Titane

LIEBE GEHT DURCH DEN WAGEN

7,5/10


titane© 2021 Koch Films


LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2021

BUCH / REGIE: JULIA DUCOURNAU

CAST: AGATHE ROUSSELLE, VINCENT LINDON, GARANCE MARILLIER, LAÏS SALAMEH, BERTRAND BONELLO U. A. 

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Im niederösterreichischen Krems konnte man diesen Sommer im Rahmen einer bemerkenswerten Ausstellung über Patricia Piccinini Mutationen aus Mensch, Tier und anorganischen Elementen begegnen. In einem Raum widmete die australische Künstlerin ihr Werk der Hybris zwischen Mensch und Automobil. Seltsame Wesen aus Fleisch und Karosserie, kaum mehr als Organismus erkennbar. Dennoch schienen sie zu atmen.

Wer die Idee hinter Piccininis Werk verstehen kann, dürfte auch einiges mit dem diesjährigen Gewinner der Goldenen Palme von Cannes anfangen können: Titane von Julia Ducournau. Doch selbst dann, wenn der Zugang und das Verständnis für das Abnorme gegeben wäre, wird dieser Film sein überschaubares Zielpublikum längst nicht durch die Bank begeistern. Gefallen wird Titane vermutlich niemanden. Aber faszinieren. Zugegeben: mich hat er fasziniert. Und ja, ich konnte mich für dieses bizarre Werk, das im Grunde seines Wesens mit nichts anderem herumexperimentiert als mit dem Mythos von Frankensteins Monster, zu meinem eigenen Erstaunen ganz gut erwärmen.

Wie schon in Ducournaus vorherigem Werk Raw steht auch hier eine junge Frau im Zentrum, die nicht der Norm entsprechen und daher freilich auch ihren Platz in der Gesellschaft nicht finden kann. Warum sie das nicht tut, liegt an einem Autounfall aus Kindertagen, der dazu führte, dass Alexia eine Titanplatte im Kopf herumträgt. Seit diesem Zeitpunkt fühlt sie sich zu fahrbaren Untersätzen auf seltsame Weise hingezogen. Gut, jedem sein Fetisch, doch Alexia hat eigentlich ein ganz anderes Problem: sie mordet all jene, mit denen sie auf die eine oder andere Weise in sexuellen Kontakt gerät. Von der Polizei gesucht, taucht sie unter – und schafft es, die Identität eines Jungen anzunehmen, der seit vielen Jahren von seinem Vater, einem Feuerwehrhauptmann, vermisst wird. Und es kommt noch dicker: Denn nach dem Geschlechtsakt mit einem Auto (ja, ihr habt richtig gelesen) ist Alexia obendrein noch schwanger – und kann diesen Umstand bald nicht mehr verbergen.

In Anbetracht dieser anderen Umstände erscheint David Cronenbergs Crash geradezu hausbacken. Soweit ich mich erinnern kann, holen dort Holly Hunter und James Spader ihren sexuellen Kick bei Belastung der Knautschzone. In Titane wird der Partner einfach durch die Maschine selbst ersetzt. Ganz klar geht es aber vorrangig nicht darum. Sondern um den Zustand, als missgestaltetes Wesen in einer Welt aus Ablehnung und Erniedrigung Nähe zu finden. Diesen Zustand des Aufbäumens setzt Ducournau in drastische Bilder um, die mit Gewaltspitzen irritieren und physische Entstellung mit gebannten Blicken voller Abscheu betrachten. In Raw war es das Heranreifen vom Mädchen zur Frau. In Titane ist es der Prozess der Schwangerschaft. Mit beiden scheint Dacournau zu hadern, und sicher nicht von ungefähr ist das Automobil die Metapher einer brutalen Welt voller Ecken und Kanten, die eine Fusion mit der menschlichen Physis verlangt, um weiteren Verletzungen zu entgehen. Titane scheint ein sehr persönlicher, Vieles verarbeitender Film zu sein, der einer akuten Furcht vor körperlichen Handicaps entgegentreten muss.

Titane ist überdies eine Suche nach Identitäten, die bereits schon bei der Bestimmung der eigenen Spezies mehrere Antworten entdeckt. Durch die Titanplatte im Kopf beginnt Alexia, zu einer anderen Art zu transformieren. Die nichtbinäre Autorin, Fotografin und Schauspielerin Agathe Rousselle verkörpert diese oscarverdächtige Rolle und auch diesen Weg der Erkenntnis mit schmerzlicher Opferbereitschaft, mit Zärtlichkeit und psychopathischer Brutalität. Erinnerungen an Hilary Swanks Spiel in Boys Don’t Cry werden dabei wach, nur ist es hier um einiges monströser. Vincent Lindon als kaputte Vaterfigur brilliert ebenfalls und belastet in seinem Schmerz die Grenze des Erträglichen.  

Das schonungslose Drama wird vielen nicht gefallen. Titane ist abstoßend, schwer nachvollziehbar und extrem körperlich. Andererseits aber auch ästhetisch, mitreißend impulsiv und regelrecht spürbar. Bereit für diese filmische Grenzerfahrung kann man aber niemals sein. Für abenteuerliche Kinogänger, die Piccininis Arbeit mit Verständnis begegnen würden, ist es ein lohnenswerter Trip in die mit Wut hingeworfene Vision einer neuer Ordnung. Wer oder was man selbst ist, scheint darin nicht mehr wichtig. Die Nähe zu wem auch immer ist das, was in einer Welt der Einzelgänger zum seltenen Gut wird.

Titane

Land of Dreams

FÜHL‘ DICH WIE ZUHAUSE

6/10


landofdreams© 2021 Viennale – Vienna International Film Festival

LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: SHIRIN NESHAT, SHOJA AZARI

CAST: SHEILA VAND, MATT DILLON, WILLIAM MOSELEY, ANNA GUNN, CHRISTOPHER MCDONALD, ROBERT BARTLET, ISABELLA ROSSELLINI U. A. 

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Erstmals ist es mir gelungen, einem Filmfestival beizuwohnen. Und zwar der diesjährigen Viennale, die Ende Oktober über die Leinwand ging. Höchste Zeit war das, denn Filme regulär oder im Rahmen einer speziellen Veranstaltung zu sehen, sind zweierlei Dinge, und letzteres eine bereichernde Erfahrung. Anders als mein lieber Kollege Filmkürbis, der zumeist mehr als ein Dutzend der gezeigten Filme wahrnehmen kann, bin ich schon froh, einen Nachmittag lang das Kino in einem anderen Kontext zu genießen. Noch dazu im Beisein zweier Gaststars wie der gebürtigen Iranerin Shirin Neshat und niemand Geringerem als Matt Dillon, die beide ihr jüngstes Werk Land of Dreams erklärten und auch für Fragen aus dem Publikum zur Verfügung standen.

Dabei hätte die Fragestunde wohl bis in den Abend hineingehen müssen, um Land of Dreams wirklich verstehen zu wollen. Shirin Neshat, die für ihren für mich leider etwas zähen Women without Men 2009 den Silbernen Löwen gewann, lässt in ihrem Roadmovie auf der Suche nach den Träumen der amerikanischen Bevölkerung Ex-Vampirin Sheila Vand (A Girl Walks Home Alone at Night) bizarre Szenarien beobachten, bei denen der Verdacht aufkommt, es permanent mit einer vom Sandmännchen geleiteten Reise zu tun zu haben, in die natürlich sämtliche Eindrücke aus der realen Welt einwirken. Wie das eben so ist bei Träumen, die in ihrer Essenz nichts anderes als das Erlebte aus der Realität widerspiegeln und neu interpretieren. Und wenn wir schon beim Irrealen, aber nicht zwingend Surrealen sind, ist auch der Plot ganz klar einer, der sich dem Science-Fiction-Genre zuordnen lässt.

Denn hier, in diesem Amerika der nahen Zukunft, gibt es das sogenannte Census-Büro, dessen Aufgabe es ist, die Träume der Leute aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten aufzuzeichnen und zu dokumentieren – zu deren eigenen Sicherheit. Warum das so ist, wird man nie erfahren. Muss man auch nicht. Die Iranerin Simin, Census-Mitarbeiterin im Außendienst, macht ihre Arbeit gut, gibt sich allerdings auch einem höchst eigenwilligen Hobby hin, nämlich nach Feierabend in die Rollen all ihrer Interviewpartner zu schlüpfen. Davon weiß natürlich niemand was. Von ihrer Vorgesetzten (Breaking Bad-Star Anna Gunn) ob ihres Outputs gelobt, bekommt sie einen kniffligen Auftrag zugeteilt – und einen Bodyguard (eben Matt Dillon). Auf geht’s in die Wüste New Mexikos, wo angeblich eine iranische Kolonie versteckt sein soll.

Shirin Neshat und ihr Kameramann finden teils karge, teils üppige Bilder, die in ihrer Anordnung an die späteren Fotografien des deutsch-australischen Künstlers Helmut Newton oder an die Malereien Edward Hoppers erinnern. Insbesondere die Anfangsszene, in der Simin ein neureiches Ehepaar beim virtuellen Zeitvertreib stört, wirkt wie ein von Newton arrangiertes Setting. Das geht auch so weiter, und die bleiche Wüste, die einsame kleine Tankstelle oder die zerklüftete Architektur eines Künstlerateliers sind gleichsam futuristisch und die Metapher eines einsamen Amerikas, wo jeder mit seinen Träumen allein bleibt. Womöglich empfindet auch Shirin Neshat so. Womöglich sucht sie dieses Verlorene bei all jenen, die den Weg ihres autobiographischen Alter Egos Simin kreuzen, ebenfalls, um zumindest auf dieser Ebene einen gemeinsamen Nenner zu finden. Das gestaltet sich sehr subjektiv, sehr assoziativ und höchst persönlich. Schwer, ohne Neshats persönlichen Kontext eine Antwort auf diesen Film zu finden. Aber das ist ungefähr so, wie die Träume eines anderen erklären zu wollen.

Land of Dreams

Good Boys

DIE NEUGIER AUF DEN ERSTEN KUSS 

5/10


goodboys© 2019 Universal Pictures International Germany GmbH


LAND / JAHR: USA 2019

BUCH / REGIE: GENE STUPNITSKY

CAST: JACOB TREMBLAY, KEITH L. WILLIAMS, BRADY NOON, MOLLY GORDON, MIDORI FRANCIS, MILLIE DAVIS, WILL FORTE U. A. 

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Gebt den Kindern das Kommando – zumindest für einen Tag. Länger hält das sowieso keiner aus. Vor allem nicht mit Jungs, die gerade mal das präpubertäre Alter erreicht haben und sowas von überhaupt keine Ahnung haben, was a) in ihnen vorgeht, b) welch seltsame fleischliche Neugier plötzlich an die Tür klopft und c) wohin dieses junge Leben eigentlich führen soll. Zumindest mal in Richtung eines Kusses. Ganz so, wie sich der smarte Junge Max (Jacob Trambley, virtuos in Raum) das vorstellt, der dank einer bestandenen Bier-Challenge (ein Schluck ist mehr als genug!) zu einer Party geladen wird, die lippentechnische Annäherungen verspricht. Mit im Schlepptau: natürlich seine besten Buddies Thor und Lucas. Der eine ein Riese von einem Burschen, mit ausgeprägtem Sinn für Regeln. Der andere liebäugelt mehr mit den feinen Künsten, wie zum Beispiel dem Singen. Gar nicht so leicht, dazu zu stehen. Was aber geht, ist, sich mal ein Bild davon zu machen, was Küssen überhaupt sein soll. Ein Schultag ist leicht geschwänzt, also machen sich die drei einen Tag lang auf die Suche nach den schönen und mitunter auch berauschenden Dinge des Lebens.

Der Reiz dieser quirligen Dreikäsehoch-Odyssee liegt in den drei grundverschiedenen Charakteren. Liegt auch im liebevoll detaillierten Defizit des Erwachsenenwortschatzes, im Missverstehen einiger Begriffe und in der Sicht auf Dinge, die Erwachsene (hoffentlich) hinter verschlossenen Schlafzimmertüren tun. Die Eltern werden hier zu frivolen Betthasen, die von übelriechenden Analperlen bis hin zum ledernen Zipp-Gesicht für SM-Intermezzi nichts anderes im Sinn haben. Für die Jungs um die 12 ist das alles seltsames Neuland. Sexualität ist natürlich ein aus biologischer Sicht bereits verstandener Umstand, darüber hinaus allerdings ist die Zeit klarerweise noch nicht reif – von Angebern, die das blaue vom Himmel lügen, mal abgesehen.

Schimpfwörter fallen so einige, geschmacklose Zoten gibt’s natürlich auch, und wen wundert’s, wenn in den Credits Seth Rogen als Produzent auftaucht.  Es waren so Serien wie Wunderbare Jahre, die genau diese körperliche wie seelische Umbruchszeit so zugänglich einfangen konnten. Da braucht es den ganzen, auf dem Wohnzimmertisch ausgegelegten Sexshop nicht, der die staunenden Burschen zum frivolen Dingsda nötigt. Der Reiz liegt also mehr in den stillen Momenten, in der verspielten und blauäugigen Wahrnehmung der Jungs, die aber viel zu selten ihr Potenzial ausspielen können. Stattdessen dominiert eine recht derbe Hysterie zwischen überzeichnetem Slapstick und verzuckertem Erlebnisstress, der die drei zugegeben sympathischen Sechstklässler wohl nächtelang nicht schlafen lassen wird. Das strengt nicht nur die etwas an, sondern auch mich.

Das Abenteuer Sex & Drugs ist als Jugendfilm doch eher für Erwachsene mit Kindern in entsprechendem Alter, die sich spätabends mal Zeit nehmen, in einem Film wie diesen den Erziehungsstress etwas abzubauen. Um vielleicht etwas mehr herauszufinden, was in Jungs diesen Alters eigentlich vorgeht, so kurz vor der Pubertät. Als Beitrag für einen gemeinsamen Filmabend mit dem Nachwuchs taugt Good Boys allerdings reichlich wenig, da muss die Voraussetzung eines recht liberalen Umgangs mit solch pikanten Themen schon gegeben sein. Aber welcher 12jährige will das schon? Es ist das Alter, wo Geheimnisse wie diese einem selbst gehören.

Good Boys

Blau ist eine warme Farbe

A CIRCLE OF LOVE

7/10


blauwarmefarbe© 2013 Alamode Film


LAND: FRANKREICH 2012

REGIE: ABDELLATIF KECHICHE

CAST: ADÈLE EXARCHOPOULOS, LÉA SEYDOUX, SALIM KECHIOUCHE, CATHERINE SALÉE, AURÉLIEN RECOING U. A.

LÄNGE: 2 STD 57 MIN


Ingmar Bergmann hätte diesen Film wohl schlicht und ergreifend mit „Szenen einer Liebe“ betitelt. Einer Liebe wie ein Musterbeispiel für einen gesellschaftsbiologischen Zyklus, ein Circle of Love sozusagen, der Anfang und Ende abdeckt, wie die Grundelemente einer Erzählung mit Anfang, Höhepunkt und Schluss. Dass Liebe so natürlich nicht immer diesen Weg gehen muss, ist sonnenklar. Bei jener der beiden jungen Frauen Adéle und Emma aber folgt diese Gefühlsregung einem Fächer aus Jahreszeiten, einem Kalender aus Freude und Leid. Überhaupt hat Blau ist eine warme Farbe (im Original La Vie d’Adèle – Chapitres 1 et 2) etwas sehr stark Biologisches. Und das nicht nur aufgrund der expliziten, aber niemals obszönen Sexszenen, die allerdings zwischen Regisseur Abdellatif Kechiche und den beiden Hauptdarstellerinnen Adèle Exarchopolous und Léa Seydoux zur Kontroverse führten. Ersterer hätte diese pikanten Takes viel zu oft wiederholen lassen. Da lässt sich durchaus die Vermutung anstellen, dass Männer im biologischen Sinn unter dem Joch ihrer bestimmerischen Libido nehmen müssen, was sie kriegen können. Auch als Künstler. Doch dem Regisseur geht’s dann doch zum Glück um ein bisschen etwas anderes als nur um Sex. Das wäre die körperliche Nähe – etwas, dass Sex beinhaltet, aber nicht ausschließlich.

Im Mittelpunkt dieses fast dreistündigen Epos steht wie schon erwähnt und relativ verloren das Mädchen Adèle, das sich in vielerlei Hinsicht erst finden muss. Ein erster Anhaltspunkt ist die Möglichkeit, dass Frauen für sie wohl das interessantere Geschlecht sein könnten. In diesem Fall eben die blauhaarige Künstlerin Emma, entschlossen lesbisch, aber fasziniert von diesem ziellosen Um-sich-selbst-Kreisens von Adèle. Und fasziniert auch von diesem traurigen und gleichsam sehnsüchtigen Gesicht, wohl eines der traurigsten Gesichter des gegenwärtigen Kinos, das Regisseur Kechiche, wie man an den Closeups oft sieht, ebenso faszinierend findet. Beide finden sich also, in zarter und gleichsam großer Liebe. Aber so eine Liebe, das weiß jeder, brennt nicht auf Dauer so heiß. Das Leben bietet auch noch anderes, nämlich den Alltag aus Ehrgeiz, Selbstverwirklichung und Stress.

Blau ist eine warme Farbe hat 2013 die Goldene Palme gewonnen, allerdings ging diese nicht nur an den Regisseur, sondern auch an die beiden Stars des Films. Eine verdiente Sache? Schauspielerisch auf jeden Fall. Schauspielerisch liefern Seydoux und Exarchopoulos etwas, das vielleicht schon bis an oder sogar über die Grenzen geht. Diese Bereitschaft, sich dermaßen hinzugeben, auch emotional, ist nichts, was sich in der darstellenden Kunst aus dem Ärmel schütteln lässt. Kachiche muss hier recht zurückhaltend interveniert haben, muss hier für eine relativ intime, sehr persönliche Stimmung gesorgt haben, die Filmcrew womöglich aufs Wesentliche reduziert. Anders lässt sich diese Menge an Authentizität gar nicht darstellen. Die Bereitschaft, so viel von sich selbst zuzulassen, ist Kino der Extreme. Im Vergleich zu dieser distanzlosen Intensität erscheint die auf einer französischen Graphic Novel basierende Geschichte in der zweiten Hälfte des Films fast schon zu banal und vorhersehbar, während in der ersten Hälfte die Gefühlswelten der jungen Frauen eine elektrisierende Faszination erzeugen.

Blau ist eine warme Farbe

The Bad Batch

ZURÜCK IN DIE KOMFORTZONE?

7,5/10

 

thebadbatch© 2017 Netflix / Darren Michaels, S.M.P.S.P.

 

LAND: USA 2017

REGIE: ANA LILY AMIRPOUR

CAST: SUKI WATERHOUSE, JASON MOMOA, GIOVANNI RIBISI, KEEANU REEVES, JIM CARREY, DIEGO LUNA, YOLONDA ROSS U. A. 

LÄNGE: 2 STD 59 MIN

 

Als absolutes No-Go, also für Homo sapiens, ist der Verzehr seiner eigenen Spezies. Das wird niemals salon- oder gesellschaftsfähig werden, dafür haben Karnivoren genug andere Quellen, um sich zu bedienen. Ausnahmefälle gibt es. Mir fällt hier sofort der 90er-Katastrophenfilm Überleben! von Frank Marshall ein: eine Footballmannschaft stürzt mit dem Flugzeug in den Anden ab. Hätten die im Schnee liegenden Leichen nicht die notwendige Energie geliefert, wären vermutlich alle gestorben. In der amerikanischen Wüste im Süden von Texas kann es neuerdings passieren, dass umherstreunende Menschen zum kulinarischen Freiwild werden. Warum? Weil in Ana Lily Amirpours Vision einer nahen Zukunft Problemfälle der Vereinigten Staaten von Amerika kurzerhand verbannt werden. Da gibt es einen Zaun, und jenseits des Zaunes existiert kein Gesetz mehr. Niemandsland also. Der jungen Arlen passiert genau das. Sie muss sehen, wo sie bleibt, unter sengender Sonne und eben gejagt von Kannibalen. Gut, manche werden jetzt sagen: The Bad Batch ist vermutlich sicher so ein Horrorslasher mit ganz viel Blut, Gore und verstörenden Bildern. Überraschenderweise ist dieser Film, der so klingt wie astreiner Splatter, zwar manchmal leicht verstörend, aber im Großen und Ganzen überhaupt nicht das, wofür man ihn hält. Es kommt immer darauf an, wie ein Tabuthema wie dieses dargestellt wird. Und auch: in welchem Kontext die Schlachtplatte serviert wird, die zum Glück eben keine ist.

Was Amirpour hier entwirft, ist eine Gesellschaft, die sich, auf ihre Werkeinstellung zurückgeworfen, neu zu organisieren versucht. Da bleibt Kannibalismus die bequemste Methode, um an Nahrung zu gelangen, denn in der Wüste wächst und lebt sonst nichts. Da stellt sich die Frage: wirklich nicht? Den Hintern bekommen die Gestrandeten nicht hoch, es ist ihre Bequemlichkeit, die sie zu Monstern macht. Betrachtet man die Fähigkeit des Menschen, aus dem Nichts heraus einen ganzen Planeten beherrscht zu haben, erscheint das Kentern der traurigen Filmfiguren als ein Schatten dieser Erfolgsstory. Die Abwesenheit von proaktivem Überlebenswillen zaubert so manchen Machtnutzer auf die Bühne, das Fußvolk blickt auf, lässt sich bezirzen und beschallen, an einem Ort namens Comfort. Diese Bequemlichkeit birgt das Ende der Selbstbestimmung und öffnet Tür und Tor für Manipulation. Der angestrebte Traum einer besseren Welt ist wie die Dauerberieselung billiger Fernsehshows, selbst die Statue of Liberty geistert durch eine stagnierende Unbeholfenheit. Aber es wäre nicht ein zutiefst menschlicher Film, ein zutiefst wertesuchender ebenso, wenn unsere Heldin nicht mit wütender Kraft und trotz schwerwiegenden körperlichen Handicaps diese verlorengegangenen Skills finden möchte.

The Bad Batch ist überdies ein enorm körperlicher Film. Die brutalen Szenen der „Fleichverwertung“ sind nie explizit zu sehen. Der Verlust der Extremitäten ist der Verlust von Selbstbestimmung. Der Verzehr ebensolcher im Prinzip das gleiche. Amirpours Film ist ein bemerkenswertes Kunstwerk. Sehr lakonisch, mit staubtrockenem Humor verfeinert. Die teils surreale Bildsprache (vor allem der gigantische, leuchtende Ghettoblaster), so manch ungewöhnlicher Auftritt bekannter Stars und ein eingängiger Sampler erzeugen eine rätselhafte Stimmung, die zwischen Pop Art und filzigem Italowestern einen sonderbaren Umweg einschlägt, um das zu erreichen, was als ungenutztes Potenzial ohnehin schon die ganze Zeit da war.

The Bad Batch

Bernadette

KREATIV DURCH DIE KRISE

6/10

 

bernadette© 2018 Universum Film GmbH

 

LAND: USA 2018

REGIE: RICHARD LINKLATER

CAST: CATE BLANCHETT, BILLY CRUDUP, KRISTEN WIIG, EMMA NELSON, JUDY GREER, LAURENCE FISHBURNE, STEVE ZAHN U. A. 

 

Da sieht man mal wieder, das Geld allein überhaupt nicht glücklich macht. Diese Frau, Bernadette, hat alles, was man nur haben kann. Einen Gatten, der mit Microsoft (Achtung: dieser Film kann Produktplatzierungen enthalten!) große Kohle macht. Eine kluge Tochter, ein herrschaftliches Anwesen, da wird selbst die Addams Family neidisch. Und wenn Familie Fox mal in die Antarktis will, dann fliegt sie einfach in die Antarktis. Kostet doch nur mehrere tausend Dollar pro Person, das zahlt die Portokassa.

Bernadette, die war mal eine berühmte Architektin, eine Koryphäe auf ihrem Gebiet. Eine Visionärin und kreativer Kopf, wie es kaum einen zweiten in dieser fiktiven Realität gegeben haben kann. 18 Visionen will diese, bezugnehmend auf ihre Namensvetterin aus Lourdes mit ihren 18 Sichtungen, umsetzen. Doch schon Idee Nr. 2 hat ein trauriges Schicksal erleiden müssen. Und seitdem gibt’s keine Entwürfe mehr. Familie, Kind und Eigenheim, sowieso sehr extravagant und nach eigenem Geschmack eingerichtet, sollte zukünftig reichen. Tut es aber nicht. Eine Künstlerin wie Bernadette, die wird da ganz unrund. Wenn ein Sonderling also in die Midlife- bzw. Existenzkrise schlittert, dann haben wir es meist mit Woody Allen zu tun. Nein, diesmal ist es aber Cate Blanchett als verschrobene Sonnenbrillenträgerin (auch wenn’s bewölkt ist) und Hassobjekt der Nachbarin. Irgendwas muss sich ändern. Und wenn es die Reise an den Südpol ist, wovon die an Sheldon Cooper erinnernde Neurotikerin nur alpträumen kann.

Talk King und Coming of Age-Guru Richard Linklater meldet sich wieder zu Wort, und ja, auch relativ wortgewaltig. Gesprochen und diskutiert und natürlich auch gejammert wird viel, wie gesagt fast schon in Woody Allen´scher Manier, aber längst nicht so beseelt von raffiniertem Allerwelt-Zynismus. Cate Blanchett sucht ihre Identität, zwischen allerlei Baukunst, fenzy Interieur und auf Kosten vieler. Egoismus kann man ihr nicht wirklich vorwerfen – oder doch? Weltfremdheit zumindest? Ja, die vielleicht. Also sucht sie sich und ihre Leidenschaft fürs Leben, und gemäß der Weisheit, die uns auf jedem einschlägigen Spruchkalender, sofern wir einen haben, morgendlich entgegensinniert, bedarf es manchmal eines Orts- bzw. Perspektivwechsels. Hatte ich nicht die Antarktis erwähnt? Genau – dorthin verschwindet Bernadette plötzlich. Ohne Auf Wiedersehen zu sagen. Gut, wenn schon Auszeit, dann richtig. Allerdings hat Linklater aufgrund seines womöglich begrenzten Budgets Grönland der ewigen südlichen Eiswüste den Vorzug gegeben. Die Pinguine sind wahrscheinlich aus dem Tiergarten. Aber sei´s drum, so viel Low Budget muss sein. Es geht doch um die Message dahinter. Um den Frust von in die Enge getriebener Künstler. Die, sofern sie nicht was weiß ich was kreieren können, anderen auf den Wecker fallen.

Bernadette ist ein filmgewordenes Unterschriftesammeln für ein Mehr an Verständnis für jene, die nicht unbedingt das Rad neu erfinden, aber neu gestalten können. Die für mehr frischen Wind sorgen können – wenn man sie lässt – oder sie sich selbst lassen. Natürlich findet da Cate Blanchett vorzüglich in ihre Rolle, vielleicht aber auch, weil sie ein bisschen selber so sein könnte. Exaltiert, abenteuerlustig, und manchmal, wie jeder Mensch auch, von liebenswürdiger Nervigkeit.

Bernadette