Resurrection (2022)

MIT DEM TRAUMA SCHWANGER GEHEN

6/10


resurrection© 2022 IFC Films


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: ANDREW SEMANS

CAST: REBECCA HALL, TIM ROTH, GRACE KAUFMAN, MICHAEL ESPER, ANGELA WONG CARBONE U. A. 

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Wer mit Filmen wie Rosemaries Baby, Ekel oder Darren Aronofskys mother! nicht viel anfangen konnte, und wem diese obskuren und völlig kranken Sinnbilder rund um Geburt, Abhängigkeit und Paranoia einfach zu viel sind, um sich nach dem Arbeitsalltag auch noch interpretieren zu müssen, dem sei von Resurrection so ziemlich abgeraten. Dabei würde man anfangs gar nicht vermuten, es mit einem Film zu tun zu haben, der mit Vernunft überhaupt nichts am Hut hat, obwohl es zuerst den Anschein hat, dass zumindest Rebecca Hall als Protagonistin Margaret mit beiden Beinen im realen Leben steht, ist sie doch Chefin eines Pharmaunternehmens mit schickem Büro in einem Glas- und Stahlgebäude und einer adrett eingerichteten Wohnung samt fast volljähriger Tochter. Es scheint alles seine Ordnung zu haben, bis eines Tages ein Mann aufkreuzt, der Margaret in Schockstarre versetzt: Dieses Individuum namens Dave, dargestellt von Tim Roth auf gewohnt phlegmatische, aber niemals zu unterschätzende Art, hat vor mehr als zwanzig Jahren Margarets Leben zur Hölle gemacht. Irgendetwas muss da gewesen sein, und es hat mit einem Jungen namens Ben zu tun, der allgegenwärtig scheint. Dieses Baby ist es auch, welches Margaret plötzlich in ihren Albträumen erscheint. Und dieser Dave ist es, der eine ganz eigenartige Wirkung auf die sonst resolute Geschäftsfrau hat, die immer mehr und mehr den Boden unter ihren Füßen und somit die Kontrolle über ihr Leben verliert. Ist es Hörigkeit, die Margaret so abhängig macht von diesem Kerl, der eigentlich gar nichts proaktiv von ihr will? Ist es neurolinguistisches Triggern? Hypnose? Welche Macht hat Dave über Margaret, dass er sie zwingt, barfuß zur Arbeit zu laufen? Zumindest scheint es so, als wäre Tochter Abby in größter Gefahr. Die allerdings kennt sich vorne und hinten nicht aus. So wie wir als herumrätselndes Publikum, dass das, was Tim Roth so von sich gibt, einfach zu absurd findet, um ihm nur eine Sekunde lang ernst nehmen zu können.

Zu lachen gibt’s trotz der völlig bizarren Umstände allerdings nichts. Je mehr Worte man über dieses ungesunde Wechselwirken aus Diktat und Hörigkeit verliert, umso bedauernswerter wäre das. Auf Resurrection sollte man sich einlassen – und eine Prämisse hinnehmen wollen, die gänzlich aus Symbolismen besteht. Je länger der Film dauert, umso weniger hat das Ganze mit der Realität zu tun, doch nicht bildlich. Wieder fällt mir Roman Polanskis Ekel ein. Wahn wird zur Wirklichkeit, doch wovon nährt sich dieser? Von unbewältigten Traumata, von Schuldgefühlen und vom tiefsitzenden Schmerz einer Mutterfigur. Hinzu kommt die Angst, dass sich das ganze Unglück wiederholt. Autorenfilmer Andrew Semans bezieht in seinem subtilen Horror niemals wirklich Stellung. Er schafft auch keine Klarheiten oder enthüllt seine Metaphern, die sich dann zu einer Metaebene bekennen würden, die vielleicht für das Trauma eines plötzlichen Kindstodes oder gar einer Fehlgeburt stünden. Semans lässt alles offen und lädt ein zur Spekulation. Er erklärt nichts, sondern deutet nur an. Resurrection ist die Chronik einer ins Chaos mündenden, seelischen Belastung und spielt mit Themen, die sich mitunter sogar in Edward Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf zutage treten und so sensibel sind, dass sie in ihrem seltsam-phantastischen Kontext auf fahrlässige Art verstörend wirken könnten. Allerdings braucht man, um dieses Interpretationsvakuum zu schaffen, ganz schön viel Mut. Eine Eigenschaft, die sich nur das Independentkino leisten kann, ohne Rücksicht auf Verluste.

Resurrection (2022)

Die geheime Tochter

DAS KIND MIT DEM BAD AUSSCHÜTTEN

7/10


diegeheimetochter© 2022 capelight pictures


LAND / JAHR: SPANIEN 2022

REGIE: MANUEL MARTÍN CUENCA

BUCH: MANUEL MARTÍN CUENCA, ALEJANDRO HERNÁNDEZ

CAST: IRENE VIRGÜEZ, JAVIER GUTIÉRREZ, PATRICIA LÓPEZ ARNAIZ, JUAN CARLOS VILLANUEVA, MARIA MORALES, SOFIAN EL BENAISSATI U. A. 

LÄNGE: 2 STD 2 MIN


Eltern haften für ihre Kinder. Und nicht nur für ihre Kinder, sondern auch für Minderjährige, die diesen Erwachsenen ihr Vertrauen schenken. Das zumindest tut die 15jährige Irene (Irene Virgüez), eine jugendliche Straftäterin, die von ihrem Freund, ebenfalls straffällig, geschwängert wird. Irene hat niemanden, an den sie sich wenden kann. Und schon gar keine Lust, das Kind auch auszutragen. Womit denn? Und mit welchem Geld? Da hat Javier, einer der Jugendpsychologen aus der Anstalt, eine Idee: Was, wenn eine Hand die andere wäscht? Wenn Irene ihr Kind heimlich bei ihm daheim austrägt und dessen Frau dann so tut, als wäre es ihre eigene Geburt gewesen? Irene ist die Muttersorge los, und jene, die sowieso keinen Nachwuchs zeugen können, haben dann etwas, worauf sie sich freuen können. Das Mädel hat nichts zu verlieren, also willigt sie ein, nachdem sie Javier über alle Regeln, die während dieser Zeit der Schwangerschaft tunlichst befolgt werden müssen, aufklärt. Keine Besuche, keine Ausflüge ins Tal, keine Anrufe. Irene soll als flüchtig gelten und dann, nach neun Monaten, zufällig wieder gefunden werden.

Wir sehr kann man als psychologisch versierter Experte in Sachen Teenager auch nur annehmen, dass das, was eine Problemjugendliche wie Irene vertrauensvoll zusichert, auch neun Monate später noch Bestand hat? Natürlich gar nicht. Mädchen in diesem Alter können wankelmütig und launenhaft sein, lassen sich leicht beeinflussen oder ändern ihre Meinung so oft wie ihren Look. Wieso sollte das beim Kinderkriegen anders sein? Ist es schließlich nicht. Und das stößt Javiers Frau sauer auf, nachdem die Eltern nach mehreren Monaten Isolation einwilligen, dass Irene ihren Freund wiedersehen darf. Ein grundlegender, irreversibler Fehler, der das ganze freudig-hoffnungsvolle Konstrukt werdender Eltern und unbekümmerter Jugend in sich zusammenbrechen lässt.

Autorenfilmer Manuel Martín Cuenca spielt mit der Unreife junger Menschen und der Ratlosigkeit ob deren Zukunft. Volatile Entscheidungen kriechen wie Nebel auf eine spanischen Hochebene und errichten das Dilemma einer ausweglosen Lage, die nur unter Einsatz von Gewalt wieder hingebogen werden kann. Bis es soweit kommt, lässt sich Die geheime Tochter gerade so viel Zeit wie nötig, um die Charaktere in ihrer Risikofreude und Labilität ins Spiel zu bringen. Was eignet sich da besser als eine isolierte Ranch irgendwo in den Bergen – ein paar Meter weiter geht’s steil bergab ins Verderben. Ein Setting, geradezu perfekt für einen Thriller, der sich anfühlt wie aus der Feder Patricia Highsmiths. Die Zutaten: Psychologische Einengung, diktierte Isolation und der manipulative Sprech eigennütziger Erwachsener, die aus ihrer Arroganz weniger Erfahrenen gegenüber keine Kompromisse eingehen wollen. Doch die Rechnung, die sie Irene vorsetzen wollen, haben sie ohne den Instinkt einer Mutter gemacht. Cuenca setzt dabei auf volle Breitseite im Austragen eines Konfliktes, der clever konstruiert und grimmig genug erscheint, um ihn auf eine Länge von neun Monaten dehnen zu können. Vorglühen und Nachbrennen ist alles in diesem Hickhack rund um Selbstbestimmung, dem Missbrauch erzieherischer Verantwortung und jugendlichen Idealen.

Dabei geraten so manche Details zum Selbstläufer oder fast schon zur kleinen Nebenstory: Seit Stephen Kings Cujo oder dem Bluthund-Reißer Bullet Head gab es keine so furchteinflößenden Vierbeiner mehr. Wie sich Irene Virgüez als zäher Teenie mit diesen knurrenden Monstern auseinandersetzt, scheint fast schon ein Film für sich zu sein, ist aber das Sahnehäubchen auf einem europäischen Genrebeitrag, der die gefährliche Dynamik zwischen der Gönnerhaftigkeit des Wohlstands und der notgedrungenen Abhängigkeit sozial Benachteiligter bis in jede dunkle Ecke des abgesteckten Schauplatzes ausnutzt.

Die geheime Tochter

Pieces of a Woman

NUR EINE MINUTE MUTTERGLÜCK

7/10


piecesofawoman© 2020 Netflix

LAND: KANADA, UNGARN, USA 2020

REGIE: KORNÉL MANDRUCZÓ

CAST: VANESSA KIRBY, SHIA LABEOUF, ELLEN BURSTYN, MOLLY PARKER, BENNIE SAFDIE, SARAH SNOOK U. A. 

LÄNGE: 2 STD 6 MIN


Es mag wohl das eine oder andere Mal tatsächlich vorkommen, und womöglich ist es das Fürchterlichste, was einer Hebamme bei ihrer Arbeit passieren kann: Ein Kind zur Welt bringen, das kurz darauf stirbt. Woran, lässt sich meist nicht sofort bis gar nicht klären. Wie es dabei der Gebärenden geht? Das brauch ich, denke ich, kaum erläutern. Nur so viel: alle Beteiligten werden wohl traumatisiert und verstört aus dieser Situation hervorgehen. Nichts wird wohl so bleiben, wie es war. Am Allerwenigsten die Beziehung der Eltern untereinander. Wie so etwas entzweien kann, und welche Wege es gibt, um individuell mit so einer Tragödie fertig zu werden, das zeigt der ungarische Filmemacher Kornél Mandruczó (Underdog, Jupiter’s Moon) in einem ausgewogen konzipierten, teils expliziten Filmdrama mit Vanessa Kirby in einer Hauptrolle, auf die sie stolz sein kann – und die ihr auch Tür und Tor öffnen wird für Rollen, die vorher vielleicht nicht in greifbare Nähe gerückt sind.

Kirby fiel mir erstmals in einer Nebenrolle im letzten Teil des Mission Impossible-Franchises positiv auf. Hier allerdings ist sie kein geheimnisvoller Vamp, sondern eine junge Frau, die ihr Mädchen in den eigenen vier Wänden zur Welt bringen will. Als die Fruchtblase platzt und die Wehen einsetzen, schickt die eigentliche Hebamme, die hätte kommen sollen, eine Vertretung, die auf den ersten Blick eigentlich alles richtig macht, Martha (so heißt Kirby im Film) intensiv betreut, sie erstmals in die Wanne schickt und dann aufs Ehebett. Alles läuft nach Plan. Auch die Herztöne des Babys scheinen stark zu sein. Bis plötzlich nichts mehr zu hören ist – und das Kind schleunigst auf die Welt kommen muss. Was die Tragödie noch schwerer zu ertragen lässt: das Baby scheint vorerst zu leben… Was danach folgt, ist die Zeit danach, in denen Martha sich von ihrem Ehemann (Shia LaBeouf als gewohntes hemdsärmeliges Raubein) immer mehr distanziert und den Prozess, der von Gatte und Mutter gegen die Hebamme eingeleitet wird, eigentlich gar nicht will.

Pieces of a Woman ist aber kein Justizdrama, sondern die Chronik einer Rückführung in ein mögliches Leben. Mandruczós Film ist auch kein niederschmetterndes Trauerspiel wie man vielleicht vermuten würde. Drehbuchautorin Kata Wéber bettet die in monatlichen Kapiteln erzählte Geschichte in zugängliche Allegorien, wie die von einer Brücke, die beide Ufer miteinander verbindet, so als würde der Bruch durch ein Leben langsam, aber doch, heilen. Die Sache mit den Äpfeln – ebenfalls eine zärtliche Annäherung an eine tröstende Gedankenwelt, die Martha ausprobiert. Der Film atmet viel vom europäischen Kino, spart sich, was nicht erwähnt werden muss, legt aber großen Wert nicht nur auf den Schlüsselmoment, der eine geplante Zukunft verhindert, sondern konzentriert sich auch auf den familiären Aspekt. Ellen Burstyn als wohlhabende wie energische, aber gutmeinende Mutter gibt hier ebenfalls eine beachtliche Performance.

Ein Ensemblefilm also, sehr detailliert, klarerweise emotional und dazwischen von tröstender Wehmut vereinnahmt. Was in Pieces of a Woman passiert, bleibt ein irreversibles Schicksal. Das aber akzeptiert werden kann. Einfach, um neu anfangen zu können.

Pieces of a Woman

Roma

DER GEFUNDENE FRIEDEN GUTER GEISTER

8/10

 

ROMA© 2018 Netflix

 

LAND: MEXIKO 2018

BUCH & REGIE: ALFONSO CUARÓN

CAST: YALITZA APARICIO, MARINA DE TAVIRA, DANIELA DEMESA, CARLOS PERALTA, DIEGO CORTINA AUTREY U. A.

 

Nur noch eine Woche ist es hin, dann wissen wir, wer für das Kinojahr 2018 den Goldjungen kassiert. Der beste Zeitpunkt, wohl einen der am heißesten gehandelten Bewerber unter den besten Filmen endlich mal anzusehen. Und tatsächlich ist dieser ein ungewöhnliches Stück Filmkunst. Eines, das auf den ersten Blick nicht in die handelsübliche Kategorie Bester Film zu passen scheint. Dafür ist Roma von Alfonso Cuarón viel zu persönlich, viel zu intim. Auch viel zu sehr verschlossen. Die Academy, die sich aus 6000 Jurorinnen und Juroren zusammensetzt, hat an diesen Erinnerungen in Schwarzweiß allerdings einen Narren gefressen, vielleicht auch, weil Roma bereits den Goldenen Löwen gewonnen hat. Aber das alleine kann es nicht sein. Vielleicht liegt es an Netflix, dem Streamingriesen? Der hat, keiner weiß genau wo, überall seine Hände mit im Spiel. Als Produzent, einflussreicher Medienfummler und Fast-Schon-Monopol mit einem unersättlichen Hang, das Angebot über die Nachfrage zu stellen. Jeder Netflix-User weiß: Roma wird von Netflix vertrieben, nur dort lässt sich der Streifen sichten. Die Chance, den Bauchladenhausierer durch einen Oscar mit der nötige Portion Kritiker-PR zu veredeln, lässt sich aber nur dann nicht vertun, wird Roma zumindest einige Male im Kino, und dann auch für Nicht-Abonnenten, der breiten Öffentlichkeit präsentiert. Gesagt, getan – und Roma wird für 10 Oscars nominiert. Irgendwie erschließt sich mir aber nicht die Logik dahinter. Warum gerade Roma?

Cuarons Film sticht aus Netflix´ zweifelhaft qualitativer Serien- und Filmschwemme heraus wie edles Porzellan im Elefantenladen. Sein Film bleibt ein Fremdkörper, allein auf weiter Flur, sehen wir mal vom Filmsortiment vergangener Dekaden ab. Es hat den Anschein, als Wäre Roma aus rein werbetaktischem Kalkül dort platziert worden. Und weniger aus einem künstlerischen Bewusstsein heraus, einfach, um der Zielgruppe von Netflix eine gewisse Sensibilität für künstlerische Filme angedeihen zu lassen. Doch wie auch immer, meine Review ist jetzt nicht ausschließlich ein fragender Blick auf das populäre Patschenkino-Portal, es sollte ohnehin eher eine Betrachtung dessen sein, was Roma an sich eigentlich ist: Ein kleiner, bewundernswert zarter Film, der in seiner Bescheidenheit Großes vollbringt.

Dabei plaudert Roma, anders als von mir angenommen, gar nicht mal direkt aus den Erinnerungen des knabenhaften Cuarón, der 9 Jahre alt war, als die Studentenaufstände des sogenannten Fronleichnam-Massakers eine blutige Spur durch Mexiko City zogen. Das war 1971, und natürlich trägt Roma neben all seines fiktiven Arrangements jede Menge autobiographische Züge. Das lässt sich auch vermuten, wüsste ich die Tatsache nicht, dass Alfonso Cuarón ganz bewusst und mit wehmütiger Hingabe jenes innige, familiäre Vertrauen niemals hätte missen wollen, die er und womöglich seine Geschwister mit der omnipräsenten Fürsorge seiner Hausmädchen verband. Libo haben sie eine von ihnen genannt, und ihr ist auch der Film gewidmet, das lesen wir in der letzten Einstellung, bevor der stille Abspann folgt. Überhaupt ist Roma oft schweigsam und unaufdringlich, bedient sich keines Soundtracks, spielt vielleicht das eine oder andere Mal eine Schallplatte an oder lässt das Autoradio schrummen. Schon die erste Einstellung, dem Fokus auf den Fliesenboden der häuslichen Einfahrt, über den sich alsbald Putzwasser ergießt, in welchem sich der Himmel spiegelt, unter welchem Flugzeuge ihre Kreiseg ziehen, lässt eine drängende Leidenschaft für photographische Perfektion erwarten. Curaón dirigiert hier manchmal auch selbst den Blickwinkel seiner Bilder. Emmanuel Lubezki, sein sonst bevorzugter Kameramann, bleibt diesmal außen vor. Dennoch sind die Kompositionen erlesen, von einer unzufälligen Perfektion eines Stanley Kubrick. In seinem satten Fotorealismus, der in kreisenden Kamerafahrten arrangierte Tableaus einer spontanen, willkürlich scheinenden Ordnung abtastet, erinnert Roma an Michail Kalatasows Soy Cuba aus dem Jahre 1964. Die Kamera schafft eine intime Nähe, aber auch nicht immer. Das, was wir von den blutigen Auseinandersetzungen auf den Straßen mitbekommen, bleibt auf Distanz, bleibt beobachtend, nicht integrierend. So, wie Cuarón dies womöglich selbst erlebt zu haben scheint. Nicht wirklich greifbar, eher unterschwellig, wie ein störendes, monotones Hintergrundrauschen, das aber Tragisches zur Folge hat. Und die das Kindermädchen Cleo auf eine harte Probe stellt.

Cleo, eine Mixtekin – devot, gewissenhaft und vor allem liebevoll – ist der Fixstern in diesem kleinen Sonnensystem aus drei Generationen einer Familie, die mir anfangs fremd ist, durch das Einwirken der guten Geister des Hauses aber als ikonographische Kernfamilie in ihrem eigenen Kokon autark bleibt, auch wenn sie kurz davor steht, auseinandergerissen zu werden. Cleo scheint über allem zu schweben, ihr Leben zweigeteilt in Privates und dem Privatem der zu dienenden Familie. Ein schwieriges, nicht unbedingt glückliches Leben. Genügend aber, für Cleo, die sich nach der Decke ihres kleinen Zimmers streckt, dass nicht mal ihr allein gehört. Yarica Aparicio ist in ihrer Rolle eine bereichernde Entdeckung, die in ihrer schier endlosen Duldsamkeit und aufopferndem Willen fürs Gute bittere Tränen weint und weit über ihre Grenzen geht, um zu sich selbst zurückzufinden. Die respektvolle Liebe, die Alfonso Cuarón hier in neorealistische Photographien gießt, die wiederum an das italienische Kino eines Vittorio des Sica erinnern, macht das Werk zu etwas ganz Speziellem, zu etwas, das sich nicht ans Publikum anbiedert, das sich einfach selbst genügt. Dass seine Geschichten ernst nimmt. Der Erinnerungen, der schwierigen Zeiten wegen, die da kamen und gingen. Für diese Zeiten, für dieses Damals ist dieser Film gemacht. Roma schielt nicht auf das Plus an den Kassen. Das ist direkt befreiend, da bleibt die Hoffnung, dass Geschichten wegen ihrer Geschichten wegen noch verfilmt werden. Cuarón, für mich nicht erst seit Gravity einer, der schon längst die Geschichte des Kinos mitgeschrieben hat, weiß sogar, bei seiner Rückkehr an den Ort seiner Kindheit sogar Zitate aus seinem filmischen Euvre zu integrieren.

Roma ist womöglich deswegen überall mit dabei, weil es das Kino wieder an seine eigentliche Aufgabe erinnert. Nämlich, auf eine ehrliche Art an das zu glauben, was es erzählt. Dabei darf es alles – idealisieren, verklären, wenig erklären. Nur nicht seine eigenen Werte verraten. Da ist Roma ein kraftvolles, in sich ruhendes Beispiel.

Roma

Astrid

DIE WELT, WIDDEWIDDE WIE SIE MIR GEFÄLLT

7/10

 

astrid© 2018 DCM

 

LAND: SCHWEDEN, DÄNEMARK 2018

REGIE: PERNILLE FISCHER CHRISTENSEN

CAST: ALBA AUGUST, TRINE DYRHOLM, HENRIK RAFAELSEN, MAGNUS KREPPER U. A.

 

Erst vor ein paar Wochen durfte ich gemeinsam mit meinem Filius einer Bühnenadaption des märchenhaften Abenteuers Ronja Räubertochter beiwohnen. Den DramaturgInnen ist die Aufbereitung fürs Theater fabelhaft gelungen. Die Mattisburg, der Wald und all die Rumpelwichte und Wiltruden sind mit wenigen Kniffen gleich einem Pop-up-Buch überzeugend arrangiert und zum Leben erweckt. Zwischen den Fronten der Mattisbande und der Borkasbande: ein aufgewecktes elfjähriges Mädchen, das Traditionen, die Moral ihrer Eltern und gesellschaftliche Dogmen hinterfragt. Alles ganz anders machen will, und mit dem angeblichen Feind ganz einfach lieb Freund ist. Weil Dinge hinterfragt werden müssen – oder Erfahrungen einfach selber gemacht. Denn wie sonst kann ein Mädchen sich seine eigene Meinung bilden? Ronja Räubertochter ist nur eine von ganz vielen Geschichten, die die schwedische Autorin Astrid Lindgren Zeit ihres Lebens niedergeschrieben hat. Zu größter Berühmtheit gelangte natürlich Pippi Langstrumpf – das kindliche Aufbegehren schlechthin. Ein Leben jenseits aller Regeln, die erste Superheldin zwischen Clownerie und Selbstbestimmung. Inger Nilsson hat dieser Ikone der Kinderliteratur im Fernsehen ein zeitloses Gesicht gegeben. Doch wie und warum hat sich Astrid Lindgren so sehr auf Jugendbücher spezialisiert? Warum haben Kinder vor allem literarisch so sehr ihr Leben dominiert?

Dieser Frage ist die schwedische Regisseurin Pernille Fischer Christensen nachgegangen. Ihr Film mit dem schlichten Titel Astrid ist eine unprätentiöse Annäherung an eine biographische Episode aus dem Leben der weltberühmten Autorin und gleichzeitig eine behutsam gesponnene Hymne auf eine weltbewegende Künstlerin, die das Aufwachsen so vieler Kinder mitgeprägt hat. Eine berührende Idee, während des Filmes immer wieder mal Leserbriefe aus dem Off mit den Stimmen von Kindern rezitieren zu lassen, um einen Ausblick auf das zu geben, was die junge Astrid Ericsson zukünftig erreichen wird. Davon aber hat sie im jugendlichen Alter von 16 Jahren eigentlich noch überhaupt keinen blassen Schimmer. Schreiben, das kann sie, das durfte sie schon unter Beweis stellen. Ein kreativer Kopf ist sie auch. Und jemand, der sich gerne über gesellschaftliches Regelwerk hinwegsetzt. Ein bisschen Pippi schimmert da schon durch. Und dann die Sache mit dem Zeitungsverleger Blomberg. Der viel ältere, getrenntlebende Vater zweier Kinder fängt mit dem jungen Mädchen eine Liaison an, die den kleinen Lasse das Licht der Welt erblicken lässt. Allerdings inkognito, denn in einer Zeit wie dieser war die kirchliche Gemeinde alles und ein uneheliches Kind gar nichts. Astrid muss also ihren Erstgeborenen vor übler Nachrede verstecken und ziemlich viele Entbehrungen auf sich nehmen, bis sie endlich zu sich selbst steht – und ihr Aufbegehren einen Sinn bekommt.

Es schnürt einem das Herz zusammen, wenn die eigene Mutter den kleinen Blondschopf zurücklassen muss. Wenn das Kleinkind das eigene Fleisch und Blut ablehnt. Wenn das Muttersein so abgestraft wird, dass es wehtut. Alba August bleibt in dieser prominenten Coming of Age-True Story nachhaltig im Gedächtnis. Vom Zöpfe tragenden, quirligen Teenie zur verantwortungsbewussten Frau weiß die 25jährige Schwedin, die erstmals in der Netflix-Serie The Rain in Erscheinung tritt, ihre Rolle glaubhaft zu nuancieren und die feministische Chronik gänzlich für sich zu beanspruchen. In einem Film, der an die rustikalen Bullerbü-Verfilmungen aus den 70ern erinnert, und dann wieder in nüchternen, aber eleganten Bildern die 20er-Jahre des ländlichen wie urbanen Schwedens abzubilden weiß, ohne sich in Postkartenoptik zu verlieren. Das warme Licht des Nordens aber legt sich über alles, und nichts ist trostlos genug, um die Zuversicht zu verlieren, die Astrid Lindgren stets beharrlich mit sich trägt. Alba August weiß auch das zu vermitteln.

Einziges Manko an diesem stimmigen Lebenslauf ist Fischer Christensen´s Hang zu ausuferndem Erzählen. Mit knapp über zwei Stunden hängt die Kamera szenenweise zu lange an der versonnenen Mimik der jungen Astrid Lindgren, verharrt zu lange an manchen Orten und macht es der Handlung manchmal etwas zu schwer, wieder in den Rhythmus zu finden. Da kann schon die eine oder andere Ungeduld erwachsen, doch letzten Endes wird man zum Abspann belohnt mit dem Gänsehautmoment eines Liedes der norwegischen Folksängerin Ane Brun. Dazwischen letzte Szenen eines wiedergefundenen Lebensglücks, das später in Ronja, Karlsson oder Michel von Lönneberga auf ewig weiterleben wird.

Astrid