Living (2022)

DER LETZTE VORHANG FÄLLT AM BESTEN

7/10


living© 2022 Number 9 Films Ltd.


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2022

REGIE: OLIVER HERMANUS

BUCH: KAZUO ISHIGURO

CAST: BILL NIGHY, AIMEE LOU WOOD, ALEX SHARP, TOM BURKE, ADRIAN RAWLINS, MICHAEL COCHRANE, HUBERT BURTON, OLIVER CHRIS, OLIVER SMILES, FFION JOLLY U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Irgendetwas scheint der alte Mann Zeit seines Lebens übersehen zu haben. Nämlich dessen Sinn im Auge zu behalten. Um das noch zu ändern, könnte es fast schon zu spät sein. Das wäre es mit Sicherheit auch gewesen, wäre Mr. Williams, Angestellter in der London County Hall für Bauwesen und Stadtplanung, nicht mit einer Nachricht konfrontiert worden, die seine Prioritäten umordnen wird. Wie so meist und so oft fängt man selbst erst an, über das eigene Sein nachzudenken, wenn der Tod an die Tür klopft. Die Endlichkeit der Existenz, vor allem das Bewusstwerden dieser, vermittelt dann erst ihren Wert. Doch was verkörpert diesen? Genau dieser Frage will Mr. Williams in den letzten Monaten, die ihm noch bleiben, nachgehen. Als penibler, überpünktlicher, ehrenwerter Gentlemen im Nadelstreif und mit Melone auf dem Kopf, ist er zumindest anfangs noch die personifizierte Bürokratie. Als Abteilungsleiter liegt ihm die Ablage diverser Anträge bis auf unbestimmte Zeit am nächsten. Von seiner Untergebenen Miss Harris liebevoll-ironisch als Mr. Zombie bezeichnet, tut er auch tatsächlich genau das, um diesem Kosenamen alle Ehre zu machen. Fast scheint es, als spüre er sich selbst nicht mehr und lebt nur die Fassade eines perfekt scheinenden Lebens – bis eben die Diagnose Krebs einen anderen Menschen aus ihm macht.

Basierend auf dem in den Fünfzigerjahren erschienenen japanischen Psycho- und Gesellschaftsdrama Ikiru von Akira Kurosawa, hat sich Oliver Hermanus das von Kazuo Ishiguro leicht überarbeitete und ins England der Nachkriegsjahre transportiere Drehbuch zu Herzen genommen und mit Bill Nighy einen Charakter gefunden, der die phlegmatische Seite eines Mr. Scrooge verkörpert, nur eben deutlich weniger geizig, nicht unfreundlich, aber distanziert zu seinen Mitmenschen, doch auf eine gewisse Weise ihnen gegenüber ignorant. Dieser in sich gekehrte graue Mann hat Potenzial, das merkt man. Das sieht und spürt man. Die junge Miss Harris, entzückend und unendlich liebevoll dargeboten von Aimee Lou Wood, die dem leise vor sich hinhauchenden Nighy fast schon die Show stiehlt, scheint den Funken in diesem versteinerten Individuum an Correctness als erste zu entdecken. Sie wird auch die Einzige sein, die von dessen Schicksal erfährt. Wie ein Engel, aber nicht der vergangenen, sondern der zukünftigen Weihnacht, scheint sie in Mr. Williams eine bislang unentdeckte Tatkraft zu mobilisieren.

Diesem Erweckungsmärchen zu folgen, zahlt sich aus. In den Momenten, wenn Nighy seiner Muse des späten Lebens sein Empfinden von der Welt anhand eines Gleichnisses der Kinder auf einem Spielplatz auf den Punkt bringt, gerät Living zu einer herzergreifenden und unkitschig melancholischen Selbstreflexion, die auf unkomplizierte, wohltuend einfache Weise bestätigt, worauf es im Leben ankommt. Diese Gespräche sind das Salz in der Suppe, und wenn der sich behutsam bewegende, kummervoll dreinblickende Nighy zu einem traurigen Lied aus seiner Kindheit anstimmt, ist der Scrooge-Effekt von Dickens Bekehrung auch hier zu finden, samt Gänsehaut-Garantie.

Living lebt durch alle Szenen hinweg eine sehr britische Mentalität und entwickelt sich zu einem ungewöhnlichen Männerdrama, in welchem die weibliche Figur der Miss Harris aus einer anderen Dimension in den Kosmos zugeknöpfter Männlichkeiten eindringt wie eine Lichtgestalt. Was Nighy dann daraus macht, ist nur in Rückblenden zu sehen, die ganz am Ende Resümee ziehen. Die Botschaft, die vermittelt wird, ist eine, die wir natürlich alle kennen. Mit dem eleganten Briten, der noch dazu singt, wird das Remake eines Klassikers zu einem unpeinlichen und positiv konnotierten Rührstück.

Living (2022)

The Limehouse Golem

EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER

4/10


limehousegolem© 2000-2017 Concorde Filmverleih


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2016

REGIE: JUAN CARLOS MEDINA

CAST: BILL NIGHY, OLIVIA COOKE, DOUGLAS BOOTH, DANIEL MAYS, SAM REID, EDDIE MARSAN, MARIA VALVERDE U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Dem Briten Bill Nighy, selbst wenn er mal keinen „Kraken-Bart“ trägt, sieht man durchaus gerne zu. Seine aufgeräumte, distinguierte Art ist ein befriedigendes Gegengewicht zum hinterlassenen Chaos eines Serienmörders, der im London des viktorianischen Zeitalters – also womöglich gegen Ende des 19. Jahrhunderts – sein Unwesen treibt. Epizentrum der schändlichen Taten sind die Docklands der Stadt, auch als Gemeinde Limehouse bekannt. Dorthin wird Inspektor Kilday – eben Bill Nighy – zitiert, um sich entsetzlich entstellte Leichen anzusehen, deren Art der Quälerei aber einem gewissen künstlerischen Konzept folgen. Nighys Mimik sei dabei zu beachten, wenn er vor dem Unaussprechlichen steht – gerade mal aus Fassungslosigkeit geweitete Augen sind das Einzige, was vermuten lässt, dass auch diesen hartgesottenen Kriminalbeamten nicht alles kaltlässt.

Bei seinen Ermittlungen macht er alsbald Bekanntschaft mit einer Varietékünstlerin namens Elizabeth Cree, die ihren Ehemann vergiftet haben soll, der wiederum mit den Golem-Morden in Zusammenhang stehen könnte. Weiters findet der findige Inspektor ein Tagebuch, dass die Morde beschreibt – und er muss sich beeilen: Denn es könnte sein, dass die des Mordes beschuldigte junge Dame statt ihrer Hinrichtung Strafmilderung erfahren könnte, wenn bewiesen wird, dass diese das Kapitalverbrechen nur begangen hat, um die Golem-Morde enden zu lassen.

Ein Serienkiller-Thriller, schön und gut. Mit verregneten Londoner Gassen, Kutschen und jede Menge Zylinder. Weiters mit düsteren Zimmern und blutigen Details. Doch mit einer überkonstruierten und langweiligen Story. The Limehouse Golem hätte prinzipiell genug Potenzial, seinen Mystery-Faktor entsprechend zu nutzen, Haken zu schlagen und auch Bill Nighy an seine Grenzen gehen zu lassen. Durch die Dominanz von Olivia Cooke gerät der Film aber zu einem leidlich interessanten Justizdrama, das sich viel zu sehr mit Rückblenden aufhält und eine fiktive Biografie erzählt, auf die der Zuseher eigentlich nicht wartet. Warum Cooke, die ihrer Rolle nicht annähernd so viele Facetten verleiht wie verlangt, so viel Spielzeit erhält, verwundert. Entfernt man die vielen Rückblenden, bleibt wenig über. Kaum ist eine abgedreht, kommt die nächste. Der Fall gerät ins Stocken. Bill Nighy weiß nichts Genaues, probiert seine Theorie mit verschiedenen Verdächtigen, die wir dann auch noch in einer alternativen Realität als Mörder sehen. Zu bemüht zieht sich diese Geschichte dann dahin, als wäre man ein ganzes Wochenende auf einem Mystery-Jahrmarkt mit einigen Geisterbahnen, die man längst durchhat, von dort aber nicht wegkommt und die Zeit totschlägt, bis das unglaubwürdige Finale die letzte Hoffnung auf eine Chance, hier doch noch mal mitgerissen zu werden, ausräumt.

Die Buchvorlage von Peter Ackroyd mag vielleicht besser sein, vielleicht auch, weil die Protagonisten anders angelegt sind. Die Verfilmung jedoch versucht vergebens, den Figuren die richtigen Prioritäten einzuräumen.

The Limehouse Golem

Wer wir sind und wer wir waren

DIE EHE NACH DEM AUS

6,5/10


hopegap© 2020 Tobis


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2019

BUCH / REGIE: WILLIAM NICHOLSON

CAST: ANNETTE BENING, BILL NIGHY, JOSH O’CONNOR, AIYSHA HART, NICHOLAS BURNS, SALLY ROGERS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Von einem Moment auf den anderen kann es zu Ende gehen. Allerdings nicht gleich das ganze Leben, aber ein Leben zu zweit. Da möchte man schon meinen: das ist so gut wie – wenn der oder die eine an dem oder der anderen hängt, umgekehrt aber nicht. Im britischen Ehedrama Wer wir sind und wer wir waren (im Original Hope Gap – ein Titel, der sich auf eine in Südengland gelegene Klippe inklusive Gezeitenzone bezieht) fällt die gute Annette Bening aus allen Wolken, als ihr Gatte eines Morgens nach dem Kirchgang verkündet, er werde fortgehen. Wie fortgehen, fragt natürlich die Gattin – und weiß gar nicht, worauf ihr Gegenüber anspielt. Fortgehen, zu einer anderen. Obwohl das Verlassen des gemeinsamen Haushalts nicht schon reichen würde, gibt’s obendrauf noch den Ehebruch mit einer natürlich jüngeren. Dabei ist der knochentrocken-sympathische Bill Nighy als Edward ein Langweiler, der stets am Computer hängt, um das Wikipedia aufzufüllen. Beide haben sich auseinandergelebt, was prinzipiell aber noch kein Grund sein muss, sich nicht nochmal annähern zu können. Aber Edward macht ernst. Und Minuten später sitzt Grace allein da. Zumindest hat sie noch ihren Sohn, der sie auffängt. Doch der sitzt bald zwischen den Stühlen, will sich aus dieser Misere heraushalten und beiden gerecht werden, was fast schon ein Ding der Unmöglichkeit scheint.

Man möchte meinen, die malerische Küste mit der sanft ansteigenden grünen Wiese, die dann abrupt an einer wuchtigen Kalksteinklippe endet – die man auch hinunterspazieren kann bis zum Wasser – man möchte meinen, diese Landschaft würde die Seele so sehr besänftigen wie in so mancher melodramatischen Bellestristik. Das tut es in diesem, aus einer gewissen Distanz betrachteten Familiendrama nur bedingt. Das Malerische einer Welt ist nur noch das Echo aus einem anderen Leben. Den Schock, die Trauer und die plötzliche Einsamkeit weiß Annette Bening zu empfinden. Dabei verkörpert sie keine duckmäuserische, konservative Ehefrau, sondern eine vielerlei interessierte, geistig jung gebliebene Individualistin, die mit Kränkungen vielleicht besser umgehen kann, diese aber dennoch erfahren muss. Eine Beobachtung, die ohne dramaturgische Überhöhung auskommt – was in solchen Filmen auch leicht passieren kann. William Nicholson, Drehbuchautor für Werke wie Shadowlands oder Gladiator, hat sich mit diesem Drama erstmals auch die Regie zur Brust genommen. Man merkt – der gute Mann ist ein analytischer, besonnener Denker, dem nichts ferner liegt als seinem Publikum zwischenmenschliche Beziehungen in Form eines emotionalen Blumenstraußes zu überreichen. Viel näher liegt ihm das kurze, vom Wind zerzauste Gras und die Gezeitentümpel, in denen sich allerlei Weichtiere tummeln.

Wer wir sind und wer wir waren ist eine Art Dreiecksgeschichte – zwei Elternteile, ein Kind. Das Kind ist erwachsen, hat selbst Beziehungsprobleme. Und bekommt als solches die wohl schwierigste Rolle aufgebrummt, die man aufbrummen kann: den Spagat zwischen zwei gleichsam geliebten Menschen zu meistern und dabei keine Partei zu beziehen. Zum Glück muss er sich als Minderjähriger nicht entscheiden, bei wem er leben möchte. Ein Unding für den Nachwuchs. Da die Rolle von Josh O’Connor als Sohn Jamie wohl die interessanteste des Films darstellt, wäre es noch spannender und aufschlussreicher gewesen, diesen von vornherein aus der Sicht des Sohnes zu erzählen anstatt den Fokus auf Annette Bening zu legen. Der Einblick in die Welt eines verlassenen Menschen enthält keine neuen Aspekte – wie es dem geht, der die Familie erst zur Familie gemacht hat, hätte da schon anderes zu berichten. Nicholson nimmt diese Sichtweise sehr wohl auch wahr. Vielleicht nicht in der richtigen Dosis, aber immerhin.

Genau das macht Wer wir sind und wer wir waren auch interessant, neben Benings variabel gestalteten Versuchen, ihr Leben wieder auf Schiene zu bringen. Dabei fallen weise, alltagsphilosophische Worte und britische Besonnenheit ebnet den tragikomischen Pfad zum Neuanfang.

Wer wir sind und wer wir waren

The Kindness of Strangers

VERLOREN UND WIEDERGEFUNDEN

7,5/10

 

kindnessofstrangers© 2019 Alamode Film

 

LAND: USA, DÄNEMARK 2018

REGIE: LONE SCHERFIG

CAST: ZOE KAZAN, ANDREA RISEBOROUGH, TAHAR RAHIM, BILL NIGHY, JAY BARUCHEL, CALEB LANDRY JONES U. A.

 

An alle, denen soziale Nähe nicht nur in Corona-Zeiten suspekt vorkommt und die mit Free-Hugs-Aktivisten nicht viel anfangen können: in Lone Scherfigs feinfühligem Sozialdrama menschelt es gewaltig. Aber es menschelt auf eine gute Art, um nicht zu sagen: auf enorm gute Art. Das ist Nähe, die man zulassen kann. Nächstenliebe würden manche dazu sagen, Altruismus die Studierten. Vorweihnachtliche Umsicht diejenigen, die, von wärmenden Geschichten wie die von Charles Dickens inspiriert, gerne alle Menschen in Geborgenheit wissen wollen. Natürlich, niemanden soll es schlecht ergehen. Der sichere Hafen eines guten Zuhauses ist allerdings subjektiv. Für Machtmenschen wie den Ehemann von Clara (berührend unbeholfen: Zoe Kazan) gilt die harte Hand als Maß aller guten Dinge. Für den Rest der Familie nicht. Also flieht dieser Rest in einer Nacht- und Nebelaktion vor der Aggression des Vaters ins winterliche New York – mit nichts außer einem Auto als Heimstätte, und ihrer Liebe zueinander. Dabei kann Clara durchaus ahnen, dass es nicht nur ihr so geht. Ein anderer junger Mann wiederum scheint zu keiner Arbeit fähig zu sein, weil das Pech ihn verfolgt. Wieder einer findet durch Glück Arbeit in einem russischen Restaurant – sonst aber plagt ihn die Einsamkeit. Und wieder eine arbeitet sich als Krankenpflegerin und Leiterin einer Selbsthilfegruppe zum buckligen Igor für andere.

Von den Unsichtbaren inmitten von Vielen erzählt dieser Film. Was anfangs scheint, als wären in The Kindness of Strangers thematisch verwandte Episoden der gemeinsame Nenner, verwebt sich zusehends und in keiner Weise verzettelnd zu einem großen, erkenntnisreichen Ganzen. Die Dänin Lone Scherfig (u. a. An Education) zeigt hier ganz viel Gespür für ihre strauchelnden Seelen, die niemals auch nur ansatzweise dem Sozialvoyeurismus die Hand aufhalten. Es sind die Zutaten für eine Art des Ensemblefilms, die scheinbar nur Script-Genie Richard Curtis so fein verweben kann. Sein Drehbuch zu Vier Hochzeiten und ein Todesfall ist längst Kult, Tatsächlich Liebe… und Alles eine Frage der Zeit, beides unter seiner Regie, sind bemerkenswert ausformulierte Filme zu leicht verbraucht wirkenden Themen wie Beziehung, Intimität und Herz. Vor allem letzterer ist pure Inspiration. Scherfig kann das genauso gut. The Kindness of Strangers schlägt aber deutlich düsterere Töne an, der soziale Abstieg der Familie rund um Clara lässt andere womöglich verzweifeln. Der von überall verbannte Taugenichts Jeff erweckt nur Mitleid. Und Krankenschwester Alice will man am liebsten gestern unter die Arme greifen. Andrea Riseborough sticht hier hervor wie eine wärmende Lichtgestalt an trüben Tagen. So selbstlose Menschen sind erstaunlich. Aber auch der Mut der anderen und der Trost von Fremden ist nichts, was alltäglich ist, aber durchaus sein könnte. Diese Erkenntnis ist letzten Endes unglaublich positiv und weckt Zuversicht in einem Zeitalter des Eigennutzes, in welchem viele sich selbst inszenieren und kaum mehr etwas geben, ohne zu nehmen. Interessanterweise erwarten all die Figuren in diesem Film für ihre Nächstenliebe gar nichts und erhalten viel mehr als jemals gedacht. Ein schönes, überlegtes und liebevoll inszeniertes Werk, indem die Gutmenschen jene sind, die sich niemals selbst dafür halten würden.

The Kindness of Strangers

Emma (2020)

LIEBELEI IN HELLEN TÖNEN

8/10

 

emma© Universal Pictures Int. Germany

 

LAND: GROSSBRITANNIEN 2019

REGIE: AUTUMN DE WILDE

CAST: ANYA TAYLOR-JOY, BILL NIGHY, MIA GOTH, JOSH O´CONNOR, JOHNNY FLYNN, GEMMA WHELAN U. A. 

 

Diese Blicke sagen mehr als tausend Worte. Wenn Anya Taylor-Joy als literarische Establishment-Kupplerin Emma ihr Gegenüber beobachtet, wenn sie neue „Opfer“ für ihre harmlos intriganten Gesellschaftsspielchen findet oder wenn sie plötzlich selber merkt, dass ihr Herz schneller schlägt, dann sind das garantiert bezaubernde Filmmomente in einer gelungenen Neuinterpretation von Jane Austens Klassiker. Dieser handelt von einer intellektuellen jungen Dame, die eigentlich nicht viel mehr zu tun hat außer sich die Zeit damit zu vertreiben, jungen Männern schöne Augen zu machen und junge Damen für ihre Liebesrochaden auf wohlwollende Art zu manipulieren. Das klingt jetzt nicht wahnsinnig nett, aber Emma ist es die meiste Zeit trotzdem. Keiner merkt wirklich, was sie vorhat. Der, der es merken könnte, ist ihr Vater – der einzige, mit dem Emma in ihrem stattlichen Anwesen zusammenlebt – die Mutter verstorben, die Schwester verheiratet und ausgezogen. Der Vater aber: ein unheilbarer Hypochonder, den jeder Luftzug mutmaßlich ins Grab bringen könnte – sehr zurückhaltend und lustvoll dargeboten von Bill Nighy, der in so klassischen Stoffen einfach seine Rolle haben muss, es geht gar nicht anders. Und es geht auch gar nicht anders, Jane Austens lustvolle Sezierung der Hautevolee des beginnenden 19. Jahrhunderts nicht als Kostümorgie zu inszenieren.

Die Neuverfilmung, die macht hier alles andere als einen großen Bogen um stilvolle Meisterwerke historischer Schneiderskunst: Was die Herr- und Damenschaften hier alles an schicker Mode zur Schau tragen, wird vielleicht nur noch getoppt von einer sagenhaft penibel arrangierten und akkurat fotografierten Ausstattung, vorzugsweise in pastelligem Setting aus Lavendel- und Rosatönen, aus hellem Orange und überhaupt einer ganzen Palette verdünnter Farben, die nur so von der Leinwand fließen. Emma ist filmgewordenes Aquarell, eine Bilderflut aus der Romantik und stark verwandt mit dem deutschen Biedermeier. Heller, strahlender, aber längst kein bunter Kitsch, sondern wohlgesetzte Farbgebung, meist in der Kombination zweier ausgesuchter Komplementen. Berauschend, was hier zu sehen ist. Geschmackvoll, wenn Emma unter einer blühenden Kastanie steht, und dabei ein Kleid trägt mit derselben Farbe der Blüten. Wenn über weite, parkähnliche Wiesen mit vereinzelten Baumriesen in roten Umhängen die Schülerinnen des Mädchenpensionats eilen. Wenn der Zylinder der Herren passend zur Verbeugung vor den Damen nobel vom Haupt genommen wird. Ein Augenschmaus, diese Zeit, unbekümmert und entrückt. Der Wohlstand als gesellschaftliche Blase, die von den Erinnerungen der Revolution gänzlich unberührt bleibt.

In all diesem schwelgerischen Zuckerbäckerstil – auf Silbertellern Makronen in allen Farben und der Tee in edlem Porzellangeschirr – wirft eben Anya Taylor-Joy ihre unwiderstehlichen koketten Blicke. Vortrefflich, wie sie Emmas Stil, ihre Anmut, aber auch ihre manchmal soziale Unbeholfenheit in die gefilmte Epoche hinausträgt. Wie sie fähig ist, einzutauchen in eine Zeit, die schon so wahnsinnig lange zurückliegt. Wo Heiratsanträge brieflich hereinflattern. Oder Gesellschaftstänze als Auslöser für eine Leidenschaft bedeutender waren denn je. Die junge Britin, ehemals Hexe (The Witch) und an der Seite von James McAvoy in Split, verleiht ihrer Emma wirklich alles, was man sich von dieser klassischen Figur nur wünschen kann. Klugheit, Eloquenz, Witz und letzten Endes wie bei allen jungen Damen auch: die große Liebe, die sich erstmal wie etwas Fremdes anfühlt, bevor sie ihre Bestimmung findet. Mia Goth als Emmas Schützling Harriet ist da nicht weniger bezaubernd.

Autumn De Wilde, eigentlich Fotografin, hat mit ihrem ersten Film die romantische Literatur für das Kino des 21. Jahrhundert aufbereitet, mit akzentuierter, klassischer Musik unterlegt und dem sonst subjektiven Begriff des Schönen und Geschmackvollen durchaus wieder mal alle Ehre erwiesen.

Emma (2020)

Pokémon Meisterdetektiv Pikachu

MONSTER FÜR ZWISCHENDURCH

5/10

 

pikachu© 2018 Warner Bros. Pictures Germany

 

LAND: USA, JAPAN 2019

REGIE: ROB LETTERMAN

CAST: JUSTICE SMITH, KATHRYN NEWTON, RYAN REYNOLDS, KEN WATANABE, SUKI WATERHOUSE, BILL NIGHY, RITA ORA U. A.

 

Diese Dinger sind wie Schokoriegel: süß, handlich und immer mit dabei. Pokémon eben. Für die, die es noch nicht wissen: Pokémon ist die Sparversion des japanischen Ausdrucks Poketto Monsuta, was so klingt wie Pocket Monster und auch genau das bedeutet. Obwohl – so klein sind die Dreikäsehochs nun auch wieder nicht. Aber süß und immer mit dabei, das sind sie schon. Knuffiger Bonus obendrein: Pokémons kann man (zum Glück?) nicht verstehen, sie quaken und quietschen und fiepen, maximal bringen sie ein Wort zustande, das sie repetativ verwenden. Wie PSY-Entenwesen Enton. Wer mit Pokémons nie etwas am Hut hatte oder sich dem Hype vor ein paar Jahren, nämlich Pokémons überall im Land via App zu suchen, der kann sich dennoch getrost in den Film setzen. Denn so wirklich komplex ist das Universum im Film bei weitem nicht. Auch wenn die Namen der jeweiligen Kreaturen nicht geläufig sind – keine Angst, sie werden vorgestellt. Und die Range ist überschaubar. Im Zentrum des ganzen plüschig-amphibischen Abenteuers: Mega-Pokémon Mewtu, seines Zeichens die Urform aller Kreaturen und einer göttlichen Erscheinung gleich über den Dingen schwebender Endgegner, dessen Auftauchen für einige Unruhe in Ryme-City sorgt – der Stadt, in der Menschen und Pokémons in einer schillernden Koexistenz zusammenleben. Man könnte all diese Kreaturen aus diesem alternativen Universum auch durch Hunde ersetzen, magische Hunde, die mehr können als nur bellen, das Stöckchen holen und mit dem Schwanz wedeln. Ein sonntäglicher Spaziergang im Park könnte sich in Anbetracht der über den weg laufenden Hunderassen tatsächlich auch so anfühlen, und es lässt sich aus dem Ärmel geschüttelt so tun, als wäre Ryme City gar nicht mal so weit entfernt. Von diesen gepflegten und umhegten Taschen- und Dauerbegleitern für Zwischendurch gibt es mittlerweile über 800 verschiedene. 53 davon kommen im Film vor – ja, das könnte hinkommen. Vom Schlabber-Klecks bis zum Feuer speienden Drachen ist da alles dabei.

Und die Darstellung dieser Welt, die funktioniert wirklich gut. Dabei werden Erinnerungen an Roger Rabbit wach – da hielten Cartoonfiguren jedweder Art, allerdings mit viel mehr Wortgewalt, das Zusammenleben mit den Menschen für eine gewinnbringende Kosten-Nutzen-Rechnung. Bis dem teuflischen Christopher Lloyd die ganze gechillte Gesellschaftssymbiose zuwiederlief. Pokémon Meisterdetektiv Pikachu startet mit einem ähnlichen Setting, nämlich dem einer Detektivgeschichte. Statt Bob Hoskins tritt nun Jungspund Justin Smith das Erbe seines verschwundenen Vaters an – und hat das kultige Pelzknäulel Pikachu mit dem Zickzackschwanz von nun an an der Backe. Wundersamer Bonus: Pikachu kann sprechen, und lässt sich auch verstehen. Was es spricht, klingt nach Deadpool Ryan Reynolds, allerdings jugendfrei. Unter diesen Voraussetzungen ist das ungleiche Gespann bald auf heißer Spur unterwegs, muss Feuer speiende Ringkämpfer abwehren, die Gestik eines Pantimos interpretieren oder rabiate Griffel loswerden. Das klingt jetzt sogar ein bisschen nach dem Tierlexikon eines Newt Scamander, so gesehen in Phantastische Tierwesen. Ja, irgendwie ist es das auch – aber dann doch ganz anders. Denn diese entworfene urbane Koexistenz, die hat ihren Reiz, sowohl optisch als auch in den Szenen eines bunt-bereichernden Alltags, der die Artenvielfalt preist.

Was dann doch hinterher trippelt wie die kleinen Pfoten des gelben Promi-Pokémon, das ist der austauschbare Plot. Natürlich, es ist mühsam, einen phantastischen Familienfilm zu entwickeln, der Nachwuchs wie Eltern begeistern kann. Der die Charakterlichkeit der Pokémons nicht verändert und den Nintendo-Kult ehrt. Was dabei rauskommt, ist viel plastische Liebe zum realistisch anmutenden Detail, irgendwo zwischen den Muppets und dem Revival von Marvels Howard, ein tierischer Held. Im Grunde aber sind all diese Geschichten sehr ähnlich. Und hinter der visuellen Finesse von Pokémon Meisterdetektiv Pikachu versteckt sich eine Krimikomödie vom Fließband, die sich durch keinerlei Besonderheiten auszeichnet, sondern trotz all seiner erzwungenen Story-Twists so vorhersehbar ist wie das Scheitern von Pechvogel Donald Duck. Da fehlt einfach das gewisse Etwas, und Konfusion ist nicht gleich Komplexität. Meistens ist eine stringentere Story die dichtere – weil dann auch noch Zeit bleibt, näher auf das Knuddel-Verhältnis zwischen Mensch und Fellknäuel näher einzugehen. Das hat Rob Lettermann (u. a. Gänsehaut) teilweise ziemlich verabsäumt, und bis auf Enton wächst einem so keiner richtig ans Herz. Der Handlung, der können Grundschul-Kids sowieso nicht mehr ganz folgen, und selbst Erwachsenen fällt dieses bemühte Hin und Her bald schon auf den Wecker, ohne es verstehen zu wollen. Was bleibt, ist ein zitatenreiches, buntes Abenteuer sowohl für Kenner als auch für Anfänger (wie mich), ein Elysium der Kuscheltiere, die zu teilautonomen Haustieren werden und das Alltagsleben versüßen, während irgendwo im Hintergrund ein holprig recycelter Familienkrimi vonstatten geht, der sich oft verfährt und letztendlich in einem Schema-F-Getöse mündet, das ermüdet. Schön, wenn nach der Heimkehr aus dem Kino dann das eigene Tierchen auf einen wartet – vielleicht mit einem Upgrade?

Pokémon Meisterdetektiv Pikachu

Der Buchladen der Florence Green

MIT DEM BUCHRÜCKEN ZUR WAND

6/10

 

florence_green© capelight pictures 2004-2018

 

LAND: SPANIEN, GROSSBRITANNIEN, DEUTSCHLAND 2017

REGIE: ISABEL COIXET

CAST: EMILY MORTIMER, BILL NIGHY, PATRICIA CLARKSON, JAMES LANCE U. A.

 

Erst vor Kurzem war in den Nachrichten wieder zu hören, dass das beliebteste Medium zum Lesen von Romanen, Fachliteratur und Ähnlichem immer noch das faden-, klebe- oder ringgebundene Buch ist, mit seinen bedruckten Seiten, Umschlägen, Vorsatzpapieren und dem Klappentext vorne und hinten. Ich muss also keine Sorge haben, dass der Blick in aufgeschlagene Seiten mitsamt seinem olfaktorischen wie haptischen Erlebnis vollends einem sterilen E-Book-Universum weichen muss. Da wäre wohl Florence Green ganz meiner Meinung. Ein Buch daheim im Regal stehen zu haben – was heißt eines, mehrere, ganze Kompendien und Reihen – hat etwas Verbindendes, vor allem mit dessen Inhalt. Und ich kann Florence Green nur beipflichten, wenn sie sagt: Mit einem Buch ist man nie wirklich allein. Da ist was dran. Diese Omnipräsenz von gespeichertem Wissen und verewigten Gedanken ist ein Portal nach außen, ein individuell zusammengestelltes Archiv von Information, die man kennen, wissen oder einfach nur um sich haben will, nur für den Fall. Es fühlt sich gut an, und es fühlt sich auch gut an, in die eine oder andere Buchhandlung zu gehen und Inhaltsangaben auf den Rückseiten von Büchern zu lesen, hinein zu schmökern in den Senf anderer Leute, die noch dazu das Talent haben, zu schreiben. Da ist es meist still, reizarm, inspirierend, ein Ort des Denkens und Nachdenkens. Traurig, wenn dann eine Buchhandlung nach der anderen schließt, nur weil Onlineportale den Wettbewerbsvorteil genießen. Damals, in den 50er Jahren, in welchen Isabel Coixet´s jüngster Film angesiedelt ist, war die Idee von Click&Buy reinste Science-Fiction. Da waren Buchläden das Social Media ohne fahrlässiges Kommentieren, da gab es maximal wohlformulierte Rezensionen in der Tageszeitung. Aber wo keine Buchhandlung, da auch keine Leserschaft, wie zum Beispiel in dem kleinen Küstenort Hardborough, wo das Volk maximal beim Wirten weilt, in die Kirche geht oder an Straßenecken smalltalkt. Die bibliophile Witwe Florence Green packt die Marktlücke also am Schopf, mietet sich in ein schmuckes altes Gebäude ein, dass ohnehin schon seit Ewigkeiten leer steht und beschenkt die Bürger der Stadt mit wohlsortiertem Lesestoff.

Allerdings kommt, womit die Frömmste wohl niemals gerechnet hätte, und womit sie in Zukunft auch nicht mehr in Ruhe wird leben können. Die missgünstigen Nachbarn, oder besser gesagt die Reichen, die das Geld haben, um anzuschaffen, die sind plötzlich nicht sehr erfreut. Dabei handelt es sich lediglich um eine einzige Person, eine Grand Dame mit künstlerischen Ambitionen, herrlich affektiert verkörpert von Patricia Clarkson, die statt einer biederen Buchhandlung ein Kulturzentrum eröffnen will. Gut, das könnte sie ja in jedem anderen leerstehenden Gebäude – aber nein, die Dame möchte besagtes Old House okkupieren, und Florence Green, die hat sich gefälligst zu vertrollen. Natürlich lässt sich das der intellektuelle Freigeist nicht gefallen, und entwickelt eine unerschütterliche Beharrlichkeit, die letzten Endes aber auf Granit beißen wird. Und das nicht nur, weil Werke wie Vladimir Nabokov´s Lolita als Fifty Shades of Grey der Nachkriegszeit für Lesefreude selbst für Buchstabenmuffel sorgt.

So spröde, trocken und staubgewischt wie das Interieur der Buchhandlung ist Isabel Coixet´s Gesellschaftsdrama dann teilweise auch geworden. Die spanische Regisseurin, die mit beachtlichen Filmen wie Mein Leben ohne mich oder Das geheime Leben der Worte zumindest bei mir wohlwollend in Erinnerung geblieben ist, passt sich mit Der Buchladen der Florence Green nicht nur den unbeständigen Wetterverhältnissen der englischen Küste an, sondern auch der verknöcherten Geisteshaltung des provinziellen Kleinbürgertums, das unter der Kantare perfider Möchtegern-Oligarchen steht. Ihr Film ist aus einem anderen Holz geschnitzt als alle bisherigen Werke, und es ist auch nicht so, das Coixet tatsächlich einen prägnanten Stil hätte, den man sofort erkennt. Vielmehr ist ihr Stil eine Anpassung an das Szenario, egal welche Geschichte sie erzählt. Selbst das ist eine Form von gestalterischer Konsequenz. Der Buchladen der Florence Green nach dem Buch von Penelope Fitzgerald wirkt urbritisch, etwas starr, irgendwie unbeweglich. Womöglich soll das so sein, und auch die erstmal etwas enervierende Stimme aus dem Off rechtfertigt am Ende ihre Notwendigkeit. Am Nachhaltigsten aber bleibt neben Emily Mortimer´s neuer Paraderolle als idealistisches Ein-Personen-Unternehmen natürlich Bill Nighy in Erinnerung, der als exzentrischer Außenseiter und Bücherwurm minutiös die Mühsal sozialer Interaktion greifbar werden lässt. Mit all diesen Figuren, welche die Parabel von der Ohnmacht gegen gesellschaftliche Dominanz bevölkern, gelingt Coixet dennoch ein zwar desillusionierendes, aber nicht resignierendes Drama, das ein eher unerwartetes Ende findet und vor allem durch sein Ensemble überzeugt. Und wiedermal klar macht, das ohne dem Willen der anderen der eigene Wille alleine oft nicht reicht.

Der Buchladen der Florence Green