Die Täuschung

HITLER HINTER’S LICHT GEFÜHRT

5/10


duetaeuschung© 2022 APPLE. All rights reserved.


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN, USA 2021

REGIE: JOHN MADDEN

CAST: COLIN FIRTH, KELLY MACDONALD, MATTHEW MACFADYEN, JOHNNY FLYNN, PENELOPE WILTON, JASON ISAACS, HATTIE MORAHAN U. A. 

LÄNGE: 2 STD 8 MIN


Mincemeat ist ein kulinarischer und zugleich wilder Mix aus allen möglichen Zutaten – darunter Trockenfrüchte, Weinbrand und Gewürze, natürlich auch Rindfleisch und Fett aus Innereien. Klingt ein bisschen wie Fleischlaibchen (Frikadellen), ist es aber nicht. Was Mincemeat sonst noch ist? Ein Codewort. Und zwar für ein Täuschungsmanöver der Alliierten, die während des Zweiten Weltkriegs, genauer gesagt im Jahre 1943, den Nazi-Aggressoren weismachen wollten, die britische Invasion stünde kurz davor, an der Küste Spaniens loszubrechen. Natürlich war dem nicht so, die Briten planten natürlich, über Sizilien anzurücken, doch Hitler und seine Schergen sollten davon nichts wissen. Neben dem eigentlichen Krieg mit Waffen, Panzer und Millionen Gefallenen gab es da noch den Krieg der Geheimdienste, bei welchem an beiden Fronten niemand geschlafen hat – ganz im Gegenteil. Operation Mincemeat war im Rahmen dieses Konflikts ein waghalsiges Unterfangen mit hoher Risikobereitschaft, die sehr schnell sehr leicht hätte enttarnt werden können. Manchmal, so wie in diesem Fall, drängt sich die Vermutung auf, höhere Mächte wären schlussendlich am Niedergang des Deutschen Reiches beteiligt gewesen. Insbesondere, wenn derartige Manöver wie im Geschichtsdrama von John Madden (Shakespeare in Love) wider Erwarten gelingen.

Um den deutschen Geheimdienst auf die falsche Fährte zu locken, bedarf es natürlich eines Köders. Und zwar eines Toten, der nochmal sterben sollte. Und zwar als Major William Martin, der, mit Fallschirm ausgestattet – so, als vermute man einen Flugzeugabsturz über dem Atlantik – an die Küste Frankreichs gespült wird. Mit wertvollen Informationen in der Tasche, die von der Anlandung der Briten in Spanien berichten. Streng vertraulich natürlich. Und die Nazis schlucken es.

Die Fälschung – oder, im Original, ganz einfach Operation Mincemeat ­­– verspricht dem Plot nach zu schließen ein spannender und authentischer Spionagethriller zu werden, der zumindest für Nicht-Briten eine Episode aus dem Krieg erzählt, die nicht ganz so geläufig ist. Auf die Idee zu kommen, mit einem recht simplen Bluff wie diesen ein ganzes Imperium täuschen zu können, zeugt einerseits von Verzweiflung, andererseits von geradezu todesmutigem Verhalten. Wenn kaum mehr etwas zu verlieren ist, greift man zum Banalsten, um vielleicht damit die Erwartungshaltung des Feindes zu unterwandern. Oder: Niemand sieht den Wald vor lauter Bäumen. Im Rahmen der Chronologie der Ereignisse, basierend auf dem Buch von Ben McIntyre, nimmt die Vorbereitung und Durchführung der Operation nur ungefähr ein Drittel des Filmes ein. Der Rest mag zwar den historischen Aufzeichnungen folgen, scheint aber so, als würde er viel zu weit ausholen, um noch für den Kern der Geschichte relevant zu sein. Wir sehen jede Menge Anzugträger und Offiziere, alle in Gespräche vertieft, welche den in wenigen Minuten erzählten Clou vorwegnehmen sollen. Kein Detail wird außer Acht gelassen, die Akquirierung des Toten unter der Einwilligung der Hinterbliebenen wieder eine Anekdote am Rande, die das kuriose Unterfangen besser illustrieren soll. Doch der Funke springt nicht über. Colin Firth ist so routiniert, da fehlt es an Esprit. Auch alle anderen Charaktere sind aufgrund ihrer Vielzahl nur Fußnoten in einem großen Ganzen, das die Aufmerksamkeit über Gebühr strapaziert.

Geschichte funktioniert, wenn man sie aus einem Blickwinkel betrachtet. Die Ambition, aus allen gleichzeitig das Abenteuer Spionage zu erfassen, sorgt für zwei knochentrockene Geschichtsstunden, die sich so anfühlen, als würde man die Schulbank drücken und dabei gerne auf die Pause dazwischen verzichtet, damit man vielleicht früher Schluss machen kann.

Die Täuschung

The Outfit – Verbrechen nach Maß

TOTE TRAGEN SCHICKE SAKKOS

5/10


theoutfit© 2022 Focus Features, LLC.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: GRAHAM MOORE

CAST: MARK RYLANCE, ZOEY DEUTCH, DYLAN O’BRIEN, JOHNNY FLYNN, SIMON RUSSELL BEALE, NIKKI AMUKA-BIRD U. A.

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Für Graham Moore ist der unsichtbare Faden wohl jener Handlungsstrang, der sich jenseits des Offensichtlichen durch die Minuten eines Films schlängelt, und nicht jener Zwirn, den Daniel Day Lewis in gleichnamigem Film von Paul Thomas Anderson seinen stofflichen Kunststücken zur Vollendung eingenäht hat. Für Graham Moore ist The Outfit – Verbrechen nach Maß sein Debüt in Sachen Regie, nach dem er recht erfolgreich das Drehbuch zu The Imitation Game von Morten Tyldum verfasst hat. Wir wissen: Benedict Cumberbatch hat hier dem Mathematiker Alan Turing ein Denkmal gesetzt. Jetzt borgt sich Moore aus Spielbergs Lieblingsensemble Mark Rylance, den ehemaligen Mastermind hinter Ready Player One oder dem Spion aus The Bridge of Spies. Rylance spielt gerne unterschätzbare Charaktere, die leise auftreten, sich vielleicht auch menschenscheu und eremitisch geben. Die den Kopf gesenkt halten und eine falsche oder wahre Bescheidenheit leben, so genau weiß man das nie. Rylance aber hat Charakter, ein distinguiertes Auftreten und fällt niemals mit der Tür ins Haus. Das war auch schon bei Yoda so: Deswegen war der mächtigste aller Jedi auch der kleinste und lernresistenteste, wenn es darum ging, ordentlich Basic zu beherrschen.

Rylance als Herrenschneider Leonard Burling spricht allerdings ein astreines und gewähltes Englisch. Konzentriert sich auf das, was er am besten kann, um die Perfektion mit Nadel und Faden zu gewährleisten. Betreibt einen kleinen Laden im tief verschneiten Chicago und tut so, als wüsste er nicht, dass hier tagein, tagaus finstere Handlanger nicht nur der irischen Mafia Burlings Werkstatt als Drehscheibe für geheime Informationen verwenden. Dort hängt in einer Ecke ein unscheinbarer Briefkasten, und die verbrechenswilligen Herren in Mantel und Fedora schneien hier schneeflockennass in die heiligen Hallen des Meisters, um ihr Geschäft am Laufen zu halten. Eines Tages landet ein Brief der geheimnisvollen und alles umspannenden Organisation The Outfit in besagtem Kästchen – mit brisanten Details. Später dann wird Richie, der Filius von Gangsterboss Boyle, angeschossen in die Schneiderei gebracht – ein Angriff der Gegenpartei, die wissen wollen, dass einer in diesem ganzen Gefüge der Unterwelt ein Verräter sein muss und dem FBI mithilfe von Tonbandaufzeichnungen allerlei Brisantes zukommen lassen will. Diese Aufnahmen dürfen nicht in falsche Hände geraten, denn geplaudert wird in diesen scheinbar tauben vier Wänden immerhin auch genug.

Wer jetzt schon anhand des recht konstruierten Plots das Interesse an dem piekfein ausgestatteten Kammerspiel verloren hat: vorzuwerfen wäre es ihm nicht. Die ebenfalls von Graham Moore ersonnene Geschichte, die sich auf Elemente eines True Story-Berichts beziehen, eifert etwas bemüht den Gangsterfilmen der Schwarzen Serie nach und transportiert seine Hommage in eine Zwei-Zimmer-Boutique, in welcher sich im Laufe von 106 Minuten die verschiedensten Gesellen – vom tumben, gewaltbereiten Handlanger bis zum Obermafiosi, der seinen Sohn sucht – einfinden werden. Das Kammerspiel dürfte Moore womöglich schon seit Sichtung des Hitchcock-Klassikers Cocktail für eine Leiche beeindruckt haben: so manchen Suspense entdeckt man auch in The Outfit – wenn man genau danach sucht. Also irgendwo zwischen angeschossenen Gangstern, verbotenen Liebschaften und gezogenen Pistolen, die auf was weiß ich auf wen gerichtet sind. Inmitten dieses Kommens und Gehens arbeitet sich Mark Rylance als argloses und scheinbar devotes Scheuklappen-Schneiderlein durch allerlei Schnittmuster zur zentralen Figur heran, die langmächtig über Schein und Sein philosophiert und maßgeschneiderte Herrenanzüge mit determiniertem Karma gleichsetzt.     

The Outfit – Verbrechen nach Maß will als opulenter Einakter auf engstem Raum funktionieren und seine Wendungen wie Stecktücher in Sakkos platzieren. Durch diese Ordnungsliebe verzichtet der Thriller aber auf das Plötzliche und Unerwartete.

The Outfit – Verbrechen nach Maß

Beast

DIE GUTEN, DIE BÖSEN UND DIE HÄSSLICHEN

8,5/10


beast© 2017 MFA+ Filmdistribution


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2017

BUCH / REGIE: MICHAEL PEARCE

CAST: JESSIE BUCKLEY, JOHNNY FLYNN, GERALDINE JAMES, SHANNON TARBET, TRYSTAN GRAVELLE U. A.

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Filmschätze, die im Verborgenen liegen, und die das Gefühl vermitteln, etwas wirklich Besonderes entdeckt zu haben, ohne den Druck dahinter, nun endlich einen von Kritikern hochgelobten Film selbst mal von der Liste zu streichen – Filmschätze wie diese bescheren Momente des unvergleichlichen Genusses. Die werden, eben weil man es nicht erwartet, zum Erlebnis. Und da weiß man wieder, warum man als Cinephiler nicht von den laufenden Bildern lassen kann. Eines dieser Werke ist der 2017 erschienene, britische Psychothriller Beast.

Der Titel: kurz, knackig und, wie man sehen wird, treffend. Schauplatz ist die grüne, verregnete und recht düstere Kanalinsel Jersey – ein durchs tosende Meer begrenzter Ort. Ein Mikrokosmos sozialer und psychischer Defizite. Alles auf engem Raum, trotz Wiesen und Weiden. Moll, ein Mädchen in den späten Zwanzigern, ist das mit mütterlichen Argusaugen überwachte Problemkind einer autoritär geführten Familie. Hier herrschen Konventionen, Bigotterie und Reaktionismus. In diesem Dunstkreis feiert die nonkonforme junge Dame zwar eines Tages ihren Geburtstag, zieht aber alsbald von dannen Richtung Dorfdisco, wo sie trinkt und tanzt und am nächsten Morgen sexuell genötigt wird. Zum Glück erscheint die bedrohliche Gestalt eines Jägers, der den Unwillkommenen vertreibt. Moll ist gerettet, weiß aber anfangs nichts mit dem blonden und wortkargen Pascal anzufangen; weiß aber, dass er sie faszinierend findet – und umgekehrt. Gegen den Willen der Eltern gehen die beiden eine Romanze ein. Zeitgleich allerdings treibt ein Serienkiller sein Unwesen, der es auf junge Frauen abgesehen hat. Der Verdacht fällt auf Pascal, alle Indizien sprechen dafür. Moll verschafft ihm ein Alibi, wohl ach, weil sie weiß, wie es sich anfühlt, ein Leben lang stigmatisiert zu bleiben für etwas, das man vielleicht mal getan hat.

Weder ist Beast ein klassischer Beziehungsthriller, noch ein routiniertes Selbstfindungsdrama. Autorenfilmer Michael Pearce erzählt hier etwas ganz Außergewöhnliches. Und zwar deshalb, weil er darauf verzichtet, seine herumirrenden Seelen als gut oder böse zu deklarieren. Beast ist eine unheilvolle, stimmige Ballade auf ungeliebte Außenseiter, auf Ausreißer und Andersartige. Auf Freaks und Eremiten. Obwohl von der Gesellschaft gerne in ihrer Gesamtheit in eine Schublade gezwängt, sind weder Moll noch Pascal Vertreter der Bestie Mensch an sich, tragen aber ein Biest in sich, dass sich weder anpassen noch zügeln lässt. Wie weit ist es legitim, das Biest zuzulassen, ohne die eigene Freiheit und gleichzeitig die Freiheit des anderen einzuschränken? In diesem Spiel aus Trotz, Selbstbestimmung und bewusst inszenierter Ungefälligkeit bricht eine intensiv aufspielende Jessie Buckley eine Lanze für den Mut, anderen missfallen zu dürfen, wobei sie gleichzeitig auch nach einer Balance dafür sucht, die das Hässliche vom Bösen unterscheiden lässt. Dieser kräftezehrende, sowohl innere wie äußere Konflikt steigert sich während des Films zusehends, fordert letzte Reserven wie beim Erklimmen eines Gipfels. Johnny Flynn begegnet Buckley spielerisch auf Augenhöhe, beide schenken sich nichts. Und gleichzeitig alles, vor allem das, was niemand wissen darf.

Beast ist eine Naturgewalt von Thriller. Unorthodox, wiederspenstig und ungemütlich. Und von so erzählerischer Raffinesse, dass ein Film wie dieser nur schwer nachzuahmen ist. Vorbilder sucht sich Beast ebenso wenig. Und das entspricht wieder ganz und gar dem konsequenten Kurs eines abseits des Mainstreams schlummernden Meisterwerks bis hin zu seinem verblüffenden Finale.

Beast

Die Ausgrabung

NACH DEM LEBEN GRABEN

6,5/10


dieausgrabung© 2021 Netflix


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2021

REGIE: SIMON STONE

CAST: CAREY MULLIGAN, RALPH FIENNES, LILY JAMES, JOHNNY FLYNN, BEN CHAPLIN, KEN STOTT, MONICA DOLAN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


Es muss nicht zwingend ein mittelalterlicher Abenteurer mit Schlapphut und einem goldenen Artefakt unter dem Arm, der vor einer rollenden Granitkugel davonläuft, der Inbegriff eines leidenschaftlichen Archäologen sein. Und Archäologie ist auch nicht nur dann spannend, wenn magische Artefakte lebensbedrohlich vor sich hin wabern. Nein – Archäologie ist gerade in ihrer präzisen Nüchternheit am spannendsten, und dann am packendsten, wenn man von den Gesichtern der Grabenden ablesen kann, dass gerade etwas einmaliges und überhaupt Großartiges passiert ist. Von solchen Szenen kann man sich im erst kürzlich auf Netflix veröffentlichten Film Die Ausgrabung begeistern lassen.

Besser noch ist, dass Simon Stones Film auf wahren Begebenheiten beruht, aus einer Zeit, in der Großbritannien zum Krieg gegen den deutschen Feind rüstet. Umso tragender das Ansinnen, nach den eigenen Wurzeln zu graben. Was dann ja auch stattfindet, und zwar auf dem Grundstück der wohlhabenden Witwe Edith Pretty (zerbrechlich: Carey Mulligan), die den seltsamen Erdhügeln auf ihrem Gelände endlich mal auf den Grund gehen will und dafür den Archäologen Basil Brown engagiert. Der, selbst schon ein wie aus Lehm geformter Wissenschaftsgolem, legt nach anfänglichen Schwierigkeiten ein Artefakt frei, dass bis vor die Zeit der Wikinger zurückreicht. Während sie buddeln und buddeln, wird Ediths Gesundheitszustand immer schlechter, der Krieg beginnt und das British Museum schlägt bald auf, um das Projekt am besten gestern übernommen zu haben.

Neben Ralph Fiennes differenzierter und verhaltensspezifischer Darstellung eines nerdigen Wissenschaftlers im Tweed ist vor allem der Erzählstil des Films durchwegs konsequent angewandt und sehr bemerkenswert. Das liegt vor allem und erstens an den unkonventionell komponierten Bildern des Kameramanns Mike Eley (u. a. The White Crow, Die Frau, die vorausgeht). Selten sind die Figuren zentral platziert, selten wendet Eley bildkompositorisches Grundschulwissen an, sondern schafft vor allem Raum für Fiennes, Mulligan und Co, ganz viel Raum und Himmel und extra viele Schichten Erde. Die Personen scheinen wie Gäste zu kommen und zu gehen, zufällig im Bild zu sein, während das Abtragen der Menschheitsgeschichte das eigentliche Leben schmerzhaft endlich werden lässt. Zweitens ist die indirekte Bildrede immer wiederkehrend, fast schon zu dominant, manchmal irritiert es, wenn das Gesprochen nicht den Gesichtszügen der Schauspieler entspricht. Manchmal aber passt es perfekt, um den inneren Monolog zu unterstreichen. Drittens ist das rotbraune bis ockerfarbene Kolorit für einen Film, indem es ums Wegschaufeln von rotbrauner bis ockerfarbener Erde geht und vieles immer wieder im Matsch versinkt, natürlich ideal gewählt. Nach diesem Film ist man glatt versucht, die viele Erde unter den eigenen Fingernägeln hervorzupulen.

Weniger notwendig wäre die Romantisierung des Films gewesen, sie mit einer recht banalen Liebesgeschichte zu ergänzen, die Lily James hier durchlebt, um dem ganzen Szenario mehr die Attitüde eines Melodrams zu verleihen. Muss gar nicht sein, denn dier richtigen Emotionen sind dann spürbar, wenn die Grabenden das erste goldglitzernde Kleinod freilegen. Da klopft das Herz, da bleibt der Mund offen stehen. Und zwar offener als bei Indiana Jones, der seiner Granitkugel dann doch knapp entkommen ist.

Die Ausgrabung

Emma (2020)

LIEBELEI IN HELLEN TÖNEN

8/10

 

emma© Universal Pictures Int. Germany

 

LAND: GROSSBRITANNIEN 2019

REGIE: AUTUMN DE WILDE

CAST: ANYA TAYLOR-JOY, BILL NIGHY, MIA GOTH, JOSH O´CONNOR, JOHNNY FLYNN, GEMMA WHELAN U. A. 

 

Diese Blicke sagen mehr als tausend Worte. Wenn Anya Taylor-Joy als literarische Establishment-Kupplerin Emma ihr Gegenüber beobachtet, wenn sie neue „Opfer“ für ihre harmlos intriganten Gesellschaftsspielchen findet oder wenn sie plötzlich selber merkt, dass ihr Herz schneller schlägt, dann sind das garantiert bezaubernde Filmmomente in einer gelungenen Neuinterpretation von Jane Austens Klassiker. Dieser handelt von einer intellektuellen jungen Dame, die eigentlich nicht viel mehr zu tun hat außer sich die Zeit damit zu vertreiben, jungen Männern schöne Augen zu machen und junge Damen für ihre Liebesrochaden auf wohlwollende Art zu manipulieren. Das klingt jetzt nicht wahnsinnig nett, aber Emma ist es die meiste Zeit trotzdem. Keiner merkt wirklich, was sie vorhat. Der, der es merken könnte, ist ihr Vater – der einzige, mit dem Emma in ihrem stattlichen Anwesen zusammenlebt – die Mutter verstorben, die Schwester verheiratet und ausgezogen. Der Vater aber: ein unheilbarer Hypochonder, den jeder Luftzug mutmaßlich ins Grab bringen könnte – sehr zurückhaltend und lustvoll dargeboten von Bill Nighy, der in so klassischen Stoffen einfach seine Rolle haben muss, es geht gar nicht anders. Und es geht auch gar nicht anders, Jane Austens lustvolle Sezierung der Hautevolee des beginnenden 19. Jahrhunderts nicht als Kostümorgie zu inszenieren.

Die Neuverfilmung, die macht hier alles andere als einen großen Bogen um stilvolle Meisterwerke historischer Schneiderskunst: Was die Herr- und Damenschaften hier alles an schicker Mode zur Schau tragen, wird vielleicht nur noch getoppt von einer sagenhaft penibel arrangierten und akkurat fotografierten Ausstattung, vorzugsweise in pastelligem Setting aus Lavendel- und Rosatönen, aus hellem Orange und überhaupt einer ganzen Palette verdünnter Farben, die nur so von der Leinwand fließen. Emma ist filmgewordenes Aquarell, eine Bilderflut aus der Romantik und stark verwandt mit dem deutschen Biedermeier. Heller, strahlender, aber längst kein bunter Kitsch, sondern wohlgesetzte Farbgebung, meist in der Kombination zweier ausgesuchter Komplementen. Berauschend, was hier zu sehen ist. Geschmackvoll, wenn Emma unter einer blühenden Kastanie steht, und dabei ein Kleid trägt mit derselben Farbe der Blüten. Wenn über weite, parkähnliche Wiesen mit vereinzelten Baumriesen in roten Umhängen die Schülerinnen des Mädchenpensionats eilen. Wenn der Zylinder der Herren passend zur Verbeugung vor den Damen nobel vom Haupt genommen wird. Ein Augenschmaus, diese Zeit, unbekümmert und entrückt. Der Wohlstand als gesellschaftliche Blase, die von den Erinnerungen der Revolution gänzlich unberührt bleibt.

In all diesem schwelgerischen Zuckerbäckerstil – auf Silbertellern Makronen in allen Farben und der Tee in edlem Porzellangeschirr – wirft eben Anya Taylor-Joy ihre unwiderstehlichen koketten Blicke. Vortrefflich, wie sie Emmas Stil, ihre Anmut, aber auch ihre manchmal soziale Unbeholfenheit in die gefilmte Epoche hinausträgt. Wie sie fähig ist, einzutauchen in eine Zeit, die schon so wahnsinnig lange zurückliegt. Wo Heiratsanträge brieflich hereinflattern. Oder Gesellschaftstänze als Auslöser für eine Leidenschaft bedeutender waren denn je. Die junge Britin, ehemals Hexe (The Witch) und an der Seite von James McAvoy in Split, verleiht ihrer Emma wirklich alles, was man sich von dieser klassischen Figur nur wünschen kann. Klugheit, Eloquenz, Witz und letzten Endes wie bei allen jungen Damen auch: die große Liebe, die sich erstmal wie etwas Fremdes anfühlt, bevor sie ihre Bestimmung findet. Mia Goth als Emmas Schützling Harriet ist da nicht weniger bezaubernd.

Autumn De Wilde, eigentlich Fotografin, hat mit ihrem ersten Film die romantische Literatur für das Kino des 21. Jahrhundert aufbereitet, mit akzentuierter, klassischer Musik unterlegt und dem sonst subjektiven Begriff des Schönen und Geschmackvollen durchaus wieder mal alle Ehre erwiesen.

Emma (2020)