Einfach das Ende der Welt

WER NICHT KOMMT, BRAUCHT NICHT FORTGEHEN

7,5/10

 

endederwelt© 2016 Weltkino

 

LAND: KANADA, FRANKREICH 2016

REGIE: XAVIER DOLAN

MIT GASPARD ULLIEL, VINCENT CASSEL, NATHALIE BAYE, LÉA SEYDOUX, MARION COTILLARD

 

Doch Louis kommt. Er kehrt zurück zu seiner Familie. Irgendwo in Frankreich, zu einer unbestimmten Zeit. Denn Louis wird sterben. Sein Weg nach Hause ist ein Kommen, um wieder fortzugehen, und zwar für immer. Im Haus seiner Familie, das nicht das Haus seiner Kindheit ist, trifft er auf seine Mutter, seine Schwester, seinen Bruder und dessen Frau. Warum Louis lange nicht daheim war, verharrt im Unbestimmten. Womöglich ist der schweigsame Sohn ein Journalist, hat hochgelobte Reportagen verfasst. Zumindest so viel wird klar. Alles andere oszilliert in einer traumartigen Wolke des Unnahbaren dahin.

Der frankokanadische Kino-Exzentriker Xavier Dolan hat sich eines Theaterstücks des nicht weniger exzentrischen, aber in Frankreich heiß begehrten Dramatikers Jean-Luc Lagarce angenommen und ein seltsam anmutiges Kammerspiel auf die Leinwand gebracht, welches sich durch die adaptierte, formelhafte Sprache der Bühnenvorlage zu einem kunstformübergreifenden Hybrid verwandelt. Einfach das Ende der Welt atmet sowohl die Luft des Theaters als auch jene eines frei modulierten Kinos ohne Vorgaben und gerät zum Glücksfall, wenn es heißt, einer literarischen Sprache gerecht zu werden und die große Leinwand für sich zu nutzen. Mit Schauspielgrößen wie Marion Cottilard, Vincent Cassel, Nathalie Baye und Léa Seydoux gibt Dolan das Bühnenstück nicht irgendwem in die Hände, sondern bereits etablierten Namen, die aus dem Vollen schöpfen, was das Familiendrama nur hergeben kann. Bemerkenswert ist, dass der etwas mehr als eineinhalbstündige Film seine Geschichte so unartikuliert wie möglich lässt und selbst andauernd von einer unfertigen Metamorphose des Geschehens zur nächsten mäandert. Alles wabert, verharrt in Unschärfe. Das Heimkommen des Sohnes ist ein Ereignis, das alle verunsichert, geradezu verstört, und niemanden wirklich glücklich stimmt. Glücklich war in Lagarce´s Familie von vornherein keiner. Irgendwas ist da im Argen. Sei es die unkontrollierte Wut des älteren Bruders oder das aufgesetzt schrille Gebärden der Mutter. Louis kommt und will vom Tod berichten, der seiner Krankheit folgen wird. Doch statt Louis zuzuhören, wollen die Verwandten gehört werden. Da auch ihnen nie jemand zugehört hat, und da auch ihnen ihr Recht, sich mitzuteilen, Zeit ihres Lebens verwehrt wurde, löst sich nur Gestammel von ihren Lippen. Während der Heimkehrer gar nichts sagt.

Dolan´s Film ist sinnlich fotografierte Kunst der Sprache, die vom Ende der zwischenmenschlichen Achtsamkeit erzählt. Von der Unfähigkeit des Zuhörens und dem Scheitern des Gehörtwerdens. Vom Aneinander vorbeireden und aus den Augen verlieren. Ein melancholischer Reigen, der sich da auftut, die Kamera im Widerspruch der Missstände, nähert sie sich doch aufdringlich nahe den Gesichtern an, studiert und interpretiert sie, während sie sich abmühen, Sinnvolles und Wesentliches zu artikulieren. Irgendwann findet Louis den Moment, Lebewohl zu sagen. Bis dahin darbt und leidet der Zuseher mit, aber es bleibt eine Art Mitleid der Unparteiischen, die im weit genug entfernten, objektiven Abstand die Zerrüttung des großen Ganzen sieht. So verharrt die Familie im ewigen Um-sich-Kreisen, ohne den anderen zu umkreisen. Übrig bleibt Louis, der damit, dass er nichts sagt, alles und viel mehr gesagt hat als die anderen.

Als ehemaliger Dramatiker und Theatergeher sind mir ähnliche Dramen wie jene von Lars Noren oder Jon Fosse ziemlich geläufig. Wer mit diesen Dramatikern oder zum Beispiel mit dem grandios verfilmten Stück Im August in Osage County von Schauspieler Tracy Letts etwas anfangen kann, sollte sich Einfach das Ende der Welt nicht entgehen lassen. Französisches Bühnenkino, kopflastig wie der Schwindel lange vor dem Kater. Es ist lakonischer, halbschwerer Filmgenuss, der so aussieht als wäre das Medium der Fotografie die Wahl des visuellen Filmstils, dessen ausgesuchte Musikstücke die irrlichternde Stimmung unterstreichen und sich tags darauf garantiert in der eigenen Playlist wiederfinden werden.

Einfach das Ende der Welt

Lucky

KEINER KOMMT HIER LEBEND RAUS

6/10

 

lucky© 2017 Alamodefilm

 

LAND: USA 2017

REGIE: JOHN CARROLL LYNCH

MIT HARRY DEAN STANTON, DAVID LYNCH, RON LIVINGSTON, TOM SKERRITT U. A.

 

Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen – man weiß nie was man bekommt. Das hat vor vielen vielen Jahren mal Forrest Gump gesagt. Zu einer Zeit, da war Harry Dean Stanton womöglich noch fit wie ein Turnschuh. Das Leben kann aber auch so sein wie der Fluchtversuch einer Schildkröte, genauer gesagt einer Landschildkröte. So sehr sie auch ihrem Schicksal zu entkommen versucht, den sprichwörtlichen Holzpyjama trägt sie immer mit sich herum. Zu Lebzeiten ihr trautes Heim, wird ihr Panzer irgendwann zur Gruft. Dem Tod, dem Ende allen organischen Lebens, lässt sich nicht von der Schippe springen. Diese Erkenntnis fährt dem steinalten Cowboy nach einem im wahrsten Sinne des Wortes niederschmetternden Aha-Moment bis in die arthritischen Knochen. Auch das Leben eines Einzelgängers wie Lucky wird bald ein Ende haben. Die Ungewissheit, wie lange noch, das Bangen vor dem finsteren Nichts, der absoluten Leere, macht den vermeintlichen Atheisten plötzlich schwer zu schaffen. Eine Scheiß-Angst hat er plötzlich. Da kann man noch so gesund sein, irgendwann gibt die Maschine Mensch seinen Geist auf. So alt wie ein Kaktus zu werden, oder eben gar so alt wie eine Landschildkröte, das wäre schon was. Und das dürre Männlein, das sich jeden Morgen vor dem Aufstehen einen Sargnagel anheizt, sich schnäuzt, kämmt, brav seine Yoga-Übungen absolviert und zu seinem Lieblings-Café mehr stapft als schlendert, um das Wort des Tages beim Kreuzworträtseln zu lösen, blickt erst sehr spät, aber doch, auf ein viel zu schnell vergangenes Leben zurück.

Das Leben ist nichts ohne den Tod. Debütregisseur John Carroll Lynch orientiert sich an lebensphilosophischen Roadmovies wie About Schmidt oder Nebraska und skizziert einen kleinen, feinen One-Man-Spätwestern, der in einer Aneinanderreihung kleiner Lokalszenen und Gesprächsfragmente vor sich hin sinniert wie ein Friedhofsbesucher, der unter dem Grabmal ehemals verwandter Seelen eine Rast einlegt und im Dämmerschlaf den Geheimnissen des Universums näher rückt, der Entropie und dem Zustand des Nicht-Seins. Harry Dean Stanton hat die richtige Visage dafür. Mit seinem eingefallenen Resting-Asshole-Face zeigt er nach außen hin dem Unvermeidbaren den Stinkefinger, im Inneren aber rollt er sich des Nächtens unter seiner Decke zusammen, verletzlich wie ein Kind und fürchtet sich vor der Einsamkeit. Doch Alleinsein muss nicht zwingend einsam sein. Aber was, wenn doch? Die kauzige Odyssee in die Gedankenwelt eines Menschen, der am Ende seines Weges ankommt und nicht weiß, wer oder was ihn überhaupt abholt, ist angereichert mit allerlei Symbolik und geradezu metaphysischen Einsprengseln wie das dubiose rote Telefon oder das Mysterium des rot beleuchteten Kellers (kann natürlich von der Lichtdeutung her klarerweise ein Laufhaus sein, aber sicher weiß man es nicht). Überhaupt zieht sich die Farbe Rot bedeutungsschwer durch den Film. Farbe überhaupt spielt eine Rolle. Sogar Lucky´s heißgeliebte Bloody Mary setzt bewusste Akzente. Aki Kaurismäki macht es gelegentlich ähnlich. In seinem Film Le Havre stiehlt sich die Farbe Türkis in fast jede Szene.

Kann sein, dass der Meister des Surrealen, David Lynch, seinen Einfluss geltend gemacht hat. Nicht nur, dass Dean Stanton immer ein gern gesehener Gast in Lynch´s Filmalbträumen war – privat war da sicher sowas wie Freundschaft. In der Stammbar von Lucky treffen beide nun als fiktive Gestalten aufeinander. Der knorrige Stanton und der stets zertreute David Lynch als die verblüffende Erscheinung eines in die Jahre gekommenen James Stewart. Mit Hut und Anzug und auf der Suche nach seinem Lebenstier, der Schildkröte Präsident Roosevelt, postuliert er mit verhaltener Stimme und melancholischer Traurigkeit die Metaphorik eines Reptils wie diesem und entzündet scheinbar ganz unbeabsichtigt einen Diskurs nicht nur über die Verbrüderung mit dem Tod als auch mit der Akzeptanz des Verlustes. Doch weder Lucky noch Lynch resignieren oder huldigen einem fatalistischen Weltbild. Das Leben ist ein andauerndes Klarkommen. Mit oder ohne Yoga, mit Wut im Bauch oder einem Lächeln. Das unausweichlich Tröstende kommt bestimmt. Und hat auch Harry Dean Stanton kurz nach den Dreharbeiten ereilt. Als ob er es gewusst hätte, so lässt sein letzter Blick direkt in die Kamera eine gewisse Ahnung aufblitzen. Carroll Lynch´s Lucky ist wie eine Graphic Novel, skurril und plakativ. Gleichzeitig aber auch anekdotenhaft, manchmal sehr bürgerlich und in unerwarteten Momenten dort sperrig, wo das Erzählen gerade seinen Fluss hat. So gesehen und mit Nachsicht betrachtet ist Lucky filmgewordener sozialer Besuchsdienst. Ignoriert man eigenbrötlerisch unsympathische Gemeinheiten, zahlt sich Zuhören jedenfalls aus. Denn eine anteilnehmende Begegnung mit dem Alter ist oft auch eine Begegnung mit dem eigenen Status Quo des Lebens.

Lucky

Der seidene Faden

LIEBE AN DER NADEL

7,5/10

 

BQ5A9653.CR2© 2017 Universal Pictures 

 

LAND: USA 2017

REGIE: PAUL THOMAS ANDERSON

MIT DANIEL DAY-LEWIS, VICKY KRIEPS, LESLEY MANVILLE U. A.

 

Er hat gesagt, es sei sein letzter Film. Keine Ahnung, wie viel man darauf geben kann. Dass er aufhören will hat Steven Soderbergh auch gesagt – und jetzt ist er wieder zurück. Die Rolling Stones sagen das auch jedes Jahr. Und jedes Jahr ist es das letzte Konzert. Aber bei Daniel Day-Lewis kann ich das wirklich nur schwer einschätzen. Denn der Mann ist zweifellos ein Sonderling. So, wie er ein Rollenprofil studiert und an die Performance seiner Figuren herangeht, so macht das niemand anderer. Denn Daniel Day Lewis spielt nicht nur – er verwandelt sich. Ohne mehrjähriger Vorlaufzeit und Fachstudium diverser Künste, welche die zu spielende Figur beherrschen muss, geht da gar nichts. Und das kann natürlich auf die Dauer anstrengend sein. Diesen Überperfektionismus verlangt natürlich niemand, aber Day Lewis kann aus seiner Haut genauso wenig raus wie aus seinen Avataren während der Drehzeiten.

In diesem seinen wohl letzten Auftritt geht er die Sache genauso akribisch an – zwei Jahre Studium bei einem Kostümschneider fürs Theater sind da selbstredend. Das Ziel: den fiktiven Schneider Reynolds Woodcock zu verkörpern, einen hochnoblen Modedesigner aus London, erste Adresse für die High Society, exquisiter geht’s kaum mehr. Day-Lewis ist für diese Rolle wie geschaffen, einzig Jeremy Irons wäre für den snobistisch-pedantischen Workaholic ebenso denkbar. Doch Paul Thomas Anderson, der schon in There will be Blood mit Day-Lewis das richtige Händchen hatte, wollte auf alle Fälle der sein, der dem Grandmaster des präzisen Actings das Farewell stilsicher auf den Leib schneidert. Kann sein, dass Day-Lewis mit der Rolle des Edelmannes eventuell etwas unterfordert war – herausgeholt hat er aus dieser Figur wirklich alles, was sie jemals hätte bieten können. Mehr ist da nicht, und mehr als notwendig würde der Schauspieler auch niemals hineininterpretieren. Eine punktgenaue Arbeit, bis auf den letzten Nadelstich. Nicht mehr, nicht weniger. Und dieser Reynolds Woodcock agiert vor einer Kamera, die, wüsste man es nicht besser, zu einem Film von Stanley Kubrick gehören könnte. Nur war Stanley Kubricks letzter Film, Eyes Wide Shut, bereits im Jahre 1999 abgedreht, und während der Dreharbeiten war der perfektionistische Visionär verstorben. Wäre diese Tatsache unbekannt, wäre Der seiden Faden wohl Kubrick´s definitives Alterswerk. Wohl sein leisester, nuancenreichster Film, in hypnotischen Bildern und einem neugierigen Auge, das Day-Lewis und Vicky Krieps in jeden Winkel des Herrenhauses hin folgt, in welchem der Film hauptsächlich spielt. Vicky Krieps kenne ich bereits aus Marie Kreutzer´s Was hat uns bloß so ruiniert? sowie aus Raoul Peck´s Der junge Karl Marx – sehr unterschiedliche Rollen, die auch gar nichts mit ihrer Figur der lebendig gewordenen Modepuppe mit den perfekten Maßen gemeinsam haben. Krieps ist ein relativ neues Gesicht im Kino – ein interessantes, unverwechselbares. Gut nachvollziehbar, warum der kreationssüchtige Egomane mit dem Mutter-Komplex gerade sie zu sich nach Hause holen musste.

Zugegeben, Der seidene Faden ist ein Film, der es anfangs nicht unbedingt leicht macht, ins Geschehen einzutauchen. Die Welt des Reynolds Woodcock ist eine weit entfernte, mit der wohl nur Karl Lagerfeld und Co sofort auf Du und Du wären. Wohin das ganze führen soll, weiß der Zuseher wohl erst, wenn die junge Alma in der häuslichen, starren Geschwisterbeziehung zwischen Reynolds und seiner Schwester Cyril (großartig distinguiert: Lesley Manville) Unruhe hineinbringt. Und dann ist bald schon klar, woran wir hier sind. Der seidene Faden ist so fein gesponnen wie die reinste Seide, und erinnert an seiner hauchzarten, eleganten Düsternis an die Romane von Daphne DuMaurier. Ihre Suspense-Dramen spielen ebenso wie der Seidene Faden mit Etikette, Gesellschaft und einer unheilvollen Liebe. Mit Geheimnissen und Stimmungen, die wie Nebel durch die Räumlichkeiten der Schneiderwerkstatt dringen. Ein Gefühl von Todessehnsucht macht sich breit, das bemerkt auch Reynolds Woodcock. Doch Alma, die ihn fasziniert und zugleich verstört, und für den Schnittmeister und Modeschöpfer wie eine Alma Mahler-Werfel Leidenschaften entfacht und bis an die Grenzen gehen lässt, ist wie ein Geist, den man gerufen hat und nicht mehr loswird. Oder loswerden will. Wie Rebecca. Oder Cousine Rachel.

Paul Thomas Anderson hat ein betörendes Liebesdrama geschneidert, das zwischen stillen Closeups, opulenten Settings und Stillleben aus der Modezunft auf eine große Leinwand gehört und so wirkt wie das Vermächtnis eines Meisters. Der Filmemacher kann zufrieden sein, passt sein Werk doch wie angegossen. Mit unsichtbaren Stecknadeln im Saum, die wehtun und gleichermaßen glücklich machen.

Der seidene Faden

Untitled

REISE INS ICH

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untitled

Am 23. April 2014 verstarb der österreichische Filmemacher Michael Glawogger im westafrikanischen Land Liberia an Malaria. Er war gerade mal 57 Jahre alt. Jahrzehnte eines kreativen Lebens, in denen er vor allem durch seinen dokumentarischen Spürsinn und den speziellen Blick auf das große Ganze als ganz Großer des österreichischen Filmschaffens geschätzt wurde und wird. Mit seinen Werken setzte ich mich erstmals 1998 auseinander – mit die Kino-Doku Megacities. Eine hypnotische Odyssee tief ins Herz globaler Ballungszentren. Schon damals waren seine Bilder und die Art des Erzählens anders, als man es von sachkundigen Reportagen bislang gewohnt war, Denn das, was Glawogger uns mitteilen wollte, ging tiefer. Berührte die Frage nach dem Woher und Wohin des Menschseins auf lakonische, bittere, entfesselte Art und Weise. Die Weltreise, das gigantische neue Projekt des Visionärs, welches in erster Linie vom niemals ruhenden Umherwandern des getriebenen Wesens namens Mensch erzählen sollte, geriet wider Erwarten aller zu Glawoggers ureigener Passion, zum finalen Kreuzweg, zum letzten Gang. Kurz: zu einem filmischen Vermächtnis.

Bilder, Momentaufnahmen, Szenen menschlicher Mobilität. Die Sammlung an Filmmaterial, die während des ersten Teilstücks von Wien nach Liberia zusammengetragen wurde, hat Glawogger´s Regiekollegin Monika Willi nun zu einem zutiefst berührenden, unberechenbaren und nachdenklich stimmenden Weckruf des Geistes zusammengeschnitten. Entstanden ist dabei ein Meisterwerk der dokumentarischen Erzählkunst, das so weit von klassischem Infotainment entfernt ist wie Nacktschnecken von Star Wars. Untitled – das namenlose, bewusstseinsverändernde Wunderwerk – lässt das Kinopublikum in ihren eingefahrenen Sehgewohnheiten allein zurück und beschert vor allem jenen, die sich völlig erwartungslos und open-minded dem 100minütigen Experiment hingeben, völlig neue Erfahrungen.

Das liegt alleine schon daran, dass der Film keiner linearen Geschichte folgt. Das Aufeinanderfolgen der Szenen und textfreien Bildmeditationen gleicht einem scharfkantigen Mosaik, allerdings mit Bruchstücken, die nicht zueinanderpassen, sondern bewusst und vehement kontrastieren wollen. Monika Willi setzt Glawogger´s Bilder wie nicht mehr zuordenbare Scherben scheinbar willkürlich zueinander. In dieser Willkür aber, in dieser unstringenten und scheinbar zusammenhanglosen Unordnung steckt, viel tiefer als auf den ersten Blick erkennbar, eine Metamorphose der Wahrnehmung. Ein Bereitmachen auf den Rückblick auf ein Leben, ein Reflektieren des eigentlichen Sinns vom unentwegt bewegten Dasein. Untitled schenkt dem Zuseher etwas ganz Bestimmtes, nämlich eine Art Interaktivität. So wie ein abstraktes Gemälde jeden einzelnen Betrachter auf eine andere, sehr persönlich interpretierte Reise mitnehmen kann, so ist das namenlose Gebet der Bilder ein kryptisches Buch voller Zitate, Gleichnissen über das Leben und Gedanken über den Tod. Niedergeschrieben von Michael Glawogger, in einzelnen Szenen rezitiert von Birgit Minichmayer mit ihrer unverwechselbaren Theaterstimme. Zwischen den Sätzen bleibt ein Vakuum, das gefüllt werden will von eigenen Gedanken. Kaum ein anderer Film vermag es in solch einer Intensität, den Zuseher in ein Stimmungsgewitter zu katapultieren, dass minutenweise wechselt und durch dieses emotionale Stimulieren den Motor eigener Gedankengänge anwirft. Es ist eine Zwischenwelt zwischen Wachzustand und traumbeseeltem Schlaf. Ein Niemandsland zwischen Leben und Tod. Letzte Bilder, ein wehendes Hemd. Streunende Hunde. Menschen hinter den Fenstern. Einbeinige Fußballspieler. Esel im Staub. Und immer wieder rollende Karren, trottendes Vieh. Gehende Menschen, die scheinbar nirgendwo ankommen. Bilder, nach denen das Nichts kommt. Und eine Kamera, die sich hindurchzwängt zwischen Menschen, Tieren, baufälligen Gemäuern. Glawogger beschert uns mit seinem Gespür für die Essenz des menschlichen Miteinanders grandiose Aufnahmen, die Staub, Schweiß und Salzwasser berührt haben. Die, meist aus bodennahem Blickwinkel, die Monstrosität von Fremdartigkeit und Einsamkeit hervorkehren.

Mit seinen letzten Streifzügen über den Erdball schafft Glawogger posthum sein Opus Magnum, seinen besten Film, indem es von nichts zu handeln scheint und wo es gleichzeitig um alles geht. Das den gemeinsamen Nenner seiner Werkschau präsentiert. Einen Schlussstrich aus Neugier, Trauer, das Gefühl von Freiheit und Neuanfang. Untitled ist kein Film für Zwischendurch. Kein Experiment, aus dem man ungeschoren wieder davonkommt, so rätselhaft scheint seine Mechanik. Es ist ein Erlebnis, für das man bereit sein muss. Ein unberechenbares Philosophikum, das sich jedem Genre entzieht. Dem sich sein Betrachter aber nicht entziehen kann.

 

Untitled

Moonlight

BLAU IST EINE SCHWARZE FARBE

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moonlight

And the Oscar for the Best Picture 2017 goes to … La La Land. Oh no, sorry – der tatsächliche Gewinner für den besten Film des Jahres war dann doch wer ganz anderer. Jemand, der eine ganz andere Nische besetzt hält. Nämlich die reinsten Independentkinos. Denn Moonlight, so kann ich getrost sagen, ist ein modernes Meisterwerk des Black Cinema. Dass es so ein Film trotz seiner Außenseiterthematik letzten Endes so weit nach vorne schafft, ist einerseits überraschend. Kein Musical, kein Epos – nichts, was die breite Masse unterhält oder gar betrifft. So weit hat sich die Academy von Straßenfegern wie Ben Hur und ähnlichen Abräumern bislang noch nie entfernt.

Die elitäre Jury und oberste Instanz, die ihren Einfluss über Leben und Sterben von Filmen und ihren Stars weltweit unter führendem, flatterndem Banner hält, beweist durch das Ergebnis dieser Wahl einmal mehr, keine korrupte Verschwörung zu sein, sondern kunstsinniges Gewissen. Was aber auffällt, ist die Diskrepanz der nominierten Filme zum Vorjahr. Hatte man 2016 noch von allen Seiten gewettert, die Oscarnacht weißgewaschen zu haben, könnte man 2017 von einer kalkulierten Wiedergutmachung sprechen, und das sogar ungeachtet der Qualität der Filme. Hauptsache, weiße und schwarze Künstler halten sich die Waage. War dem wirklich so? Oder ist alles reiner Zufall?

Ungeachtet dieses Verdachts ist Moonlight unter den nominierten Filmen mit schwarzem Anteil wohl tatsächlich der künstlerisch hochwertigste Beitrag. Wenn überhaupt der künstlerisch hochwertigste Beitrag im Vergleich zu all den anderen Filmen. Der afroamerikanische Regisseur Barry Jenkins entzieht sich allen möglichen Einflüssen, die ihn in seiner Arbeit vielleicht beeinträchtigt hätten, und hat einen in seiner Bildsprache und Regie zutiefst eigenständigen Film geschaffen, der seine Geschichte so nuanciert, zartfühlend und metaphorisch erzählt, dass einem zwar erst im Nachsinnen über das Gesehene viele bildsprachliche Details erschließen, sich diese aber noch dazu zu einem erfüllenden Ganzen zusammenschließen. Diese Vielschichtigkeit entdeckt man in den Filmen von Kieslowski oder Tarkowskij, europäischen Meistern, die ohne Worte mehr erzählen konnten als mit dichten Dialogen. Jenkins ist auch so einer – jemand, der weiß, was er von seinen Schauspielern verlangen kann, in diesem Fall Blicke, Gesten oder die Unmittelbarkeit der Kamera. Wie in der französischen Nouvelle Vague erfindet Moonlight das Black Cinema auf eine ganz besondere Art neu. Statt Betroffenheitskino begegnen wir im auf dem Theaterstück In Moonlight Black Boys Look Blue von Tarell Alvin McCraney basierenden Coming of Age-Biografie einer zaghaft unausgesprochenen Liebesgeschichte, in der es nur im weiteren Sinne um Homosexualität geht. Die aber auf jeden Fall mit ihrer Indirektheit besticht und die drei Episoden, in welche die Geschichte gegliedert ist, so kongenial ineinander übergehen lässt, dass der Zuseher trotz der drei unterschiedlichen Darsteller, die ein und dieselbe Person spielen, immer ein und denselben Menschen sieht – den kindlichen, jungen und erwachsenen Chiron. Wie die drei Darsteller es geschafft haben, ihr jüngeres Ich so dermaßen zu spiegeln und aufzufangen, ist ein filmisches Phänomen. Bisweilen erinnert Moonlight an Linklaters meisterhafte Jugendchronik Boyhood, aber in seinen Sinnbildern auch an Lee Daniel´s Precious. Beides Independentfilme, beides grundeigene Werke – aber keines tritt so sehr aus seinem Schatten wie Moonlight. Jenkins spielt mit den Farben, mit Unschärfen und intensiven Blicken wie ein Maler mit seiner Leinwand. Zwischendurch bahnt sich nüchterne Trostlosigkeit durch die Vororte von Miami, um sich dann wieder von einer unkitschigen Poesie, wie es nur das Kino schafft, forttreiben zu lassen.

Das Mondlicht, wie es in diesem Film heißt, lässt die Haut schwarzer Menschen blau erscheinen. Ein lyrischer Satz, erzählt von Chirons Lebensmensch Kevin. Dass damit und in weiterer Folge die Selbstfindung zum in sich ruhenden Ich gemeint ist, auch das sickert erst langsam ins Bewusstsein. Somit beeindruckt, beschäftigt und begleitet Moonlight das weltoffene Publikum noch bis weit jenseits der dunklen Kinowände.

In Berry Jenkins Film geht es nicht um die Farbigkeit an sich. Auch nicht um irgendeine ethnisch gelagerte Problematik. Zu vergleichen wäre dies mit dem asiatischen Kino. Die Welt, in der Moonlight spielt, kennt keine Weißen. Das Miami des Chiron ist wie das Shanghai eines Wong Kar Wai eine Welt, in der die Hautfarbe nicht hinterfragt wird. In Wahrheit geht es in Moonlight um ganz andere Dinge. Eben um die Wahrheit – wer man selbst zu sein hat. Ob wir im Licht der Nacht auch anders aussehen? Egal, Hauptsache man weiß, welche Farben wir in uns tragen.

Moonlight – ein erfüllender Filmabend und der Beginn einer neuen, autarken, starken Filmgattung. Eben ein ganz anderes, unamerikanisches American Cinema.

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Moonlight