The History of Sound (2025)

HÖREN, WAS UNS VERBINDET

5,5/10


© 2025 Fair Winter LLC. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2025

REGIE: OLIVER HERMANUS

DREHBUCH: BEN SHATTUCK, NACH SEINER KURZGESCHICHTE

KAMERA: ALEXANDER DYNAN

CAST: PAUL MESCAL, JOSH O’CONNOR, MOLLY PRICE, RAPHAEL SBARGE, HADLEY ROBINSON, ALESSANDRO BEDETTI, EMMA CANNING, BRIANA MIDDLETON, GARY RAYMOND, CHRIS COOPER U. A.

LÄNGE: 1 STD 7 MIN


Der neue Film von Oliver Hermanus erinnert unweigerlich an Brokeback Mountain, wie wahr ein Eckpfeiler des queeren Kinos, tragisch, sentimental und nicht davor zurückschreckend, den unantastbar scheinenden Mythos des maskulinen Westernhelden zu hinterfragen. Heath Ledger und Jake Gyllenhaal liebten sich, schmachteten sich an, vergossen Tränen und blickten so sehnsuchtsvoll wie wehmütig in die Landschaft. Und dennoch: So ganz genau wusste ich nicht, woran es lag, dass es den beiden nicht gelang, in ihren Figuren zu überzeugen. Lag es am Klischee des Westerns? Oder daran, dass Ledger und Gyllenhaal nur so tun mussten, als wären sie homosexuell? Vielleicht war Ang Lee als Regisseur auch nicht der richtige, vielleicht wäre Oliver Hermanus besser gewesen. Dieser hat schließlich das Thema auf eigene Weise variiert und die Tonalität eines Western außen vorgelassen, ohne aber auf die Historie eines Landes zu verzichten. Hermanus (sein letzter Film Living, nach einer Idee von Akira Kurosawa und mit einem sagenhaft guten Bill Nighy, lief ebenfalls auf der Viennale) taucht tatsächlich viel tiefer ein in das vergangene Amerika, glücklicherweise nicht nur im Sinne genrebedingter Parameter und Stereotypen, und findet seine unstillbare Sehnsucht zweier Männer im leisen Abenteuer des Suchens, Sammelns und Zuhörens.

Wie die Alten sungen

Dieses Zuhören zahlt sich aus, denn was Lionel und David miteinander verbindet, ist die Musik. Der eine, Lionel, besitzt schon von Klein auf die Fähigkeit, die akustische Welt anders zu empfinden als andere, er sieht und spürt sie in Farben, er kann sie fühlen und fast schon schmecken. Und er kann singen. Ein Talent, das ihn von der elterlichen Farm mit all seinen vom Vater zum Besten gegebenen Volksweisen nach Boston ans Musikkonservatorium bringt. Wo er natürlich David kennenlernt, einen Komponisten. Der eine singt, der andere spielt Klavier, so kommen sie, singend und spielend, zueinander und landen dann auch gemeinsam im Bett. Um später, nach dem ersten Weltkrieg, gemeinsam auf Wanderschaft zu gehen, amerikanische Volkslieder zu sammeln und auf Wachszylindern aufzuzeichnen.

Liebe und Distanz

In diesen Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts aber, während der Erste Weltkrieg tobt, ist Homosexualität ein Tabuthema, niemand redet darüber, doch die beiden akzeptieren sich und ihre Neigung – weit davon entfernt, sich zu outen. Der nach einer Kurzgeschichte von Ben Shattuck entstandene Liebes- und Lebensfilm macht aber gerade diese Art der sexuellen Orientierung nicht vorrangig zu einem Thema, sondern zieht, und das ist drängend genug, die Konsequenzen, die der Tatsache einer niemals realisierbaren Zukunft folgt. Paul Mescal und Josh O’Connor – beide gerade im Filmbiz sehr gefragt – spielen ihre Charaktere auf Distanz, sie bleiben verschlossen, agieren lakonisch, geben wenig von sich preis. Zwei introvertierte Außenseiter, auf der Suche nach dem Ort, wo sie hingehören könnten – The History of Sound nutzt das historische, in allen Brauntönen präsente Kolorit eines ruralen Amerikas und erweitert das Spektrum mit alten Liedern, die von der Schwere des Lebens und der Liebe erzählen. Natürlich der Liebe, das ist das, was auch die beiden jungen Männer bewegt, obwohl sie zumindest in Hermanus Narration zwar die Liebe zueinander darstellen sollen, jedoch stets so agieren, als würden sie auf Abstand bleiben wollen.

Wie klingen verpasste Chancen?

Mescal und O’Connor fehlt die Harmonie zueinander. Der ohnehin stets distanziert agierende O’Connor, der oft so wirkt, als hätte er ein sinniges Lächeln auf den Lippen und hinter dessen Fassade man schon in The Mastermind nicht blicken konnte, erhält durch seinen Filmpartner Paul Mescal, der sich ähnlich verschlossen zeigt, keinerlei Support, um Gefühle zu repräsentieren. Beide sind eine Insel für sich, beide streifen durchs herbstliche Amerika – die Lieder selbst, die man hört, füllen nur bedingt die emotionale Lücke, die der Film hinterlässt. Und man merkt auch: The History of Sound ist eine Kurzgeschichte. Ähnlich spartanisch fühlt sich diese Story an, die sich sichtlich bemüht ist, im Fluss zu bleiben, nicht aber daran interessiert ist, den Zuseher einzubinden.

Spärlich interessante Figuren also in einer prinzipiell interessanten, aber gehemmten Exkursion über die Verbundenheit durch Klang, Erbe und Gesang, die ihre eigene Romanze vernachlässigt, dafür aber in den letzten Minuten eine sentimentale, nostalgische Wehmut mit sich bringt. Schließlich artikuliert sich, was bisher die ganze Zeit gefehlt hat: Die Schmerzlichkeit einer Empfindung, die man hat, wenn man nicht weiß, wohin einen das Herz tragen soll. Manchmal weiß The History of Sound auch nicht, wohin mit sich. Diese Ratlosigkeit schafft eine kaum überbrückbare Distanz.

The History of Sound (2025)

The Mastermind (2025)

DIE NAIVE KUNST DES KUNSTRAUBS

4/10


© 2025 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: USA, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2025

REGIE / DREHBUCH: KELLY REICHARDT

KAMERA: CHRISTOPHER BLAUVELT

CAST: JOSH O’CONNOR, ALANA HAIM, HOPE DAVIS, BILL CAMP, JOHN MAGARO, GABY HOFFMANN, JASPER & STERLING THOMPSON, ELI GELB, COLE DOMAN, MATTHEW MAHER U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Im Krieg und in der Liebe…

James Blaine Mooney – der zweite Vorname gleicht nicht rein zufällig dem Verb blame, übersetzt für „schuldig bzw. schuld sein an etwas“ – ist wohl der Meinung, man befände sich im Krieg. Tatsächlich hat er nicht ganz unrecht, nur: der Krieg findet nicht vor der eigenen Haustür statt, sondern weit weit entfernt im abstrakt wirkenden Vietnam, wo Richard Nixon Menschenleben verpulvert für nichts und wieder nichts. Im heimatlichen Massachusetts, wo die Lichter zwar nicht ausgehen, aber das Licht der Erkenntnis bei manchen nicht wirklich durch den Schleier der Selbstüberschätzung dringt, scheint alles friedlich, wo andernorts vor allem die studierte Jugend auf die Straße geht, um gegen das angeblich Unvermeidliche zu demonstrieren. Während von überallher Nachrichten und Fernsehen dafür sorgen, dass der Krieg nicht aus den Köpfen der Bevölkerung verschwindet, hat auch dieser James Blaine Mooney, im weiteren Filmverlauf nur JB genannt, eher den Eindruck, dass sich in dieser prekären Ausnahmesituation ein Bankraub vielleicht so aussehen könnte wie eine Plünderung – durchaus menschliche Verhaltensweisen, die dann eintreten, wenn die staatliche Ordnung mitsamt ihrer Exekutive für nichts mehr garantieren kann und die Anarchie Gelegenheitsräuber reich macht. Als so einer will der zweifache, allerdings arbeitslose Vater, der sein Kunstgeschichtestudium aus welchen Gründen auch immer abgebrochen hat, das große Geld machen. Am besten im örtlichen Museum of Art in Framingham, das er ohnehin mit der lieben Familie immer wieder besucht, anstatt einen Job anzunehmen, der zum Greifen nah scheint.

Dominosteinschlaggefahr 

Doch Plündern will gelernt sein – und vorallem eins: durchdacht. Kelly Reichardt, auf deren Filme jedes Filmfestival dieser Welt wartet wie ein Verhungernder auf einen Bissen Brot, erteilt der Figur des Erfolgs-Querdenkers und Improvisateurs eine Lehre, indem sie ihn auf ganzer Linie scheitern lässt. Das beginnt schon bei JB’s Bequemlichkeit, das Ding nicht selber durchziehen, sondern windschiefe Leute anzuheuern, die nicht anders können, als zur Waffe zu greifen und eifrig zu zwitschern, sobald sie von der Exekutive in die Mangel genommen werden. So folgt also eines aufs andere, und Beau Josh O’Connor darf sich in fruchtloser Breaking Bad-Manier mit den Dominosteinen des Schicksals herumschlagen. Film Noir will The Mastermind aber keiner sein, dafür fehlt zur Gänze die melancholische, gar existenzialistische Schwere. Und noch etwas: Überhaupt fehlt in Kelly Reichardts Arbeit so etwas wie Belang.

Langweilen mit dem Offensichtlichen

Die ausgebleichten Farben der Siebziger sind eine Sache, die enervierende Jazzmusik eine andere, und tatsächlich quälende. Schafft man es, die Tonspur geistig auszublenden, bleibt immer noch das Rätsel um Josh O’Connors Charakter. Anscheinend ist dieser ein Mensch ohne Eigenschaften – wortkarg, uncharismatisch, erstaunlich phlegmatisch, im Grunde also wenig interessant. Reichardt gelingt es diesmal nicht, ihren Figuren eine gewisse Relevanz zu geben. Was mit JB also passiert, mag egal sein, so wie viele Szenen in dieser Krimidramödie, die unentschlossen zwischen knirschender Tragik und lakonischem Sarkasmus hin und her schlendert. Die Auswahl der Szenen misslingt – warum sich minutenlang mit dem Offensichtlichen aufhalten, mit der wortlosen Betrachtung von JB’s Tätigkeiten, die das Hirn des Zusehers mühelos ergänzen könnte. Was dieser also denkt, sieht er auch. Was er sich nicht denkt, sieht er nicht. Gedankliches Ergänzen in Filmen fordert eine Interaktion, die Reichardt gar nicht möchte. Kombinieren lässt sich die Metaebene mit dem Krieg zwar schon, doch die eigentlichen Beweggründe der Hauptfigur beschneidet sie derart, dass sie die Wurzel gleich mit entfernt.

The Mastermind, von der Prämisse her reizvoll, gestaltet sich als brustschwaches Heist-Movie in eitler Reduktion, fehlgriffig in seiner Struktur und frei von erzählerischen Peaks. Viel gibt’s dabei also nicht zu entdecken, außer vielleicht die Bildwelten des Arthur Garfield Dove.

The Mastermind (2025)

Die Fotografin (2023)

DAS MODEL IN HITLERS BADEWANNE

6/10


diefotografin© 2024 Constantin Filmverleih


ORIGINALTITEL: LEE

LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: ELLEN KURAS

DREHBUCH: LEM DOBBS, LIZ HANNAH, JOHN COLLEE & MARION HUME

CAST: KATE WINSLET, ANDY SAMBERG, ALEXANDER SKARSGÅRD, MARION COTILLARD, JOSH O’CONNOR, ANDREA RISEBOROUGH, NOÉMIE MERLANT, VINCENT COLOMBE, SAMUEL BARNETT, ZITA HANROT U. A.

LÄNGE: 1 STD 56 MIN


Als Charakterdarstellerin und als jemand, der biografischen Figuren Seele verleiht, ist Kate Winslet wohl nach wie vor und ungebrochen an der Spitze weiblicher Schauspielgrößen vorzufinden, die ihren Charakteren wie aus dem Ärmel geschüttelt eine ganze Biografie verleihen, ohne sie darstellen zu müssen. Da reichen Auszüge im Rahmen eines zweistündigen Dramas, die wissen lassen, dass davor schon eine ganze Menge passiert sein muss. Komplette Lebensgeschichten sind das geworden, eine komplette Lebensgeschichte wird auch die Chronik des Zweiten Weltkriegs aus der Sicht von Model, Künstlerin und Kriegsreporterin Lee Miller, die als eine der ersten und an der Seite der Alliierten die ganze grausame, himmelschreiende Wahrheit hinter dem Hitler-Regime dokumentieren konnte. Als Berufene und im Auftrag der Allgemeinheit ihre Pflicht erfüllende Reporterin leistete Miller ganze Pionierarbeit. Schließlich waren Frauen an der Front etwas Undenkbares, waren Frauen abseits des Lazaretts aus der Sicht der Männer entweder eine Gefahr für sich selbst oder eine Gefahr für andere. Miller setzte neue Maßstäbe, etablierte wohl einen ganzen weiblichen Berufszweig. Zeigte überdies Mut, Selbstbewusstsein und Leidensfähigkeit. Vor allem die der Psyche. Schließlich muss ein Mensch, reich an Werten und progressiv-humanistischen Idealen das unangekündigt Grausame, das hinter den Mauern der Konzentrationslager von Buchenwald und Dachau zum Vorschein kam, erstmal verarbeiten. Miller konnte das niemals so richtig, all diese Bilder begleiten sie bis ins hohe Alter. Zu diesem Zeitpunkt sitzt sie in ihrer Wohnung einem Journalisten gegenüber, der über ihr Leben so einiges wissen will. Auf einem Couchtisch ausgebreitet sämtliche Fotografien, ihm gegenüber Kate Winslet hinter missglückten Latexfalten, aber immer noch greifbar erfahren und müde von einem Leben voller menschlicher Dramen zwischen Kunst, Egomanie und höheren Aufgaben im Dienste der ganzen Menschheit.

Im Original betitelt Regisseurin Ellen Kuras, die als Kamerafrau wohl am Set von Eternal Sunshine of the Spotless Mind auf Kate Winslet traf und seither immer wieder mit ihr zusammenarbeitet, ihren Film schlicht als Lee. Die Art der Betrachtung einer Künstlerin wie Miller eine war, mag weder huldigend noch deutlich kritisch ausfallen. Die Selbstinszenierung in Hitlers Badewanne war, und das steht außer Frage, eine Aktion, die gemischte Gefühle hervorruft. Geschmacklos oder nicht: das Foto ist wohl als Triumph über das diktatorische Böse zu sehen. Körperpflege an Hitlers statt zu vollziehen, könnte aber auch als unbeabsichtigte Anbiederung durchgehen, sofern man Miller nicht auf diese Weise kennenlernt, wie Kuras es sich vorgenommen hat: Kettenrauchend, nonkonform und zäh genug für den Job, die Wahrheit im wahrsten Sinne des Wortes ans Licht zu bringen. Winslet portraitiert die Ikone souverän.

Wirklich nahe kommt man der Person aber dennoch nicht. Wenig greifbar bleiben auch all die anderen Nebenfiguren wie Alexander Skarsgård als Künstler Roland Penrose oder Andy Samberg als Millers Arbeitskollege David E. Scherman. Sie sind Gaststars im Laufe eines erfüllten Lebens, das dicht mit den Ereignissen um den Zweiten Weltkrieg verwoben ist und auch mit dazu beigetragen hat, das Schwarzbuch der Menschheit zu illustrieren. Als informativer biografischer Spielfilm macht Die Fotografin augenscheinlich nichts verkehrt. Vor allem jene Szenen, die das Entdecken der Konzentrationslager schildern, gehen unter die Haut, ertappt man sich doch dabei, unter furchterfüllter Neugier Miller auf dem Fuß zu folgen und über deren Schulter zu blicken, als wäre man selbst dabei. Darüber hinaus aber berührt der Film wohl weniger, als dass er Aufschluss gibt. Miller bleibt auf Distanz, es bleibt weitestgehend unklar, was sie bewegt oder antreibt. So gesehen fehlt die Lust an der Interpretation, letztlich sind es nur biographische Notizen eines Lebens, das in Filmform und mit weniger Fokus auf die Psyche nur schwer zu fassen ist.

Die Fotografin (2023)

La Chimera (2023)

ITALIEN MIT DER WÜNSCHELRUTE

6,5/10


lachimera© 2023 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: ITALIEN, FRANKREICH, SCHWEIZ 2023

REGIE / DREHBUCH: ALICE ROHRWACHER

CAST: JOSH O’CONNOR, CAROL DUARTE, ISABELLA ROSSELLINI, ALBA ROHRWACHER, VINCENZO NEMOLATO U. A.

LÄNGE: 2 STD 10 MIN 


Alice Rohrwacher hat Feuer. Jedenfalls merkt man das, wenn man ihr zuhört. Auch wenn die italienische Autorenfilmerin zwar nicht persönlich zum Filmfestival der Viennale zugegen sein konnte, so hat sie es sich immerhin nicht nehmen lassen, via Zoom (ja, es hat funktioniert) und von der großen Leinwand über ein vollbesetztes Gartenbaukino hinweg aus ihrem Film zu erzählen. Da gab es nichts Diktiertes, und auch keine Message Control. Autarkes Filmemachen braucht sowas nicht, denn es hat eine Vision. Und zwar nicht eine Vision über Profit und den lukrativen Weltmarkt, sondern über den Stoff an sich, für den kaum ein Einsatz zu groß sein kann. Wie zum Beispiel für Filme wie La Chimera.

Dort, wo der Mainstreamfilm längst anfangen müsste, über seine kreativen Ziele zu reflektieren und sich in repetitiven Schablonen verliert, die so abgestumpft sind, damit sie tunlichst für jedes Zielpublikum taugen, bringen Filmemacher mit Herzblut ihre zum größten Teil selbst verfassten, nicht für alle gefälligen Geschichten auf die Leinwand. Und das, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen. Genau dafür sind Filmfestivals wie die Viennale ins Leben gerufen worden – um, erleichtert aufatmend, den Pulsschlag des Kinos zu spüren. Das Mainstreamkino kippt vielleicht irgendwann aus den ausgetretenen Latschen, in absehbarer Zeit. Jenes von Alice Rohrwacher längst noch nicht. Dabei hatte ich die Dame anhand ihrer Werke erst 2018 kennen und schätzen gelernt. Ihr bezaubernder, trauriger und ungewöhnlicher Film Glücklich wie Lazzaro hat wiedermal den anderen Blick erlaubt. Auf Möglichkeiten, wie man Kino noch erfahren kann. Im Retro-Look, aber narrativ doch ganz anders, erzählt dieser Film die bittersüße Ballade eines herzensguten Menschen, der sich an den sozialen Bedürfnissen der anderen letztendlich aufreiben wird.

Ihr brandneuer Spielfilm taucht tief in die römische Geschichte ein, was aber nicht heißen soll, La Chimera ist Historienkino mit Sandalen und Toga. Rohrwacher kreiert ihren laut Indiewire „besten Indiana Jones Film des Jahres“ als eben das: als ganz eigene Interpretation eines Schatzsucher-Abenteuers, eng verbunden mit italienischer Identität und der sinnbildlichen Auseinandersetzung mit einem nahezu janusköpfigen Gemüt einer scheinbar ewigen Nation zwischen Vermächtnis, Gegenwart und draufgängerischer Zukunft. Interessanterweise ist die Hauptfigur, anders als Lazzaro, kein Italiener, sondern ein Brite. Josh O’Connor (u. a. Emma, Ein Festtag) dürfte sich laut Rohrwacher anhand eines Briefes an die Filmemacherin gewandt haben, womöglich mit der dringenden Bitte, diese Rolle spiele zu dürfen. Trotz ihrer Vorstellung, den Vagabunden Arthur als weitaus älter erscheinen zu lassen, hat O`Connor diese Rolle schließlich erhalten. Und er macht sich gut als aus dem Gefängnis entlassenes, ruhe- und heimatloses Medium, das die Fähigkeit besitzt, etruskische Gräber aufzuspüren – Hohlräume unter der Erde, versiegelt seit dem Damals, und vollgefüllt mit wertvollen Grabbbeigaben. Natürlich tut er das nicht nur für sich selbst – eine kleine Bande Grabräuber nutzt seine Fertigkeiten, um ans große Geld zu kommen. Verhökert werden die Artefakte an einen mysteriösen Mr. X, genannt Spartaco. Doch das ist nicht die einzige Bestimmung, die Arthur durch eine ungewisse, sich stetig verändernde Zukunft treibt: Er ist auf der Suche nach seiner großen Liebe Benjamina, die eines Tages plötzlich verschwand. Vielleicht findet sich die Antwort in einem der Gräber, vielleicht in seinen Träumen. Die Irrfahrt des Arthur gerät zur Legendenbildung, zum Stoff für eine Ballade, die von Barden besungen wird, die ebenfalls aus der Zeit gefallen zu sein scheinen und dem ganzen märchenhaften Abenteuer zur poetischen, freien Interpretation einer antiken Sage werden lassen: Orpheus und Eurydike.

Hätte Rohrbacher diese Analogie nicht erwähnt, mir wäre eher Theseus und Ariadnes Faden in den Sinn gekommen. Denn dieser Faden aus dem Kleid von Benjamina spinnt sich durch die ganze Geschichte. Es brilliert die großartige Isabella Rossellini als fellineske Vertreterin eines vergangenen Italiens, es kokettiert Carol Duarte mit dem melancholischen Indiana Jones, der zwischen Realität und Vision umherwandelt und nirgendwo Ruhe findet. La Chimera ist die Geschichte eines Getriebenen, den das Gestern und Heute Italiens herausfordern. Rohrwachers Bilder sind voll zarter Poesie, weit weg vom Neorealismus eines Visconti oder der resoluten Mentalität einer Sophia Loren. Dieses Italien, mit all seinen Schätzen und seiner Geschichte, schwimmt dahin wie die vage Nacherzählung eines Epos, die frei formulierte Charakterisierung einer sehnsüchtigen Heldengestalt.

Doch so überraschend einnehmend Rohrwachers Lazzaro damals gewesen war: Die Intensität dieses Films erreicht La Chimera nicht. Kann ein Film zu spielerisch sein? Dass sich die Stilistin zu sehr in ihren Interpretationen verliert und vielleicht gar zu viel will? Hier lässt sich beides fast vermuten. Das kauzige Abenteuer mit dem Spirit idealistischer Outlaws gerät unruhig, vielleicht manchmal auch fahrig. Hat den Enthusiasmus Rohrwachers als brummenden Motor hinter sich, irrt aber manchmal genauso umher wie sein Protagonist. Keine Frage, La Chimera ist ein sehenswertes Stück leichtfüßiges Kunstkino, fabulierend, bunt und analog. Mehr Konzentration auf Arthurs Odyssee, auch in Bezug darauf, was ihn mit seiner verlorenen Geliebten eigentlich verbunden hat, hätte diesen magischen Realismus in die richtige Balance gebracht.

La Chimera (2023)

Emma (2020)

LIEBELEI IN HELLEN TÖNEN

8/10

 

emma© Universal Pictures Int. Germany

 

LAND: GROSSBRITANNIEN 2019

REGIE: AUTUMN DE WILDE

CAST: ANYA TAYLOR-JOY, BILL NIGHY, MIA GOTH, JOSH O´CONNOR, JOHNNY FLYNN, GEMMA WHELAN U. A. 

 

Diese Blicke sagen mehr als tausend Worte. Wenn Anya Taylor-Joy als literarische Establishment-Kupplerin Emma ihr Gegenüber beobachtet, wenn sie neue „Opfer“ für ihre harmlos intriganten Gesellschaftsspielchen findet oder wenn sie plötzlich selber merkt, dass ihr Herz schneller schlägt, dann sind das garantiert bezaubernde Filmmomente in einer gelungenen Neuinterpretation von Jane Austens Klassiker. Dieser handelt von einer intellektuellen jungen Dame, die eigentlich nicht viel mehr zu tun hat außer sich die Zeit damit zu vertreiben, jungen Männern schöne Augen zu machen und junge Damen für ihre Liebesrochaden auf wohlwollende Art zu manipulieren. Das klingt jetzt nicht wahnsinnig nett, aber Emma ist es die meiste Zeit trotzdem. Keiner merkt wirklich, was sie vorhat. Der, der es merken könnte, ist ihr Vater – der einzige, mit dem Emma in ihrem stattlichen Anwesen zusammenlebt – die Mutter verstorben, die Schwester verheiratet und ausgezogen. Der Vater aber: ein unheilbarer Hypochonder, den jeder Luftzug mutmaßlich ins Grab bringen könnte – sehr zurückhaltend und lustvoll dargeboten von Bill Nighy, der in so klassischen Stoffen einfach seine Rolle haben muss, es geht gar nicht anders. Und es geht auch gar nicht anders, Jane Austens lustvolle Sezierung der Hautevolee des beginnenden 19. Jahrhunderts nicht als Kostümorgie zu inszenieren.

Die Neuverfilmung, die macht hier alles andere als einen großen Bogen um stilvolle Meisterwerke historischer Schneiderskunst: Was die Herr- und Damenschaften hier alles an schicker Mode zur Schau tragen, wird vielleicht nur noch getoppt von einer sagenhaft penibel arrangierten und akkurat fotografierten Ausstattung, vorzugsweise in pastelligem Setting aus Lavendel- und Rosatönen, aus hellem Orange und überhaupt einer ganzen Palette verdünnter Farben, die nur so von der Leinwand fließen. Emma ist filmgewordenes Aquarell, eine Bilderflut aus der Romantik und stark verwandt mit dem deutschen Biedermeier. Heller, strahlender, aber längst kein bunter Kitsch, sondern wohlgesetzte Farbgebung, meist in der Kombination zweier ausgesuchter Komplementen. Berauschend, was hier zu sehen ist. Geschmackvoll, wenn Emma unter einer blühenden Kastanie steht, und dabei ein Kleid trägt mit derselben Farbe der Blüten. Wenn über weite, parkähnliche Wiesen mit vereinzelten Baumriesen in roten Umhängen die Schülerinnen des Mädchenpensionats eilen. Wenn der Zylinder der Herren passend zur Verbeugung vor den Damen nobel vom Haupt genommen wird. Ein Augenschmaus, diese Zeit, unbekümmert und entrückt. Der Wohlstand als gesellschaftliche Blase, die von den Erinnerungen der Revolution gänzlich unberührt bleibt.

In all diesem schwelgerischen Zuckerbäckerstil – auf Silbertellern Makronen in allen Farben und der Tee in edlem Porzellangeschirr – wirft eben Anya Taylor-Joy ihre unwiderstehlichen koketten Blicke. Vortrefflich, wie sie Emmas Stil, ihre Anmut, aber auch ihre manchmal soziale Unbeholfenheit in die gefilmte Epoche hinausträgt. Wie sie fähig ist, einzutauchen in eine Zeit, die schon so wahnsinnig lange zurückliegt. Wo Heiratsanträge brieflich hereinflattern. Oder Gesellschaftstänze als Auslöser für eine Leidenschaft bedeutender waren denn je. Die junge Britin, ehemals Hexe (The Witch) und an der Seite von James McAvoy in Split, verleiht ihrer Emma wirklich alles, was man sich von dieser klassischen Figur nur wünschen kann. Klugheit, Eloquenz, Witz und letzten Endes wie bei allen jungen Damen auch: die große Liebe, die sich erstmal wie etwas Fremdes anfühlt, bevor sie ihre Bestimmung findet. Mia Goth als Emmas Schützling Harriet ist da nicht weniger bezaubernd.

Autumn De Wilde, eigentlich Fotografin, hat mit ihrem ersten Film die romantische Literatur für das Kino des 21. Jahrhundert aufbereitet, mit akzentuierter, klassischer Musik unterlegt und dem sonst subjektiven Begriff des Schönen und Geschmackvollen durchaus wieder mal alle Ehre erwiesen.

Emma (2020)