Blitz (2024)

IM SCHUTZ DER MUTTER

5/10


Blitz© 2024 Apple TV+


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2024

REGIE / DREHBUCH: STEVE MCQUEEN

CAST: SAOIRSE RONAN, ELLIOTT HEFFERNAN, HARRIS DICKINSON, BENJAMIN CLEMENTINE, KATHY BURKE, PAUL WELLER, STEPHEN GRAHAM, LEIGH GILL, ALEX JENNINGS U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN 


Eben erst kann Saoirse Ronan im Alkoholiker- und Neuanfangsdrama The Outrun das Kinopublikum davon überzeugen, wie sehr ihre schauspielerischen Fähigkeiten durch die emphatische Vorgehensweise einer klugen Regie (in diesem Fall durch Nora Fingscheidt) ausgeschöpft werden können. Kann sein, dass hier zumindest eine Nominierung für welchen Preis auch immer winkt. Zeitgleich können Abonnenten auf der Streaming-Plattform des Apfel-Konzerns einem Jugendfilm folgen, der die unverwechselbare Irin ebenfalls auf seiner Casting-Liste weiß. Und niemand geringerer als Steve McQueen führt Regie, von welchem wir eine ganze Reihe unbequemer Filme gewohnt sind, darunter 12 Years A Slave. Das Sklavendrama, ich erinnere mich noch gut, spart dabei nicht mit Szenen, die lange im Gedächtnis bleiben. Elf Jahre später und nach dem Unterwelt-Thriller Widows aus dem Jahr 2018 begibt sich der Afroamerikaner auf Augenhöhe eines neunjährigen Jungen, der während des Zweiten Weltkriegs und der Phase des von den Deutschen initiierten Blitzkrieges von Mama getrennt werden soll, um irgendwo am Land zum eigenen Schutz einer temporären Pflegefamilie zugeteilt zu werden. Schweren Herzens muss Saoirse Ronan als ebendiese Bezugsperson des kleinen George eine emotional belastende Entscheidung treffen, denn hier im London des Jahres 1940/41 ist niemand mehr sicher, der nicht rechtzeitig nach Ertönen der Alarmsirenen in einem bombensicheren Keller Zuflucht finden kann. Klar wird: Diese Sicherheitszonen sind rar, oftmals dient nur die Untergrundbahn als Notlösung. Nichts für einen Jungen wie George. Als dieser, enttäuscht von seiner Mutter und überhaupt enttäuscht vom jungen Leben, im Zug Richtung Unbekannt sitzt, überkommt ihn der Impuls, einfach auszusteigen. Das tut er dann auch, und schlägt sich von der Provinz aus wieder nach London durch, um zurück zu seiner Mum zu gelangen, denn nur dort, so meint er, ist der sicherste Platz auf Erden.

Was dem Buben dabei widerfährt, erinnert fast schon an das Schicksal eines Waisenjungen namens Oliver Twist, niedergeschrieben von Charles Dickens. Den Krieg aus der Sicht eines Kindes zu erzählen – diese Idee hatte schon John Boorman in seinem 1987 veröffentlichten Drama Hope & Glory – Der Krieg der Kinder. Dort schildert der Regiemeister die Erlebnisse eines Jungen namens Bill, der den Blitzkrieg als spektakuläres Abenteuer wahrnimmt. Kenneth Branagh nimmt in Belfast seine eigene Kindheit während des Nordirlandkonflikts in den Sechzigerjahren zum Thema – auch dort ist die Sicht eines jungen Menschen auf ein für ihn teils unerklärbares Katastrophenszenario die oberste einzuhaltende Konsequenz, um Politik und Geschichte erfrischend neu zu erfassen.

Blitz geht diese Konsequenz leider nicht ein. Anstatt sich auf den neunjährigen George zu konzentrieren, setzt McQueen auf zwei Perspektiven. Jene der Mutter und natürlich des Kindes. Was dabei passiert, ist eine kompromissvolle Gratwanderung zwischen konventioneller Erzählweise über die Rolle von Londons Bevölkerung während des Bombardements im Zweiten Weltkrieg und den mit Kinderaugen wahrgenommenen, traumatischen Ausnahmezuständen zwischen Verdunkelung und Trümmerlandschaft. Durch den zweigeteilten Fokus hat keine der beiden Geschichten wirklich die Chance, tiefen- und gesellschaftspsychologisch relevant zu werden. Ganz im Gegenteil. Saoirse Ronan hat niemals die Chance, ihre Rolle zu vertiefen, auch ihre Storyline bleibt halbherziges Fernsehdrama, gut ausgestattet, aber flach. Die Sicht des George hat gute Ansätze, verliert sich aber im bemühten Szenario eines klassischen Erlebnisromans mit nur wenig Experimentierfreude. Als ausgesprochen biederer Kriegsfilm bereichert Blitz sowohl dramaturgisch als auch emotional das Genre nur geringfügig.

Blitz (2024)

Happyend (2024)

NUR ZU EURER SICHERHEIT

5/10


Happyend© 2024 Viennale


LAND / JAHR: JAPAN, USA 2024

REGIE / DREHBUCH: NEO SORA

CAST: YUKITO HIDAKA, HAYATO KURIHARA, YUTA HAYASHI, SHINA PENG, ARAZI, KILALA INORI, PUSHIM, AYUMU NAKAJIMA, MAKIKO WATANABE, SHIRŌ SANO, MASARU YAHAGI U. A.

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Die nahe Zukunft lässt sich in Japan kaum von der Gegenwart unterscheiden. Es sind nur einige technische Gimmicks, die anders sind. Die Politik der Minderheiten scheint rigoroser und intoleranter, die Überwachung deutlich stärker. Doch was weiß ich denn so genau über Japan. Ich war noch nie dort, und müsste daher im Bekanntenkreis recherchieren, wie sehr der Inselstaat in seiner eigenen Zukunft bereits angekommen ist oder diese gar überholt hat. Die Mentalität Japans lässt sich des öfteren anhand strenger gesellschaftlicher Konzepte betrachten, in diesem Fall am Konzept der Schule und des Schulwesens. Doch anders als im Film Monster von Hirokazu Koreeda, der letztes Jahr auf der Viennale lief, handelt Happyend von Newcomer Neo Sora nicht von Schuld, Wiedergutmachung und Reputation, sondern schwimmt, diffus im Hintergrund, im Themenpool einer Sicherheitspolitik, die völlig berechtigt und aus panischer Angst vor den Kräften der Natur die Erdbebenprävention auf die Spitze getrieben hat. Doch nicht nur höhere Mächte geben den politischen Mächten die Legitimation, mit den Bürgern so umzuspringen, wie sie es gerne hätten, indem sie diese in ein Regelkorsett stecken, das keinerlei verhaltenstechnische Freiheiten mehr erlaubt. Ordnung ist im Japan der nahen Zukunft das halbe Leben, und so wird der schulische Schabernack einer fünfköpfigen Clique, die, kurz vor ihrer Volljährigkeit und dem Start ins autonome Leben, dazu verwendet, ein Überwachungssystem zu installieren, das an Big Brother erinnert und die Individuen dauerscannt, um sie bei welchem kleinen Vergehen auch immer einem Punktesystem zu unterwerfen. Ab zehn Schlechtpunkten werden die Eltern einbestellt. Man kann sich vorstellen, was passiert, wenn sich der Wert verdoppelt. Dieses Werten erinnert mich an das Ordnungssystem in Hogwarts aus Rowlings Harry Potter-Romanen. Allerdings konnte man dort zumindest Pluspunkte sammeln, während im futuristischen Japan nur der Ungehorsam beachtet wird. Diesem System will sich die Gruppe aber nicht aussetzen, doch dagegen etwas zu unternehmen, würde nur gelingen, wenn alle an einem Strang ziehen. Was sie nicht tun. Schließlich hat jeder und jede der fünf andere Prioritäten, die es zu verfolgen gilt. Und andere Ziele für die Zeit nach dem Abschluss.

Neo Sora macht aus seiner angekündigten Social-Fiction-Dramödie ein gemächliches Coming Of Age-Drama im Highschool-Milieu, die Freundschaft von Kou, Yuta, Ata-chan, Ming und Tomu stehen im Mittelpunkt. Alle fünf sind grundverschieden, und dennoch stets gemeinsam unterwegs. Da im grunde nur Kou das Ideal einer gesellschaftlichen Revolution verfolgt, und Ata-chan nur allerhand Schabernack im Sinn hat, wie zum Beispiel die Nobelkarosse des Schuldirektors hochkant aufs Heck zu stellen (wie er das gemacht hat, wird nie erklärt), hat Happyend niemals die Priorität, das Problem der totalen Kontrolle mit expliziter Strenge anzupacken. Was hätte man aus dieser Vision nicht alles machen können, wie radikal hätten andere Filmemacher hier wohl gefuhrwerkt – andererseits: dass selbst Happyend in einigen Kreisen Japans laut Sora auf Empörung stieß, sagt vieles darüber aus, wie weit man in diesem Land gehen kann, um Missstände aufzuzeigen oder drohendes Unheil wie den Teufel an die Wand zu malen, ohne die Subvention zu verlieren. Ryusuke Hamaguchi versteckt seine Gesellschaftskritik lieber in Metaphern, Neo Sora versteckt sie hinter der dahinplätschernden Komödie über junge Menschen, die ihre Gemeinschaft auf dem Spiel stehen sehen. Die totalitäre Kontrolle mag da ein unangenehmer Faktor im Hintergrund sein, doch die Auseinandersetzung damit bleibt zu halbherzig und versöhnlich, um mit diesem Film wirklich etwas bewegen zu können.

Happyend (2024)

Perfect Days (2023)

DAS GLÜCK DES URBANEN MENSCHEN

8/10


perfectdays© 2023 The Match Factory


LAND / JAHR: JAPAN 2023

REGIE: WIM WENDERS

DREHBUCH: WIM WENDERS, TAKUMA TAKASAKI

CREDIT: KŌJI YAKUSHO, ARISA NAKANO, TOKIO EMOTO, YUMI ASO, SAYURI ISHIKAWA, TOMOKAZU MIURA, AOI YAMADA, MIN TANAKA U. A.

LÄNGE: 2 STD 3 MIN


Für Wim Wenders braucht man Zeit. Keine große Eile, keine Hummeln im Hintern oder rotierende Gedanken, die den eigenen nächsten Tag planen wollen. Für Wim Wenders sollte man in sich ruhen, den Herrgott mal, sofern dieser nötig ist, einen guten Mann sein und lassen und auf Entschleunigung setzen. Das war bei Wenders‘ Filmen schon immer so. Nur jetzt, in seinem Werk Perfect Days, ist der kontemplative Faktor einer, der das Geschehen bestimmt. Un dieses ist gerade gut genug, um zufrieden auf so manche Tage zurückzublicken, die manchmal nicht viel mehr bescheren als wiederkehrende Rituale und Handlungen, in denen aber sehr viel von dem liegt, was unsereins heutzutage an allen Ecken und Enden im öfter vermisst: Geborgenheit, Sicherheit, Genügsamkeit. Die Freude an kleinen Dingen, an den Himmel am Morgen, an den ersten Kaffee, an sorgsam getane Arbeit oder an das Schmökern im Buch unserer Wahl kurz vor dem Einschlafen: Momente wie diese sind Gold wert, in einer Welt im Umbruch. Sie bieten die Konstante, um nicht den Verstand zu verlieren. Nicht nur Wim Wenders weiß das, auch sein Protagonist Hirayama.

Das Ungewöhnliche in einem ohnehin ungewöhnlichen Film: So wirklich viel über diesen recht wortkargen Einzelgänger erfährt man nie. Hirayama ist ein Mann ohne Biographie. Einer, der im Jetzt verweilt, der keine Vergangenheit hat und auch die Zukunft nicht plant. Hirayama ist allerdings kein Fremder in einer uns fremden Welt wie Tokyo – er ist einer, der aufgrund seines ausgesparten bisherigen Lebenswandels genügend Raum lässt für die Eigeninterpretation eines jeden Betrachters, die nicht ohne persönliches Kolorit vonstatten geht. Diese Reduktion erlaubt einen ungeahnten Zugang zu einer Figur, die nicht mal einen Namen gebraucht hätte, um sich mit ihr zu identifizieren. Meist agiert der in Cannes geadelte Schauspieler Kōji Yakusho ohne Worte, wird geradezu pantomimisch in manchen Szenen. Schenkt seinem gegenüber manchmal nur ein Brummen. Lässt sich dann, als seine Nichte ihn eines Tages überrascht, zu Mehrwortsätzen hinreissen. Auch die sind wertvolles Gut. Denn Hirayama ist mit sich und seinem bescheidenen Leben im Einklang. Alles scheint gesagt. Der Rest ist Schweigen.

Dieses Leben bietet auf den ersten Blick wahrlich nichts Aufregendes. Doch braucht es das? Ist das Abenteuer wirklich das, wofür wir alle hinarbeiten und wofür es sich nur deswegen zu leben lohnt? Die Alternative ist das Glück im Kleinen, das auch nur dann greifbar werden kann, wenn manche Tage misslingen. Hirayama dürfte, so mein Verdacht, ein ganzes, komplett anderes Leben hinter sich gelassen haben. Womöglich war er mal wohlhabend, hatte Erfolg, fand sein Elysium im Materiellen und im gesellschaftlichen Status. Wir wissen: Hirayama ist ein Intellektueller, ein Denker und Planer. Was er allerdings den ganzen Wochentag lang macht: Er putzt die öffentlichen Toiletten der japanischen Großstadt, die. architektonisch betrachtet, jeweils kleine Sehenswürdigkeiten für sich sind. Kloputzen – im Ranking aller Jobs womöglich ganz unten. Tiefer, so meinen andere, würde man beruflich kaum sinken können. Unser Glücksmensch hier sieht das anders. Steht jeden Morgen zur selben Zeit auf, nimmt den Tag mit einem wohlwollenden Lächeln, lauscht den Klängen seines Kassettendecks im Minibus, den er umfunktioniert hat zu einem fahrenden Cleaning Office. Läuft alles gut, hat er nachmittags noch Zeit für Körperpflege, Entspannung und gutem Essen irgendwo in einer der Malls, wo ihn jeder kennt. Alles hat seine Ordnung – und doch ist die Unordnung oft genau das, was die Ordnung erst möglich macht.

Wenders, der eigentlich nur eine Auftragsdoku zu genau diesem Thema machen wollte, nämlich zu öffentlichen Bedürfnisanstalten und ihre baulichen Besonderheiten, lässt seinen liebgewonnenen und bewusst bescheiden lebenden, universellen Stadtmenschen die entscheidenden Faktoren für so manchen Perfect Day erfahren. Dabei stellt sich heraus, dass dieser hohe Anspruch die Summe nicht nur positiver Empfindungen ist. Dazu gehören genauso gut Traurigkeit, Wut, unerfüllte Zuneigung, Selbstlosigkeit und Flexibilität. Nicht zuletzt die Relativierung der eigenen Sehnsüchte und Bedürfnisse, wenn man die Augen offen hält für jene, die einen umgeben. Wenders Film ist eine elegische Erfahrung, innehaltend und überlegt, beobachtend und liebevoll. Er findet nicht nur Gefallen an der Genügsamkeit – er lobt diese sogar, ohne idealistisch zu sein. Er schenkt Hirayama Raum und Zeit und gibt ihm die Chance, im Hier und Jetzt zu verweilen. Selbstzufriedenheit ohne Egozentrik, Selbstfürsorge, ohne an anderen vorbeizugehen. Worauf es ankommt, darüber sinniert Wim Wenders in seinem mit traumartigen Bild- und Klangcollagen strukturierten und von Lou Reed, Velvet Underground, Patti Smith, The Animals oder Nina Simone akustisch unterlegten Reflexion auf die individuelle Erfüllung im schnelllebigen Anthropozän.

Perfect Days (2023)

Under the Shadow (2016)

DER ERRUNGENE MUT ZUM AUFBRUCH

7,5/10


undertheshadow© 2016 Netflix Österreich 


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN, JORDANIEN, KATAR 2016

BUCH / REGIE: BABAK ANVARI

CAST: NARGES RASHIDI, AVIN MANSHADI, BOBBY NADERI, ARASH MARANDI, RAY HARATIAN, ARAM GHASEMY, HAMID DJAVADAN, SOUSSAN FARROKHNIA, KARAM RASHAYDA U. A.

LÄNGE: 1 STD 24 MIN


Wir alle kennen diese Träume, oder besser gesagt: Albträume, in denen wir weit von zuhause weg sind, womöglich auf Reisen, und dann haben wir das Wichtigste vergessen, was immer das auch sein mag, aber es ist etwas Unverzichtbares. Es gibt auch Träume, in denen wir versuchen, von irgendwo wegzukommen, meist aus dunklen Räumen, und jeder Schritt fühlt sich so an, als hätte man kiloweise Blei um die Knöchel. So schleppt man sich zum Licht, kommt aber niemals wirklich voran. Etwas hält uns zurück, in der Finsternis. Ein Trauma, eine Gestalt, eine Geschichte. Etwas Erlebtes. Und dann ist da Babak Anvaris Film. Eine Allegorie auf die Angst, Wichtiges zurücklassen zu müssen. Die Heimat zurücklassen zu müssen, das Zuhause oder das, was mehr ideellen als materiellen Wert hat, denn wir leben nun mal in einer Welt voller Dinge, mit denen wir manchmal unsere Seele teilen.

Für die Flucht weg aus dem eigenen Ursprung braucht es Kraft, Mut und Zähigkeit. Die Flucht ist meist die Reaktion auf den Totalzerfall des Systems – sprich: Krieg. In Under The Shadow lebt Shideh (Narges Rashidi) mit ihrer kleinen Tochter und ihrem Mann zur Zeit des Iran-Irak-Konflikts in Teheran. Die Lage spitzt sich täglich zu, im Nachbarland Irak werden die Raketen Richtung iranischer Hauptstadt in Stellung gebracht. Immer wieder jault die Sirene, um die Bewohner in die Luftschutzkeller zu befehlen. Shidehs Ehemann, ein Arzt, wird eines Tages einberufen – er muss an die Front. Zurück bleiben Mutter und Kind, und doch steht ihnen die Möglichkeit offen, du den Großeltern zu flüchten, außerhalb der Stadt, wo die beiden sicherer wären als hier in diesem kleinen Wohnhaus, wo all die anderen Parteien bereits darüber nachdenken, alles stehen und liegen zu lassen – oder zumindest das meiste. Shideh zögert, doch als eine Rakete das Haus trifft, scheint die Gefahr akuter denn je. So weit, so sehr Kriegsdrama aus der Sicht der Zivilbevölkerung. Wo ist nun der Horror?

Tochter Dorsa ist fest davon überzeugt, dass mit dem ersten Luftangriff und mit den Stürmen, die plötzlich toben, ein Djinn sich ihrer angenommen hat. Und zwar keiner, der, blauhäutig und dauergrinsend, drei Wünsche erfüllt. Sondern etwas Böses, Hinterlistiges. Etwas, das Mutter und Tochter daran hindert, fortzugehen. Das fängt damit an, dass der Djinn die heißgeliebte Puppe von Dorsa versteckt. Ohne dieses Spielzeug ist an Aufbruch nicht zu denken. Und sehr bald schon bleibt es nicht nur bei diesem Schabernack – der Dämon treibt sein Verwirrspiel bis zum Äußersten.

Auf Babak Anvari wurde ich erstmals aufmerksam, als sein perfider und daher auch unberechenbarer Psychothriller I Came By letztes Jahr auf Netflix erschien. George McCay wird da zum Opfer eines sinistren Hugh Bonneville. Einige Jahre zuvor gelingt ihm auch mit diesem subtilen und gewieften Escape Home-Thriller ein regelrechter Geheimtipp, der mit Leichtigkeit Elemente des Horrors mit jenen des Psychodramas aus dem Antikriegs-Genre verschachtelt. Die Metaebene offenbart sich wie der schwarzweiß gemusterte Dschilbab des paranormalen Eindringlings, das erzwungene Verharren am Ort der Gefahr wird zum Sinnbild für Verlust, Abschied und der Furcht davor, selbst zurückgelassen zu werden. So wie der Djinn die Möglichkeiten der Mutter aussetzt, ihren fürsorglichen Pflichten nachzukommen, so wird die Suche nach der Puppe zum innerfamiliären Nervenkrieg. Anfangs offenbart sich Under the Shadow in so pragmatischem Stil, wie ihn Asghar Farhadi gerne anwendet, um dann das Metaphysische im wahrsten Sinne des Wortes durchbrechen zu lassen und einige Jumpscares aufzufahren, die unerwartet passieren und nie zum Selbstzweck verkommen. Sie sind Teil dieses Halbwach-Zustandes, in welchem sich der ganze Film befindet – weil man eben nicht glauben und nur schwer annehmen kann, dass das Leben, wenn Krieg herrscht, in den eigenen vier Wänden nicht mehr sicher ist. All die Ängste, die dazugehören, mutieren dabei zum mythischen Quälgeist.

Under the Shadow (2016)

Milchkrieg in Dalsmynni

THERE WILL BE MILK

5/10

 

MilchkriegInDalsmynni© 2019 Thimfilm

 

LAND: ISLAND, DÄNEMARK, DEUTSCHLAND, FRANKREICH 2019

REGIE: GRÍMUR HÁKORNASON

CAST: ARNDÍS HRÖNN EGILSDÓTTIR, SVEINN ÓLAFUR GUNNARSON, ÐORSTEINN BACHMANN, HINRIK OLAFSSON U. A. 

 

Ein gutes Gefühl, beim Club zu sein. Oder bei der Gewerkschaft. Oder bei sonst einer Vereinigung gleichgesinnter Wirtschafter, die sich gegenseitig in schwierigen Lagen eine Stütze sind und sich auch sonst gegenseitig unterstützen, indem sie die Produkte der anderen kaufen, die auch in diesem Club sind. Es ist ein Geben und Nehmen, und wehe du gibst aber nicht, dann stehen sie vor deiner Tür, die ausgeschickten Bluthunde, die dich zur Rechenschaft ziehen. Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen hart. Bluthunde. Muss doch nicht sein. Doch die Genossenschaft, die will Loyalität. Hat somit das Monopol und kann die Preise für systemrelevante Rohstoffe hin und her schrauben, wie es ihr passt. So ein Sicherheitsnetz will was kosten. Im Grunde ist das auch die Idee von bezirksdeckend organisierten Syndikaten, die Kleinbetrieben Schutzzölle abpressen. Naja, es wäre wegen der Sicherheit, weswegen sonst? Schnell gleicht so eine unter die Achseln greifende Hilfsgemeinschaft einem sektiererischen Ordnungsruf, der sich aber für den einzelnen wirtschaftlich gesehen kaum rentiert. Das findet auch die Milchbäuerin Inga, die ihren Gatten immerwährend dazu drängt, es doch mal mit einem anderen Futterlieferanten zu probieren, der um Eckhäuser günstiger ist. Wie soll man die Schulden für den Hof sonst zurückzahlen? So einfach ist das nicht, denkt der Gatte, denn der ist selbst so eine Art Sheriff von Nottingham in diesem System, ohne es zuzugeben. Wohin das führt, endet tragisch – und Inga steht alleine da. Ohne sich nun rechtfertigen zu müssen, spricht sie aus, was viele denken – und erklärt der Genossenschaft den Krieg.

Natürlich doch, ein isländischer Film wie dieser wäre kein solcher, wäre er nicht wieder ausnehmend lakonisch. Die da oben sind nicht unbedingt die Eddie Murphys des Planeten, was gesagt werden muss, wird gesagt, der Rest ist Schweigen. Sowas passt in die wildromantische Landschaft ehemals nordischer Gottheiten. Sowas passt, wenn’s stürmt und schneit und regnet, und es nicht mal richtig hell wird. Da bündelt man seinen Grant und wandelt ihn in den Willen zu harter Arbeit. Grímur Hákornason, der mit dem ruppigen Bruderzwist Sture Böcke schon mal einen Konflikt auf offenem Gelände austragen ließ, lässt jetzt eine verbitterte Bauersfrau den Fehdehandschuh werfen. Wobei diese Offensive nicht aus Wut geschieht. Zumindest mit nicht viel mehr Wut wie in Ken Loachs Notstands-Tragödie Ich, Daniel Blake. Hákornasons Film ähnelt im Stil tatsächlich den Sozialdramen des Iren. Entschleunigt, beobachtend, und bis zur letzten Konsequenz, die weit entfernt ist vom Abendrot eines versöhnlichen Happy Ends. Milchkrieg in Dalsmynni findet einen zutiefst nordischen Ausgang aus der abgesicherten Komfortzone einer Dienstleistung, hinaus auf die wilden, schneebedeckten Spielwiesen des Aneckens, mit hervorgerecktem Kinn und trotziger Sachbeschädigung.

Wie bei Ken Loach ist auch dieser Kampf Klein gegen Groß ein sehr nüchterner, beobachtender Film geworden, der natürlich weiß, was er sagen will und für fairen Handel wirbt, unterm Strich aber gerät Milchkrieg in Dalsmynni zu spröde, vielleicht gar zu vorhersehbar und auch zu wirtschaftspolitisch, um Bäuerin Inga voller Überzeugung anzufeuern. Klar will man, dass Inga gewinnt, doch anders als in Sture Böcke fehlt hier das Quäntchen augenzwinkernder Esprit, der so einem aufs Wesentliche heruntergebrochenen Thema sicher nicht geschadet hätte – im Gegenteil, es hätte den Film besser gemacht. Diese rationale, etwas träge Netto-Version eines Aufstands ist in ihrem Purismus für mich leider etwas zu wenig.

Milchkrieg in Dalsmynni

The Wave

INS WASSER FÄLLT EIN STEIN

6,5/10

 

thewave_c_SquareOne© 2015 squareone

 

LAND: NORWEGEN 2015

REGIE: ROAR UTHAUG

MIT KRISTOFFER JONER, THOMAS BO LARSEN, ANE DAHL TORP, JONAS HOFF OFTEBRO U. A.

 

Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, kommt der Prophet zum Berg – so heißt es doch im Volksmund. Vorliegender Katastrophenfilm spart sich allerdings die Konsequenz nach dem Komma, denn der aufgetürmte Fels erfreut sich reger Wanderlust. Wir befinden uns an der Westküste Norwegens, genauer gesagt im Geirangerfjord, 280km nordwestlich von Oslo. Eine malerische Gegend, wenn auch etwas bedrückend, da eingerahmt von ausladenden Bergketten. Man muss sich den Hallstättersee nur zum Quadrat vorstellen, nur ohne Hallstatt, dann hat man ein ungefähres Bild. An den knappen, bebaubaren Küstenabschnitten oder an der Talsohle selbst haben sich natürlich, wie überall auch auf dieser Welt, Menschen herzlichst ungünstig positioniert. Supernah am Wasser, weil der Fischgrund zum Greifen nah ist und überhaupt, weil große Wasserflächen das Gefühl eines unverstellbaren Fluchtwegs vermitteln. Doch nah am Wasser bauen ist in seltensten Fällen eine gute Wahl. Das Gebiet hier in dieser zerklüfteten Landschaft ist nämlich weitgehend instabil. Bereits 1934 gab’s es in der Gegend einen Erdrutsch, der eine Riesenwelle zur Folge hatte und unzählige Menschen tötete.

Der Regisseur Roar Uthaug, der mich zuletzt mit der Neuauflage von Tomb Raider relativ glücklich stimmen konnte, hat sich dieses tatsächlichen Ereignisses angenommen und ein fiktives Katastrophenszenario erstellt, das alle Parameter für einen solchen klassischen Genrefilm erfüllt. Das eingekesselte Wasser, das bringt Uthaug bildgewaltig zum Überkochen. Der Berg, der wird zum Propheten kommen – da muss ich gar nicht spoilern. Die Ruhe vor dem Sturm, die ist in The Wave angespannt wie die Luft vor einem Gewitter. Im Film ist es der Geologe Kristan, der die Anzeichen für einen bevorstehenden Erdrutsch als einziger richtig interpretieren kann. Hier betritt The Wave natürlich ausgetretene Schablonen – immer ist es meist nur ein Wissenschaftler, der als Prophet das Unheil kommen sieht, mit großzügig ausgestattetem Kassandra-Komplex, weil ihm oder ihr niemand glaubt. Ganz so wie in Roland Emmerich´s Desasterfilmen. Bis es eben zu spät ist.

Die Welle, die dann anrollt – da möchte sich das Publikum am Liebsten wegducken, auch wenn die animierten Szenen einen Bruchteil des ganzen Filmes einnehmen. Schön ist dieses Norwegen, mit Sicherheit gesponsert vom Fremdenverkehrsamt, bis alles unter Wasser steht und dem Erdboden gleichgemacht wird. Wenn ein Stein ins Wasser fällt, kommt es auf die Größe an. Die physikalische Hochrechnung und die Darstellung dieses Untergangsszenarios machen den maßgeschneiderten Katastrophenfilm natürlich sehenswert, wobei Unerwartetes erwartet werden muss und überraschende Wendungen gänzlich ausbleiben. Die Anleitung für einen Film dieser Art hat Uthaug sicher studiert, er scheut auch nicht davor, in Schlamm und Dreck zu wühlen, das macht das Ganze so richtig erdig und naturalistisch.

Die Natur, die liegt dem norwegischen Blockbuster am Herzen und pocht darauf, besser verstanden und rechtzeitig erhört zu werden. Vielleicht sind beim nächsten Mal mehr Propheten am Werk, irgendwann muss doch ein Lerneffekt eintreten. Der Mensch, das wissen wir, ist Meister der Verdrängung, und findet so lange alles in Ordnung, bis das Unglück erst sichtbar wird. Die To-Do-Liste für den Notfall ist immer etwas für das Danach, wenn man klüger ist. Davon leben Filme dieser Art, zumindest meistens tun sie das. Bis zum nächsten Mal ist alles wieder vergessen, und Homo sapiens rennt wieder um sein Leben.

The Wave