Mother’s Baby (2025)

DA IST WAS FAUL IM WINDELSTAAT

7/10


© 2025 Freibeuter Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, SCHWEIZ, DEUTSCHLAND 2025

REGIE: JOHANNA MODER

DREHBUCH: ARNE KOHLWEYER, JOHANNA MODER

KAMERA: ROBERT OBERRAINER

CAST: MARIE LEUENBERGER, HANS LÖW, CLAES BANG, JULIA FRANZ RICHTER, JUDITH ALTENBERGER, CAROLINE FRANK, NINA FOG, JULIA KOCH, MONA KOSPACH U. A.

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Es schreit nicht, es weint nicht, es schläft so still, dass Mutter meinen könnte, der Allmächtige hätte es zu sich genommen: Babys, zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Eltern, die, auf das Schlimmste in der frühen Kindschaft vorbereitet, plötzlich völlig entstresst gar eine Verschwörung vermuten. So könnte man Johanne Moders neuen Film synoptisch übers Knie brechen, der sich vom revolutionsmüden Hipster-Parship aus Waren einmal Revoluzzer verabschiedet hat, um mit dem Genrekino anzudocken. Ganz so wie Andreas Prochaska, der diesjährig mit Welcome Home Baby ganz ähnlich, und doch wieder ganz anders, die Themen der Mutterschaft in einen dörflichen Albtraum verpackt. Das österreichische Horrorkino pulsiert mit diesen beiden Filmen durch den Kino-Herbst, wobei Johanna Moder deutlich weniger ihr Heil im Nachinterpretieren bereits etablierter Versatzstücke sucht. Mother’s Baby will sich bewusst nicht zu blankem Horror bekennen – Verdacht, Paranoia und eine postnatal belastete Psyche sind die Hauptingredienzien für einen Suspense voller Indizien, in dem Marie Leuenberger (Verbrannte Erde, und eben auch mit Stiller im Kino) zwischen ratloser Jungmutter und mutiger Hobby-Detektivin in eigener Sache den gesamten Film auf ihren Blickwinkel reduziert. Das macht uns, ob wir wollen oder nicht, zu Verbündeten, und auch wenn wir uns wundern, was Jungmutter Julia alles vermutet – wir können diesem zusammenfabulierten Netz nur schwer entschlüpfen, schon gar nicht, wenn sich die ganze Welt gegen ein einziges Individuum stellt, dem, wie Kassandra aus der Antike, niemand Glauben schenkt. Auszuhalten ist das nicht – dieser Zustand, allein mit der möglichen Wahrheit.

Das Rundum-Sorglos-Baby

Leuenbergers Figur der misstrauischen Mutter ist jedoch keine gebrochene, kümmerliche, vulnerable Seele ohne Resilienz, sondern ihr eigener Fels in der Brandung, wenn schon Gatte Hans Löw nichts von Julias Verdächtigungen wissen will. Diese fußen aber alle auf klar erkennbaren, seltsamen Verhaltensmustern, die Gynäkologe Claes Bang (genial als Dracula in der zweiteiligen Bram Stoker-Interpretation auf Netflix) und Hebamme Gerlinde an den Tag legen. Als Gerlinde ist hier Julia Franz Richter zu sehen, die in Welcome Home Baby ihrerseits eine werdende Mutter verkörpert, die ähnlich wie Mia Farrow in Rosemary’s Baby wie die Jungfrau zum Kind kommt.

Denn zu Beginn, da ist alles noch froher Erwartung, als Dr. Vilfort seiner Patientin verspricht, das es mit dem Mutterglück diesmal auch wirklich klappen wird. Als es dann nach neun Monaten endlich soweit ist, und die Geburt schwieriger wird als gedacht, entschwindet das Baby ganz plötzlich in den Armen des Arztes dem Blickfeld seiner Mutter – bis auf weiteres. Frühgeburt, Atemnot, Sauerstoffgehalt, all das hört Julia sehr viel später als Begründung. Daheim dann sind die Auffälligkeiten, was das Kind selbst betrifft, unübersehbar. Es ist, als würde sich der Spross den Bedürfnissen der Erwachsenen anpassen, wie eingangs erwähnt tut er all das, um den Eltern eben nicht die schwierigste Zeit des Familienlebens zu bescheren – sondern verhält sich unerwartet geräusch- und bedürfnislos. In Julia keimt der Verdacht, dass hier irgendetwas nicht stimmt, dass das Baby vielleicht gar nicht das ihre ist? Die aufdringliche Hebamme und die Sache mit dem Axolotl als ideales Haustier bestärken nur den Horror im Kopf der Mutter, die dann, auf sich allein gestellt, Ermittlungen auf eigene Faust anstellt.

Verdacht alleine hält lange vor

Mother’s Baby ist wohldosierte Mystery, die lange in der Schwebe bleibt, dabei aber nicht schwurbelt oder ich in unheilvollem Indiziensalat verliert wie Andreas Prochaska in seinem Folk-Grusel. Das Unheimliche hier ist wohl eher schleichende Skepsis und Argwohn, Moder spielt mit der Sorge der Vernachlässigung, der Wucht der Verantwortung und der maternalen Identität. Übertragen wird das Ganze aber nicht, so wie in Die My Love probiert und gescheitert, auf die innere Psyche der Mutterfigur, sondern hinterfragt als bröckelnde Rundumwahrnehmung die Sicht auf die Welt und deren Werte nach einem Paradigmenwechsel, den jede werdende Familie erlebt. Moder hätte beim Psycho- und Gesellschaftsdrama bleiben können, doch die Lust am Kleinkind-Horror, den es nicht erst seit Das Omen gibt, ist einfach zu groß, um nicht darin wühlen zu wollen. So bleibt Mother’s Baby stets greifbar und bodenständig, bürdet sich auch nicht zu viel auf, sondern setzt seinen perfiden, leisen Albtraum als zielorientierte Kritik auf eine Optimierungsgesellschaft in Szene, die vor nichts mehr zurückschreckt.

Mother’s Baby (2025)

Welcome Home Baby (2025)

NICHT NUR DIE KIRCHE IM DORF LASSEN

5/10


© 2025 Lotus Film / Petro Domenigg


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2025

REGIE: ANDREAS PROCHASKA

DREHBUCH: CONSTANTIN LIEB, DANIELA BAUMGÄRTL, ANDREAS PROCHASKA

KAMERA: CARMEN TREICHL

CAST: JULIA FRANZ RICHTER, REINOUT SCHOLTEN VAN ASCHAT, GERTI DRASSL, MARIA HOFSTÄTTER, GERHARD LIEBMANN, INGE MAUX, LINDE PRELOG U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Es ist wieder soweit! Nach einem kurzen Vorgeschmack im Frühling, der sich Slash ½ nennt, senken sich mit der herbstlichen Düsternis auch allerlei bizarre Visionen, krude Ideen und verrückte Innovationen aus der Filmbranche auf die Wienerstadt hernieder. Für zehn Tage beschert das Filmcasino und das METRO Kinokulturhaus Genreliebhabern und solchen mit Hang zu Schrecklichem Gustostückerln aus der Independent-Sparte, darunter auch manches, dass nicht ganz so nischig ist, sich aber genauso anfühlt. Wie zum Beispiel der neue Film von Andreas Prochaska, österreichischer Vorreiter und Experte, was vor allem Filme betrifft, die nicht nur auf Subventionen aus der Filmförderung angewiesen sind, weil sonst keiner ins Kino geht.

Bei Prochaska schrauben sich Besucherzahlen in die Höhe, was vielleicht auch daran liegen mag, dass in seinen Filmen Emotionen getriggert werden, die nicht gleich in erster Linie einen auf gesellschafts- und weltpolitische Betroffenheit machen. Was Prochaska kann, das ist Entertainment, das ist griffig-spektakuläres Mainstreamkino mit Hand zum Autorenfilm, bestes Beispiel wohl Die unabsichtliche Entführung der Frau Elfriede Ott – ein Knaller unter den österreichischen Komödien, böse, schelmisch und auf intellektuelle Weise infantil genug, um ordentlich abzukassieren. Neben diesem Ausflug ins Komödienfach musste man Jahre zuvor nur bis drei zählen, schon war man tot: Ein Horrorthriller und sein Sequel sorgte damals, in den 10er Jahren des neuen Jahrtausends, für Furore. Nicht zu vergessen Tobias Moretti und Sam Riley in der Corbucci-Westernhommage Das finstere Tal. Alles Genrefilme: klar konturiert, famos strukturiert, und handwerklich sowieso erste Liga.

Landfluch gegen Landflucht

Sein neuestes Werk, Eröffnungsfilm des eingangs erwähnten herbstlichen SLASH Festivals, kommt dabei deutlich vom Weg ab und holt sich die dörfliche Diabolik aus In 3 Tagen bist du tot wieder ans Set – nur diesmal geht Prochaska noch einen Schritt weiter und orientiert sich an Parametern, die in Stephen Kings Pennywise-Kleinstadt Derry, Lynchs Twin Peaks und in Zach Creggers neuestem Streich Weapons – Die Stunde des Verschwindens zu finden sind. Eine gute Überdosis Mystery injiziert der Filmemacher seinem undurchschaubaren, schleichenden Alptraum, der sich über weite Strecken nicht erklären lässt und der sich, je weiter Schauspielerin Julia Franz Richter (u. a. Rubikon) darin versinkt, immer unmöglicher scheint, dass dieser jemals entwirrt werden könnte. Von der ersten Sekunde an setzt Prochaska auf eine phlegmatische, skeptische Düsternis, die noch durch die desolate Ohnmacht einer durch eine Autobahnbrücke unterjochte Dörflichkeit unterstrichen wird.

Hier, im österreichischen Nirgendwo, soll die im Kindesalter weggegebene Judith den Nachlass ihres verstorbenen, aber unbekannten Vaters übernehmen – ein altes, mehrstöckiges Jagdhaus, in dem es zu spuken scheint und doch auch wieder nicht, in dem so scheinbar gutmütterliche Gestalten wie Tante Paula darauf warten, das verloren geglaubte Dorfmitglied wieder in ihre Arme zu schließen. Doch Obacht: die phänomenale Gerti Drassl ist diesmal nicht so herzlich und aufopfernd, wie sie anfangs scheint. Selten zuvor hat Drassl eine so perfide Rolle verkörpert wie hier. Die Finsternis steht ihr gut, auch Maria Hofstätter schickt mitunter Seitenblicke, da läuft es einem kalt über den Rücken. Und Inge Maux – Ihr Grinsen ist gespenstisch. So tragen diese drei Frauen und noch viel mehr von der Sorte Mensch dazu bei, dass sich Judith zusehends unwohl fühlt, und mehr darüber wissen will, warum sie seinerzeit im Stich gelassen wurde. Das Stochern im Vergangenen bringt eine diffuse Verschwörung an die Oberfläche, die sich kein einziges Mal deklariert, sich niemals zur Gänze offenbart und in der Mutmaßung und reinen Theorie verharrt, ohne dass Welcome Home Baby jemals für Klarheit sorgt.

Symbolism Overkill

Ein Umstand, der als ein höchst unbefriedigender zumindest anfangs ein freudloses Mysterydrama prägt, angereichert mit traumartigen Visionen über Ertrinken, Schwangerschaft und Feuertode im Wald und mit der leisen Metapher auf drohende Landflucht. Mit Symbolik weiß Prohaska nicht wirklich umzugehen, lieber macht er Nägel mit Köpfen. Bei einem polanskischen Suspense-Horror wie diesem entgleiten ihm die Versatzstücke, poltern viel zu viele Genre-Imitate durchs Bild, und als wäre das nicht schon genug, füttert er sein unklares Treiben mit versteckten Gängen, Totenköpfen und hexischem Treiben. Dieses Zuviel an bigotter Tarnung, Verwunschenheit und symbolistischer Traumata beschert Prochaska keine eigene Handschrift mehr, das meiste wirkt auffallend arrangiert, wenig originär, sondern inspiriert durch andere Vorbilder wie Rosemary’s Baby oder Aris Asters Midsommar. Ein zuviel kann folglich auch übersättigen, und ist man übersättigt, wird man müde, und so zieht Welcome Home Baby in behäbiger, viel zu entschleunigter Bedrohlichkeit, die den Verve von In 3 Tagen bist du tot vermissen lässt, hin zu einem überladenen Folk-Horror-Brimborium, das sich in seiner behaupteten Metaphysik nur noch übernimmt.

„Wie ist es, auf der anderen Seite?“, fragt im Flüsterton die bettschwere Linde Prelog – einer der unheimlichsten Momente des Films. Nun, das werden wir nie erfahren. Alles hier schöpft doch nur aus diesseitigen Quellen.

Welcome Home Baby (2025)

Pfau – Bin ich echt? (2024)

WIE DIE ANDEREN WOLLEN

5/10


© 2024 Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion GmbH


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2024

REGIE / DREHBUCH: BERNHARD WENGER

CAST: ALBRECHT SCHUCH, JULIA FRANZ RICHTER, ANTON NOORI, THERESA FROSTAD EGGESBØ, BRANKO SAMAROVSKI, MARIA HOFSTÄTTER, SALKA WEBER, TILO NEST, CHRISTOPHER SCHÄRF, MARLENE HAUSER U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Wir alle, denn so ist es in der Psychologie längst bekannt, spielen tagtäglich die unterschiedlichsten Rollen. Daheim probt man die Mutter- oder Vaterfigur, in der Arbeit den Chef, den Manager oder Verkäufer. Vor den eigenen Eltern ist man das Kind, in der Straßenbahn der sozial Achtsame, der bedürftigen Fahrgästen den Sitzplatz überlässt. Diese Liste könnte ich lange so weiterführen, auf die Gefahr hin, das eigene Basis-Ich komplett aus den Augen zu verlieren. Tatsächlich aber besteht die eigene Persönlichkeit aus diesem ganzen bunten prächtigen Ensemble, der Mensch ist schließlich anpassungsfähig und situationselastisch.

Und dennoch: Anders betrachtet agieren wir oft so, wie die anderen wollen. Der von Albrecht Schuch verkörperte Unternehmer Matthias hat sich diese Entkopplung von seiner Person zum Beruf gemacht – er leitet mit einem guten Freund das Leihpersonenbüro My Companion. Das klingt jetzt natürlich nach Escortservice, und ist es auch auf einer ganz gewissen Ebene, nur nicht auf der amourösen. Bei My Companion wird Matthias zum geliehenen Menschen nach des Kunden Wahl. Zum musikbeflissenen Konzertbegleiter, zum Coach in Sachen Konfliktfähigkeit. Zum Golfpartner, Piloten, Familienvater und sogar zum Sohnemann ganz fremder Leute, die ihr Image aufpolieren wollen. Was Matthias aber zwischen seinen Einsätzen als Variable in einer vereinsamenden Gesellschaft jedoch nur noch schwer wiederfindet ist die eigene Identität. Wer bin ich, und bin ich überhaupt echt? Diese Fragestellung läutet sogar schon der Titel ein. Denn je mehr sich einer wie Matthias, der fast zur Gänze seinen eigenen Willen und seine Meinung verliert, da er nur jene kundtut, die jener der andern entspricht, umso blasser, transparenter und flacher wird er. Woody Allen hätte diese Geschichte wohl damit gelöst, sein Alter Ego entweder tatsächlich durchscheinend darzustellen – oder eben unscharf. Letzteres hat er in seinem Film Harry außer sich tatsächlich so umgesetzt. Albrecht Schuch hingegen verliert hier vorallem seine Mimik, sein Empfinden, sein Ich. Sehr zum Missfallen seiner Partnerin Sophia (Julia Franz Richter, Rubikon), die Matthias alsbald provoziert und letztlich stehen lässt.

Egal wie Schuchs Figur es dreht und wendet, er findet nicht zu sich selbst. Zumindest eine ganze Zeit lang, nämlich fast den ganzen Film hindurch nicht. Immer wieder kreist Spielfilmdebütant Bernhard Wenger, der diese wienerische Psychokomödie auch selbst verfasst hat, um seinen Mann ohne Eigenschaften herum und schickt ihn immer wieder aufs Neue in seine berufliche Pflichterfüllung. Es bleibt kaum Zeit, sich selbst einen Plan zum Ausbruch zu überlegen, stattdessen stolpert Matthias von einem Symptom des Selbstverlustes in den nächsten. Das mag tragikomisch bis humorvoll rüberkommen, Pfau – Bin ich echt? lukriert dabei einige Lacher dank einiger situationskomischer Einfälle, die wirklich treffsicher platziert sind. Im Ganzen aber bleibt Albrecht Schuch zu selbstverliebt in seiner Charakterlosigkeit, er will sich kaum von ihr trennen, nicht mal am Ende, wo man einen Paradigmenwechsel erwartet, der aber wieder nur ein Symptom für einen unveränderten Gesamtzustand ist, der im Argen liegt.

Diese Gleichförmigkeit im Erzählen hinterlässt einen schalen Beigeschmack, als hätte man ausgerauchtes Bier getrunken oder kalten Kaffee. Von Elan und Ausbruch ist keine Rede, das Vergnügen liegt darin, den von sich selbst entfremdeten Biedermann in seiner schrägen, wenn nicht gar skurrilen Notlage zurückzulassen. Und das ist recht wenig für eine prinzipiell klug erdachte Ausgangsposition.

Pfau – Bin ich echt? (2024)

Ein ganzes Leben (2023)

HEIMATLOS IN DER HEIMAT

7/10


einganzesleben© 2023 Tobis Film


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH 2023

REGIE: HANS STEINBICHLER

DREHBUCH: ULRICH LIMMER, NACH DEM ROMAN VON ROBERT SEETHALER

CAST: STEFAN GORSKI, AUGUST ZIRNER, JULIA FRANZ RICHTER, ROBERT STADLOBER, ANDREAS LUST, THOMAS SCHUBERT, MARIANNE SÄGEBRECHT, MARIA HOFSTÄTTER, GERHARD KASAL U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN 


In Rainhard Fendrichs inoffizieller österreichischer Bundeshymne lautet eine Zeile wie folgt: Da bin ich her, da gehör‘ ich hin. In Robert Seethalers fiktiver Heimatbiographie Ein ganzes Leben wird das unerschütterliche Statement zur unsicheren Fragestellung: Wo bin ich her, wo gehör‘ ich hin? Das sind Kernwahrheiten, nach denen wir alle suchen. Doch Seethalers Roman bringt es auf den Punkt, stellt diese Fragen dringender denn je – und macht mit seiner Figur des Andreas Egger die Probe aufs Exempel, wie es wohl sein muss, nicht zu wissen, woher man – im Bezug auf das Diesseits – eigentlich kommt und wohin man schließlich gehört. Zumindest Hans Steinbichler (u. a, Das Tagebuch der Anne Frank, Winterreise) hat den Schwebezustand eines bergverbundenen Mannes aus seiner allerletzten Verankerung gerissen und lässt ihn wie einen dieser montanen Greifvögel zwar nicht hoch, aber trotz allem in einiger Distanz zu seinem eigenen Leben und dem Sinn dahinter umhernomadisieren.

Das Woher-komme-ich lastet bereits im ersten Take des Films auf den Schultern eines gerade mal achtjährigen Jungen, der, und das wird nicht näher erläutert, so ziemlich elternlos daherkommt. Irgendwo muss dieser „Oliver Twist“ auch hin, am besten zum entfernt verwandten Bauern Kranzstocker (garstig: Andreas Lust), der, wie der Name schon sagt, gerne zum Stock greift, den Knaben verprügelt und diesen prinzipiell nicht leiden kann. Ein böser Mensch unter dem Herrn, und derart böse Menschen gibt es viele auf dieser Welt. Der junge Andreas Egger nimmt das stoisch hin, schluckt seinen physischen wie psychischen Schmerz einfach runter. Wenig wird er sprechen, zumindest in den jungen Jahren nicht. Doch kaum ist dieser älter und wehrhafter, kehrt er dem Hof und dem Prügelbauern den Rücken, sucht sein eigenes Glück und seine Bestimmung. Sucht im Grunde seine Heimat. Und findet seine Liebe, die, soeben erst gewonnen, wieder verlorengehen wird. Mit ihr auch die Idee eines Zuhause; einer Geborgenheit, die Andreas nicht mehr erlangen wird. Um sich selbst zu spüren, wird er schuften und arbeiten, arbeiten und schuften. Dazwischen schlafen, etwas essen, und sonst nicht viel reden.

Dieses Leben zwischen und auf den Bergen ist ein schnödes, undankbares. Eines, das gerade mal malerische Landschaften und blühende Blumenwiesen bietet. Rauschende Wälder und gar nicht mal einen Jodler. Ein ganzes Leben scheint einer dieser durch und durch klassischen, wildromantischen Heimatfilme zu sein, wie es sie früher gegeben hat. Statt Stefan Gorski oder August Zirner wäre die Rolle des Egger eine solche, die Luis Trenker wohl gespielt und einer wie Georg Wilhelm Pabst inszeniert hätte. Vermutlich in expressionistischem Schwarzweiß, stets im Fokus das wettergegerbte Gesicht des den Entbehrungen ausgesetzten Landmenschen, der hört, wie der Berg ruft, wie das Grollen von Lawinen vibriert und wie kalt der Tod sein kann.

Und doch ist bei Steinbichlers Film so manches anders. Muten die Metaebenen dieser in simpler Chronologie gehaltenen Jahrhundertbeichte fast wie paradoxe Gleichnisse an. Das Gefühl von Heimatlosigkeit in der Heimat, die Freiheit, über die Gipfel zu blicken, und doch nie gelernt zu haben, weiterzureisen bis ins nächste Tal. Arbeit, um zu leben, wird zum Leben, um zu arbeiten. Alles in Ein ganzes Leben hat eine Dualität, die in derselben Begrifflichkeit wurzelt. Auch wenn kaum feststellbar ist, welchen Gedanken dieser Egger nachhängt, – der übrigens sowohl von Stefan Gorski und August Zirner ohne Charakterbruch wie aus einem Guss gespielt wird, als wären beide ein einziger Akteur – lenkt Steinbichler seinen Panoramablick auf sein Innerstes. Damit ist diese in ihrer Sprache recht karge, doch emotional aufwühlende Literaturverfilmung weniger spektakuläres Epos als vielmehr eine introvertierte Suche nach nichts Bestimmtem, doch gleichzeitig nach Allem.

Ein ganzes Leben (2023)

Rubikon

DA BRAUT SICH WAS ZUSAMMEN

6/10


rubikon© 2022 Filmladen


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2022

REGIE: LENI LAURITSCH

BUCH: LENI LAURITSCH & JESSICA LIND

CAST: JULIA FRANZ RICHTER, GEORGE BLAGDEN, MARK IVANIR, NICHOLAS MONU, KONSTANTIN FROLOV, LJUBISA GRUICIC, JONAS GERZABEK, HANNAH RANG U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Es gibt ihn also doch, den Genrefilm inmitten der österreichischen Filmlandschaft. Doch man muss ganz genau schauen, um ihn zu entdecken. Das ist wie beim Pilzesuchen in einem Wald voller Farne. Irgendwo leuchtet etwas Gelbes hindurch – eine Besonderheit, die später auf den Tisch kommt. Oder ins Kino. Wie eben einer von nur ganz wenigen Science-Fiction-Filmen, für welches sich der Filmfonds Austria und das Österreichische Filminstitut durchgerungen haben, Geld zu investieren.

Die letzte Zukunftsvision, die hierzulande produziert wurde, war The Trouble with Being Born – Androiden ersetzen verschwundene oder verstorbene Personen. Alles recht kunstvoll, recht sperrig, fast schon wie das obligate Betroffenheitskino, doch das gewisse Etwas hatte der Streifen von Sandra Wollner dennoch. Wäre der Film ebenfalls gesponsert worden, wenn er sich nicht so dermaßen als Kopfkino etabliert hätte? Wenn er gefälliger gewesen wäre? Eine einfachere Sprache gehabt hätte? Wenn er sich mehr an westliche Produktionen orientiert hätte wie eben Rubikon? Bei diesem hier wurde eine Ausnahme gemacht, und das vermutlich deshalb, weil Rubikon sich nicht als klaustrophobischer Science-Fiction-Horror vermarkten lassen will wie Alien, Life oder The Cloverfield Paradox, die alle ein ähnliches Grundsetting haben. Sondern weil sich Leni Lauritsch mit etwas sehr Brisantem beschäftigt, und zwar mit dem ökologischen Notstand unseres Planeten. Und nicht nur mit diesem. Nebst der Klimakrise ist das zukünftige Resultat der momentanen Teuerungswelle und der eskalierenden Gier nach Profit die Auflösung aller Staaten und die Aufteilung aller Landmassen in von Konzernen kontrollierten Gebieten, die noch dazu untereinander Krieg führen. Irgendwie ist in dieser Vision des Jahres 2056 alles im Argen, und von oben, aus dem Orbit, blicken eine Handvoll Astronauten auf die Erde hinab, die derweil noch so aussieht wie sie es immer vom Weltraum aus tut. Friedlich, mit Lichtern gesprenkelt, umsponnen von weißen Wolken. Ein Anblick, den die Besatzung der Raumstation Rubikon jeden Umlauf lang genießen kann, wenn sie gerade mal nicht damit beschäftigt ist, eine Methode zu finden, um anhand von Algen gesunde, saubere Luft zu erzeugen. Die Lösung für alle Probleme.

Doch dann wird’s finster – zumindest auf der Erde. Schmutzigbraune Wolkenbänke schieben sich flächendeckend über den Globus, und es scheint, als wäre das Ende der Menschheit nah. Wie lange noch lässt es sich im Weltraum überleben? Oder sollen alle zurück auf die Erde, mitsamt dem Grünzeug im Schlepptau, um frische Luft in die Apokalypse zu bringen? Eine Gewissenfrage, die jede und jeder der dreiköpfigen Besatzung für sich allein beantworten muss, und deren Antwort nicht unbedingt konform geht mit jener des jeweils anderen. Es entspinnt sich also ein Konflikt aus Für und Wider, aus Trotz und Menschenverstand. Aus Eigennutz und Altruismus. Leni Lauritsch hat hier einige Kernfragen aufs Tapet gebracht – und noch gleich allerhand Leute mit ins Filmteam geholt, die einiges von ihrer Arbeit verstehen. So wirkt Rubikon von vorne bis hinten professionell getrickst, auch wenn wir die paar wenigen Weltraumszenen anderswo schon zur Genüge kennen, uns aber daran womöglich nie sattsehen werden. Das Set Design wirkt nicht billig, für Stimmung sorgen die obligaten engen Gänge, das indirekte Licht und die Einsamkeit des Astronauten vor der Entscheidung, die Menschheit zu retten oder im Stich zu lassen.

Von der Antwort auf diese Frage hängt alles ab. Damit scheint Rubikon als formschönes und exzellent fotografiertes Kammerspiel aber manchmal zu beiläufig umzugehen. Die extreme Situation fordert extreme Handlungen, und dennoch scheint aus psychologischer Sicht mancher Text zu einstudiert, um wirklich den emotionalen Stress im Kopf der Überlebenden zu unterstreichen. Um diese Situation nicht zu gemächlich werden zu lassen, dafür bemühen sich Julia Franz Richter (Der Taucher, Undine) und Co mit sichtlichem Engagement, und nur sehr selten rutschen ihre Intonationen auf dialektgefärbtes Fernsehfilmniveau ab. Lauritsch orientiert sich überdies an Genrebeiträgen aus anderen Ländern, um die Situation in ihrem Film ähnlich nachzuspielen, so zum Beispiel an Joe Pennas Stowaway – Blinder Passagier. Hier allerdings ist die Ausgangssituation etwas anders positioniert: Wo die Luft in Rubikon eine Mindestzahl an Sauerstoffatmern benötigt, um den nötigen Gasaustausch zu gewährleisten, sind es in Stowaway eben zu viele. Auch hier: ein Dilemma entsteht, welches alle Beteiligten an ihre Grundsatzfragen bringt.

Rubikon gelingt besser. Die Dringlichkeit des Ganzen mag zwar nicht ganz so überzeugen, die Prämisse am Ende des Films führt sowieso alles ad absurdum, doch als etwas anderer Beitrag zum österreichischen Film, der vielleicht noch andere Macher ihrer Zunft ermutigt, es ihm in dieser Richtung gleichzutun, ist Rubikon ein achtbares Stück Profi-Handwerk.

Rubikon