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DIE SCHANDE VON FRÜHER

5,5/10


Home© 2021 Weltkino


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2020

BUCH / REGIE: FRANKA POTENTE

CAST: JAKE MCLAUGHLIN, KATHY BATES, AISLING FRANCIOSI, DEREK RICHARDSON, JAMES JORDAN, LIL REL HOWERY, STEPHEN ROOT U. A. 

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Mit ihrer Rolle als rothaarige Lola im Duracell-Betrieb hat sie wohl den Sprung nach Übersee geschafft – Franka Potente war seitdem überall und nirgends, eine schwer zu verortende Schauspielerin, die sowohl an der Seite Matt Damons in Doug Limans Bourne Identität auf großer Leinwand als auch in fragwürdigen Produktionen wie Creep zu sehen war. Tom Tykwer hat sie ebenso besetzt wie Stefan Ruzowitzky oder Ridley Scott in der viktorianischen Düster-Thrillerserie Taboo mit Tom Hardy. Dann war wieder lange nichts, und jetzt plötzlich das! Franka Potente führt nun auch Regie, und zwar wieder in Übersee. Ob sie‘s dort nochmal probiert? Kann ja gut sein.

Jedenfalls nicht temporär, sondern dauerhaft kehrt im Familiendrama Home ein Ex-Knacki an den Ort seiner Jugend zurück, was ja weiter nicht so schlimm wäre, denn das alte zuhause gibt es noch, und die liebe Mama guckt auch noch aus dem Fenster. Nur die ist schon beträchtlich älter als zu dem Zeitpunkt, als Marvin hinter schwedischen Gardinen verschwand. Das Delikt: Mord. In einer Kleinstadt, wie sie in  Home als Location auszumachen ist, bleibt für so ein Vergehen Ächtung auf Lebenszeit, da ist es schließlich egal, ob dieser Jemand für seine Sünden gebüßt hat oder eben nicht. Einmal Mörder, immer Mörder. Dabei fällt mir ein – erst kürzlich gab’s auf Netflix etwas ähnliches, mit Sandra Bullock in der Hauptrolle und unter der Regie von Nora Fingscheidt (Systemsprenger). Bullock war in The Unforgivable ebenfalls eine, die nach rund zwanzig Jahren wieder das Licht der Alltagswelt hat erblicken dürfen. Bei so einem Mord bleiben dem Opfer immer noch genug Angehörige, die Rache schwören. So auch in Franka Potentes kleinstädtischem Reue- und Neuanfangsdrama. Der liebe Gott spielt da auch eine Rolle, und nichtsdestotrotz kann das Gebot der Vergebung plötzlich keiner mehr lesen.

Schön, die großartige Kathy Bates weitab von ihrer Paraderolle in Misery als pflegebedürftige Unterschicht-Raucherin zu sehen. Mit ihren langen grauen Haaren schlurft sie gottergeben und recht desillusioniert über die morsche Veranda des kleinen Eigenheims und weiß das Auftauchen ihres verlorenen Sohnes gar nicht mal richtig zu schätzen. Wohl auch, weil sie ahnt, dass seine Rückkehr unter keinem guten Stern steht. Franka Potente hat für ihr Regiedebüt gleich auch das Script mitgeliefert und sich dabei aber kaum bis gar nicht aus dem Erwartbaren rausgehalten. Über Trauma, Vergebung und Aufarbeitung weiß Potente so einiges zu berichten, und manche Szenen, die nicht nur beschämt die Missstände des White Trash aus den Augenwinkeln betrachten und sich dann weiterbegeben, suchen die Auseinandersetzung, wohlwissend, dass da durchaus Unschönes zum Abbild wird. Da ruht ihr Blick fast so gebannt auf das soziale Dilemma wie bei Nora Fingscheidt – nur tröstet sich Potente mit hollywood’scher Zuversicht über all die Probleme hinweg und überrascht auch keineswegs mit dem, was in diesem Melodrama letzten Endes seinen Weg geht. Ich will nicht sagen, dass es ausgetretene Pfade sind, die hier beschritten werden, und vielleicht bin ich auch in Sachen Menschliches Verhaltens zu zynisch geworden, aber dennoch: Home entwickelt seine Geschichte viel zu sortiert und artig nach moralischem Lehrbuch.

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The Unforgivable

MORD VERJÄHRT NIE

6/10


theunforgivable© 2021 Netflix


LAND / JAHR: USA, DEUTSCHLAND 2021

REGIE: NORA FINGSCHEIDT

CAST: SANDRA BULLOCK, AISLING FRANCIOSI, VINCENT D’ONOFRIO, VIOLA DAVIS, JON BERNTHAL, ROB MORGAN, RICHARD THOMAS, LINDA EDMOND U. A.

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


Vor zwei Jahren hat uns die rabiate Helena Zengel im deutschen Sozial- und Erziehungsdrama Systemsprenger die Ohren vollgeschrien. Mittlerweile ist das talentierte Mädchen schon mit Tom Hanks im Wilden Westen gewesen. Bin schon neugierig, wo es sie das nächste Mal hin verschlägt. Und ob auch Rollen abseits der verhaltensauffälligen Minderjährigen interessant wären. Nora Fingscheidt, die Regisseurin hinter Systemsprenger, hat den Schritt nach Übersee ebenfalls gemacht. Um einen Film mit Sandra Bullock zu drehen. Tom Hanks, Sandra Bullock. Könnte sein, dass das ganz große Business die neue Spielwiese wird. Muss es aber nicht, wie man zum Beispiel an Stefan Ruzowitzky sieht. Der dreht wieder lieber in Europa. Auch sehr schön – und ganz sicher auch kreativer.

In The Unforgivable bleibt Nora Fingscheidt allerdings jenem Genre treu, mit welchem sie von sich reden machte: dem Sozialdrama. Das kann sie gut, das merkt man. Doch Fingscheidt war für den Film nur zweite Wahl. Überhaupt hätte Christopher McQuarrie Regie führen sollen, mit Angelina Jolie in der Hauptrolle. Es ist anders gekommen – glücklicherweise. Denn bei Angeline Jolie hätte man nie so genau gewusst, ob sie selbst mit der Tragödie des Films hadert oder ihre Filmfigur. Zuviel Glamour stört leider auch die Authentizität. Bullock kennen wir zwar auch alle, doch die hat ein deutlich variantenreicheres Spektrum zu bieten, was Schauspiel angeht. Und Fingscheidt? Der Sozialfall, der nicht in die Norm passt, ist zwar nicht so systemsprengend und unbezwingbar wie Helena Zengel, hat aber dennoch genauso die Arschkarte gezogen. Der größte Unterschied: Während man sich beim wütenden Mädel die Zähne ausgebissen hat, beißt Sandra Bullock ihre Zähne an ihrer Umwelt aus. Beides nicht schön. Mit anderen Worten: einmal Mörder – immer Mörder.

Damit muss also Sandra Bullock alias Ruth Slater nach 20 Jahren Frauengefängnis klarkommen. Auf ihr Konto geht der Mord an einen Sheriff. Die Sünden sind offiziell zwar abgebüßt, als Copkiller ist man aber generell Persona non Grata. Aber irgendwie muss es ja weitergehen. Und irgendwie muss auch das letzte bisschen Familie wiedergefunden werden – die kleine Schwester Katie, die Ruth mit fünf Jahren zuletzt gesehen hat. Das wäre zwar alles mühsam, aber machbar gewesen, gäbe es nicht noch die Söhne des ermordeten Polizisten, die Rache üben wollen.

Mit The Unforgivable, der Verfilmung einer Fernsehserie namens Unforgiven, lässt Netflix kein Drama ungelebt. Das Tragische und all die Entbehrungen lassen sich außerdem von Sandra Bullocks verlebtem Konterfei wunderbar ablesen. Make Up-Artists haben hier alles Stücke gespielt – und sogar noch mehr: mit verbissener Leidensmine und einem kurz vor der Explosion stehendem Grant, fest verankert im Mimischen, schleppt sich Bullock von einer Entbehrung zur nächsten. Reue, Desillusion, etwas Resignation und schreckhaftes Sozialverhalten ergeben in Summe das, was die Oscarpreisträgerin darstellt. Ein durchaus durchdachtes, vielleicht etwas zu grimmiges Bild in schier endlosen Grautönen. Was ihr aber fulminant gelingt, ist, im Laufe der Geschichte langsam, aber doch, auf plausible Weise aufzutauen. Da erkennt man wieder, was Bullock wirklich kann. Und es sind Momente, die zu ihren besten zählen.

Womit der Film allerdings nicht oder nur schwer zurechtkommt, ist die Rache-Komponente der um ihren Vater geprellten Brüder. Das will dann doch so gar nicht überzeugen, und ist dann auch deutlich zu viel des Guten, obwohl ich zugeben muss, dass dieses Fragment des Dramas als pushender Baustein dem Script ganz nette Wendungen verpasst. Fast möchte man meinen, hier einem Film von Susanne Bier beizuwohnen, so komplex darf es mitunter sein, während all die Figuren im Ausgleich dazu so sang und klanglos davongehen, wie sie gekommen sind. Der Fokus bleibt auf Sandra Bullock und ihrer Schwester (Aisling Franciosi, großartig in The Nightingale) als familiäre Wertekonstanten in einer von austauschbaren Randfiguren bevölkerten Welt.

The Unforgivable

The Nightingale – Schrei nach Rache

GESCHUNDENES TASMANIEN

7/10

 

The Nightingale© 2020 Koch Films

 

LAND: AUSTRALIEN 2020

DREHBUCH & REGIE: JENNIFER KENT

CAST: AISLING FRANCIOSI, BAYKALI GANAMBARR, SAM CLAFLIN, DAMON HERRIMAN, EWEN LESLIE, CHARLIE SHOTWELL U. A. 

 

Erst vor Kurzem hatte sich das belgische Könighaus für seine Gräuel während der Kolonialzeit im Kongo entschuldigt. Wem nützt das noch? Eine Entschuldigung ist schnell daher gesagt, und nichts mehr wert, nach so vielen Jahrzehnten des Zierens. Besser spät als nie, würden manche behaupten. Wäre es nie so weit gekommen, würde ich sagen. By the way: hat sich Großbritannien eigentlich schon dafür entschuldigt, die Ureinwohner Tasmaniens ausgerottet zu haben? Wahrscheinlich schon, und wahrscheinlich gab’s jede Menge Reparationen, um zumindest das letzte Bisschen ethnisches Erbe zu konservieren und fortleben zu lassen, zumindest in musealen Freilichtenklaven und in der Sprache der Ureinwohner, dessen zeitgerechte Archivierung grundlegend dafür war, das gesprochene Wort in seiner Originalität auch für diesen Film hier zu adaptieren, einem Rape and Revenge-Thriller im erd- und blutverkrusteten Gewand eines historischen Abenteuerfilms aus einer Zeit, in der Tasmanien noch Van Diemens-Land hieß und in welcher der Genozid gegen die schwarze Bevölkerung hoch im Kurs lag. Wie erquickend kann so ein Film nur sein, der von Ausbeutung, Versklavung, Vergewaltigung und Tod erzählt? Gar nicht.

The Nightingale von Jennifer Kent, bekannt geworden durch ihren Psychohorror The Babadook, ist trotz all der Hoffnungslosigkeit ein zutiefst feministisches, aufbrausend rechtefordendes Werk. Im Zentrum steht die Ex-Strafgefangene Clare, die beim britischen Leutnant Hawkins (gnadenlos böse und perfide: Sam Claflin) ihre Restschuld abarbeitet, von diesem aber regelmäßig missbraucht wird und die Freiheit, die ihr längst zugesteht, auch nicht bekommt. Irgendwann aber platzt Clares Ehemann der Kragen – was Hawkins natürlich nicht auf sich sitzen lassen kann und seinen ganzen Unmut eines Nachts an Clares Familie auslässt. Die Folge: Mann und Kind sind tot, der Leutnant mitsamt seines nicht weniger abscheulichen Sergeants (ekelerregend: Damon Herriman) bereits unterwegs in die Stadt, um sich befördern zu lassen. Doch falsch gedacht, wenn man vermutet, dass Clare sich nach all der Tragödie das Leben nimmt. Nein: Clare wird zur Furie, zum wütenden, keifenden, schreienden Racheengel, der Hawkins hinterherfolgt. Ohne Fährtenleser allerdings geht’s nicht, also gesellt sich unter anfänglichem Widerwillen der Tasmanier Billy an ihre Seite. Beide haben anfangs nichts gemein, doch später mehr, als sie vermutet hätten.

Eine Warnung gleich vorweg: The Nightingale hat nicht zu Unrecht eine FSK-Freigabe von 18. Die dargestellte sexuelle Gewalt an Frauen ist in diesem Film ziemlich unerträglich. Wer hier also zu sensibel auf solche Szenen reagiert, und das auch weiß, sollte den Film möglichst vermeiden. Ich selbst habe kurz überlegt, vorzeitig abzubrechen, denn nachdem man ohnehin schon die Nase voll hat von so will menschlichen Abgründen und irreversiblem Leid, setzt Jennifer Kent noch eins drauf. In The Nightingale ist die Bestie Mensch allgegenwärtig, andererseits aber findet die Kamera für einen ruhenden Gegenpool atemberaubende Aufnahmen der tasmanischen Wälder, in denen die Verlorenen umherirren. Doch der eigentliche Grund, The Nightingale nicht dem Bösen zu überlassen und sich erbaulicheren Themen zu widmen ist die Figur des Fährtenlesers Billy. Der Aborigines Baykali Ganambarr ist in jeder Sekunde seiner Spielzeit eine Entdeckung. Seine pragmatische Sicht auf die Gegenwart vereint sich auf berührende Weise mit seiner Wut über das Übel der britischen Land- und Lebensenteignung. Dann aber ist er wieder kindlich beseelt von den alten Mythen seiner Kultur, und man wünscht sich unentwegt, Billy möge diese Tortur durch die Wildnis gut überstehen. Die Finsternis aber, die legt sich über jedes Bild. Die Schönheit einer fremden Welt leidet – sie bleibt entsättigt, regennass und düster. In manchen Szenen, wenn Clare Alpträume plagen, hat der Streifen auch einigen Horror parat, um dann, nach ihrem Erwachen, in das gutmütige Gesicht des Fährtenlesers zu blicken, der sich ihrer annimmt. The Nightingale ist ein erschütterndes Drama über eines der dunkelsten Episoden der Menschheit, ein tiefschwarzer Film, in seiner Kompromisslosigkeit vergleichbar mit Twelve Years a Slave, allerdings nicht ohne bedingungsloser Liebe zu einem verlorenen Paradies, die letzten Endes über den Tod erhaben sein lässt.

The Nightingale – Schrei nach Rache