wissen ausgestatteter Zuseher, diesen Umstand nicht unbedingt kennen. Um hier noch tiefer in die Materie einzusteigen – dafür gibt es zahlreiche Dokumentationen, die man gerne begleitend sichten kann. Man muss es aber nicht. Argentina, 1985 funktioniert losgelöst von der restlichen Geschichte eines Landes, da der Film in seinem Bestreben, abzubilden, wie man Verbrechen an der Menschlichkeit ahnden kann, durchaus als universell gilt. Verbrechen wie diese gab und gibt es überall auf der Welt. Wer als Volk durch so eine Hölle ging, kann sich im Nachhinein nur noch darum bemühen, es nie wieder so weit kommen zu lassen.

Um ordentlich Gerechtigkeit walten zu lassen, wurde ein Jahr vor dem großen Prozess der Bundesanwalt Julio Strassera engagiert. Was zur damaligen Zeit besonders überrascht: der faschistische Sumpf ist da noch längst nicht trockengelegt, Anhänger hat das abgesägte Militär immer noch genug. Dieses Paradoxon lässt sich auch schwer nachvollziehen, doch wie auch immer: aufgrund dieses Engpasses an Integrität muss Strassera sein Team aus völlig unerfahrenen, aber hochmotivierten Justiz-Anfängern zusammenstellen, was ihm letzten Endes aber zum Vorteil gereichen sollte. Dieser erfrischenden, unverbrauchten Energie ist es zu verdanken, dass die Beweise in Rekordzeit zusammengetragen wurden, um die ersten neun Generäle, die für die dunklen Jahre Argentiniens verantwortlich waren, anzuklagen.

Zu Wort kommen diese vorwiegend ergrauten weißen Männer allerdings nicht. Wäre interessant gewesen, wie diese ihre Ideologie gerechtfertigt hätten, gleich den Psychopathen im Europa der Nachkriegszeit. Es wäre vermutlich auch erfüllend gewesen, ihre Argumentation im Keim ersticken oder bis auf den letzten Krümel versuchter Schadloshaltung verblasen zu lassen. Dieser Konfrontation geht Santiago Mitre aus dem Weg. Nichtsdestotrotz sorgt dieser mit seinem Aufarbeitungswerk und der originalgetreuen, fast schon gestengleichen Nachstellung der eindringlichsten Prozessmomente für eindringliche Geschichtsstunden nicht nur für jene, die wirklich viel Ahnung davon haben, was auf anderen Kontinenten in den vergangenen Jahrzehnten im Argen lag. Mitre komprimiert das Trauma und seine Verarbeitung auf leichte Überlänge und setzt seinen Fokus stets auf den Helden der Nation, nämlich Strassera, der wiederum von Argentiniens wohl bekanntesten Schauspieler dargestellt wird: Ricardo Darín. Hinter Achtzigerjahre-Frisur und Schnauzer ist er kaum wiederzuerkennen, und in seiner resoluten, furchtlosen und unkorrumpierbaren Art und Weise hält er wie ein Fels in der Brandung, bei Wind und Wetter, seine Prinzipien hoch. Angstmache und Einschüchterungen zeigt er die kalte Schulter. Strassera dürfte ein militanter Humanist gewesen sein. Argentina, 1985 ist daher auch weniger die Aufarbeitung des Schreckens, sondern viel mehr das Denkmal eines Mannes, der wie Captain America ein ganzes Team taufrischer Avengers angeführt hat, um die Heilung eines Staates voranzutreiben. Geschichte, die sich zum Guten wendet, wird eben von Leuten geschrieben, die nicht um ihrer selbst willen ins Rampenlicht treten, sondern für andere.

Argentina, 1985 ist penibel recherchiertes, dialoglastiges Kino, das zwar manchmal des Publikums erhöhte Aufmerksamkeit braucht, dann aber wieder Emotionen der Entrüstung und der Bestürzung lukriert. Dem Bösen ins Wort fällt der Film aber nicht. Was bleibt, ist ein klassischer Fall von lupenreinem Justizdrama, das nichts neu erfinden muss und es auch nicht tut – ausser die Zukunft eines friedlichen Zusammenlebens eines ganzen Volkes.

Argentina, 1985 (2022)

Naked Singularity

SELIG SIND DIE SCHULDIGEN

4,5/10


naked-singularity© 2021 Ascot Filmverleih


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: CHASE PALMER

BUCH: CHASE PALMER, NACH EINEM ROMAN VON SERGIO DE LA PAVA

CAST: JOHN BOYEGA, OLIVIA COOKE, BILL SKARSGÅRD, ED SKREIN, TIM BLAKE NELSON, LINDA LAVIN U. A.

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Queen Elizabeth II. – Gott hab sie selig – war nicht nur das Gesicht einer ganzen Generation, sondern eben auch in der Popkultur und insbesondere im Film eine gern zweckentfremdete Instanz für Etikette und Ordnung. Und gerade deshalb wurde die Queen als Markenzeichen gerne (parodistisch) verzerrt – auch in der vorliegenden Krimikomödie Naked Singularity, in der Ed Skrein anhand eines Schwurbelartikels im Internet tatsächlich behauptet, Elizabeth II. sei Teil einer Verschwörung reptiloider Invasoren. Ein Detail, das zwar neugierig macht auf einen sich entspinnenden roten Faden, der einen routinierten kleinen Film in eine andere Richtung lenkt, das aber letzten Endes überhaupt nichts zur weiteren Entwicklung von dessen Plot beiträgt. Schade darum.

Schade auch, dass die von Tim Blake Nelson (Old Henry) dargestellte Figur als jemand, der mehr weiß als alle anderen über diese Welt, mit seinen Vermutungen über einen baldigen Paradigmenwechsel letzten Endes ziemlich danebenliegen wird. Und nein, es ist kein Spoiler, denn über den eigentlichen Ausgang der Geschichte lasst sich allein durch Erwähnung dieser Details nichts erahnen.

Nach seinem mehr oder weniger wütenden (und relativ undankbaren) Abschied aus dem Star Wars- Universum ist es um John Boyega ruhig geworden. Kathryn Bigelows Detroit war zwischendurch ein kleines schauspielerisches Highlight, doch danach? Kamen Filme wie zum Beispiel Naked Singularity, in denen er ein bisschen so wirkt wie Denzel Washington, nur etwas devoter, mit weniger Charisma, aber nonkonform. Dieses Sturköpfige steht ihm gut, das war auch schon bei Star Wars so. Boyega ist da wie dort ein liebenswerter, aber selbstgerechter Rebell, der sich nicht anpassen will. In Naked Singularity schlüpft er in die Rolle eines Pflichtverteidigers, der mit undankbaren Fällen klar Verschuldeter vor Gericht ziehen muss – und das ganze amerikanische Rechtssystem mittlerweile ziemlich satthat. Dieser Frust, den er auch offen zur Schau trägt, kommt vor den Juroren selten gut an. Vielleicht aber könnte es ihm aber gelingen, mit dem Fall einer altbekannten straffälligen jungen Dame namens Lea (Olivia Cooke) seine Defensivposition doch für etwas gut sein zu lassen. Wie der Name schon sagt: Als Pflichtverteidiger scheint es Boyegas Pflicht, auch die zu retten, die schuldig sind. Und by the way: Lea hat da noch etwas ganz anderes in petto: eine Fuhre Drogen, die in einem abgeschleppten Auto versteckt sind, das zur Versteigerung steht. Diese zu stehlen und dafür abzukassieren – damit wäre allen geholfen. All jenen, die der Ohnmacht angesichts eines ungerechten Systems nahe sind.

Irgendwo und irgendwann in diesem Film soll es dann diese geheimnisvolle Wendung geben. Anscheinend dürfte dem zugrundeliegenden Roman von Sergio De La Pava die Sache mit dem Rechtsstaat und der unausweichlichen Sogwirkung, einer Singularität gleich, viel ernster sein als Regisseur Chase Palmer. Der setzt gerne auf eine kokette Olivia Cooke, die – a la Mavie Hörbiger auf den diesjährigen Salzburger Festspielen – drauf und dran ist, ein neues Nippelgate zu provozieren. Doch wo Olivia Cooke nun mit einem Patzen Geld in Zusammenhang gebracht werden kann – wie zum Beispiel auch in der irischen und ähnlich nichtssagenden Gaunerkomödie Pixie – da ist der Wink des Schicksals ein erwartbarer. All die kritischen Metaebenen an Gesellschaft und Staat, all diese theoretische Physik eines Stephen Hawking, sind nichts als Fußnoten in einem leicht komödiantischen Thriller, der so einige Namen für sein Ensemble gewinnen konnte, der aber viele Versprechungen macht, die unmöglich alle erfüllt werden können.

Naked Singularity

The Trial of the Chicago 7

UNTER DEM DRUCK DER STRASSE

6,5/10


chicago7© 2020 Netflix


LAND: USA 2020

DREHBUCH & REGIE: AARON SORKIN

CAST: EDDIE REDMAYNE, SACHA BARON COHEN, JOSEPH GORDON LEVITT, MARK RYLANCE, FRANK LANGELLA, JEREMY STRONG, MICHAEL KEATON U. A. 

LÄNGE: 2 STD 9 MIN


Eigentlich wäre dieser historische Stoff hier das richtige Thema für Vietnamkriegs-Veteran Oliver Stone gewesen. Vielleicht gar als Ergänzung für sein hochgeschätztes Drama Geboren am 4. Juli. So gesehen sind beide Filme recht verwandt, nur dass The Trial of the Chicago 7 Erfahrungen an der Front komplett ausspart. Relevant ist hier das politische Engagement der breiten Masse Ende der 60er Jahre, die verfechteten Grundwerte der freien Meinung und vor allem das Demonstrationsrecht in Zeiten wie den damaligen. Ein ewiges Recht, das aktuell nicht mal durch allerlei Corona-Maßnahmen groß beschränkt werden kann. Das Versammeln des Volkes, um Unmut oder Statements kundzutun, das lässt sich den Menschen genauso wenig nehmen wie das Recht auf Schlaf, Verpflegung und Gesundheit. Die Vorsicht vor skandierenden Kritikern war zu Präsident Nixons Amtsantritt eine ungemein große. Dementsprechend wenig wollte man den Anti-Vietnam-Tonus zu hören bekommen.

Völlig logisch – was hätte eine Demonstration für einen Sinn, wäre sie nicht unbequem? Ausarten sollte sie nicht, zu keinen Straßenschlachten sollte es kommen. Doch genau das war an besagtem Tag im Jahre 1969, vielleicht auch inspiriert und motiviert durch den Studententumult im überseeischen Frankreich, leider passiert. Acht Mitglieder unterschiedlichster Vereine sind festgenommen worden. Die Frage ist also vor Gericht: war es bewusste Aufwiegelei zur Gewalt? Oder doch nur reine Eigendynamik angesichts ganzer Herden hochgerüsteter Polizisten.

Drehbuch-Erfolgsmann Aaron Sorkin, berühmt geworden durch sein Stück Eine Frage der Ehre, schwimmt im Dunstkreis der Justiz längst nicht in unbekannten Gewässern. Jack Nicholson auf der Anklagebank ist bis heute noch gut in Erinnerung, zuvor wurde das Stück am Broadway stürmisch gefeiert. Später dann sind seine Drehbücher für The Social Network oder Moneyball mit dem Oscar geadelt worden. Jetzt führt er selbst Regie – nach Molly’s Game seine zweite Arbeit hinter der Kamera. Und es scheint, dass Aaron Sorkin auch als investigativer Reporter eine ganz gute Figur gemacht hätte. Warum? Weil seine Filme vor allem eines sind: dramatisierte Chroniken brisanter Fakten. Informativ, das sogar sehr, dafür aber ausgeprägt sachlich. Eine gewisse Distanz zu den handelnden Personen bleibt gewahrt, um berichterstattende Objektivität zu wahren. Bei The Trial of the Chicago 7 ist genau das passiert: sein Polit- und Justizdrama, das sich fast ausschließlich im Gerichtssaal abspielt, ist zwar bis unter den Talar prominent besetzt – von Eddie Redmayne über Sacha Baron Cohen bis Michael Keaton – emotional mitreißen vermag sein Werk aber wenig. Aber wäre das dann nicht ohnehin allzu pathetisch? Wäre das nicht Boulevardkino zur falschen Zeit am falschen Ort?

Sorkin ist alles andere als ein impulsiver Künstler. Sein Blick ist geordnet, seine Arbeit akkurat, sein Team unter planender Hand auf seine Plätze verwiesen. Bizarre Lichtgestalt des ganzen True Story-Prozesses ist allerdings nicht Borat-Ikone Baron Cohen, der allerdings auch eine recht schillernde Performance hinlegt, sondern „Euer Ehren“ Frank Langella. Seine unberechenbaren Eskapaden hinter dem Richterpult könnten in die Filmgeschichte eingehen.

The Trial of the Chicago 7

Der Fall Collini

DER ADVOKAT DES ERINNERNS

7,5/10

 

fallcollini© 2019 Constantin Film

 

LAND: DEUTSCHLAND 2019

REGIE: MARCO KREUZPAINTNER

CAST: ELYAS M’BAREK, FRANCO NERO, HEINER LAUTERBACH, ALEXANDRA MARIA LARA, JANNIS NIEWÖHNER U. A.

 

Vom Gott der Literatur zur Göttin der Justiz: unlängst noch als flapsiger Schulchaot in Fack ju Göthe zu sehen, jetzt als Yuppie-Anwalt in einer Literaturverfilmung, die ganz andere Töne anschlägt als die mit ihm gewohnten Komödien. Elyas M’Barek, spätestens auch in Österreich durchwegs bekannt als Pay-TV-Testimonial, auf der Streaming-Couch chillend und durch das großzügige Angebot zappend, will also endlich mal wirklich ernst genommen werden. Weg vom schmachtanfälligen Jungromanzen, weg von Screwball-Blödeleien unterhalb der Gürtellinie. Die Probe aufs Exempel war es wert – M’Barek spielt, als ging es um die zukünftige schauspielerische Existenz und dem Vereiteln einer deterministischen Genre-Zuordnung. Der fesche Publikumsliebling lässt alle Späße außen vor und gibt sich gewissenhaft. Das gelingt ihm. Tatsächlich ist seine Verkörperung des Anwalts Caspar Leinen eine glaubwürdige Interpretation. Allerdings ist der Talarträger so knochentrocken wie manche seiner Gesetzbücher, die er zitiert. Und manchmal auch päpstlicher als der Papst. Das ist ja mal per se nicht schlecht in diesem Job. Alles genau unter die Lupe zu nehmen zeichnet einen guten Rechtsvertreter doch wohl aus, oder nicht? Was stört da schon ein möglicher Verdacht auf Befangenheit, der sich in der Kanzlei des Newcomers breit macht – denn der Mörder, den Leinen zu vertreten gedenkt, hat den Opa seines besten Freundes auf dem Gewissen, ein Krösus unter den Wirtschaftern, fast so was wie Hans Peter Haselsteiner oder Frank Stronach. Einer, der viel Geld und Macht gehabt hat. Und der Leinen in jungen Jahren immer sehr gern mochte. Schwierig, hier trotzdem die Gegenseite zu vertreten. Aber Anwalt ist Anwalt, und Fall ist Fall, das will professionell sein. Also stürzt sich Leinen ins rechtliche Getümmel – und beißt bei seinem Mandanten vorerst auf Granit.

Der wiederum ist mit internationaler Prominenz besetzt. Niemand geringerer als Good Old Django Franco Nero, der schon John McLane in Stirb Langsam 2 zum Wahnsinn trieb. Selbst Quentin Tarantino ehrte ihn in Django Unchained mit einem süffisanten Cameo. Franco Nero zieht diesmal zwar nicht einen Sarg samt Maschinengewehr hinter sich her, darf aber trotzdem mit vorgestrigen Schießeisen hantieren. Und lakonisch sein wie immer, passend für eine Kultfigur des Italowesterns. Der, dessen Alter unter seiner wilden Gesichtsbehaarung kaum mehr zu schätzen ist, hat in Marco Kreuzpaintners Justizdrama eine würdige und beachtliche Altersrolle gefunden, auf die er wirklich stolz sein kann. Einen für ihn typischen Haudegen gibt er trotzdem nicht. Dafür eine traumatisierte Seele, die darauf wartet, dass ihr Gerechtigkeit widerfährt.

Der Fall Collini, nach einem Roman des Autors Ferdinand von Schirach, ist nach Das schweigende Klassenzimmer, Ballon und Nur Gott kann mich richten ein weiterer Beweis dafür, dass der deutsche Film, seit Wolfgang Petersen Das Boot zu Wasser gelassen hat, kaum mehr so stark war wie in den letzten zwei Jahren. Es scheint mir, als wäre das Kino unseres Nachbarn im Gegensatz zu selbigem in Österreich viel eher bereit, alternative Mechanismen für einen guten Film genauer zu beobachten – um daraus zu lernen und Geschichten einfach besser zu erzählen. Kreuzpaintner hat das gemacht, und sich deutlich an der kühl-ästhetischen Krimi-Erzählkunst eines David Fincher orientiert. Und ich meine orientiert, nicht etwa abgekupfert. Die Bildsprache ist, anders als von anderen kritischen Stimmen behauptet, längst nicht mehr nur Fernseh-Niveau. Da ist schon mehr drin. Der Fall Collini spricht schon die Sprache des Kinos, dafür ist ihm die Wahl seiner technischen Mittel zu wichtig. Geschickt verwebt die Verfilmung Vergangenes mit dem gegenwärtigen roten Faden. Lässt dort aufwühlende Einblicke in ein grauenhaftes Damals aufpoppen, wo die richtige Emotion im Gerichtssaal gerade gefragt ist. Und tatsächlich erleben wir eine ähnliche Situation wie seinerzeit Tom Cruise mit Jack Nicholson eine erlebt hat. Die Frage nach dem Code Red in Eine Frage der Ehre wird in Der Fall Collini zur Frage nach der Sinnhaftigkeit zweifelhafter Paragraphen. Nun, Heiner Lauterbach mit seltsam eingepflanztem Haaransatz und schmierigem Verhalten ist längst nicht Jack Nicholson, dafür verlässt sich der deutsche Schauspieler zu sehr auf seine Routine. Auch lässt uns Elias M’Barek  oft nicht an seiner Gefühlswelt teilhaben, was ihn unnahbar macht, ist er doch der Protagonist, der uns durch den Film führt. Doch abgesehen von diesen leicht unbalancierten Dingen hat das aufwühlende Gerichtsspektakel einiges zu bieten, vor allem, wenn der Kern der Wahrheit ans Licht kommt und elterliche Emotionen getriggert werden. Das ist packend, mitunter etwas pathetisch, aber das darf Kino natürlich sein, und in der richtigen Dosis kann es zu einem dichten, dramatischen Erlebnis werden, bei dem man nicht nur daneben steht.

Der Fall Collini