Memoria

I HEAR YOU KNOCKING

7/10


memoria© 2021 24Bilder Film GmbH


LAND / JAHR: KOLUMBIEN, THAILAND, GROSSBRITANNIEN, MEXIKO, FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: APICHATPONG WEERASETHAKUL

CAST: TILDA SWINTON, JEANNE BALIBAR, JUAN PABLO URREGO, ELKIN DIAZ, DANIEL GIMÉNEZ CACHO U. A.

LÄNGE: 2 STD 16 MIN


Es gibt manche Filmemacher, die haben so klare Alleinstellungsmerkmale, dass man sie spielerisch in einem Random-Filmquiz richtig zuordnen würde. Diese Leute sind allesamt Visionäre und fest im Sattel, was ihre gestalterischen Prinzipien angeht. Manche davon wollen natürlich auch ihr Publikum und ihre Fangemeinde glücklich wissen – manche sagen aber: Das, was ich mache, ist meine Kunst. Jene, denen das gefällt, die kommen von ganz alleine.

Und ja, manche haben recht damit. Da kommen nicht nur die Fans (es mögen nicht so wahnsinnig viele sein, aber doch) und vor allem auch die Kritiker. In Cannes ist zumindest dieser Herr äußerst beliebt: Der Thailänder Apichatpong Weerasethakul. Der unaussprechliche Name steht allerdings auch für den unmöglichen Versuch, dessen Filme in einem Satz wiederzugeben. Was sich aber sagen lässt: Weerasethakul ist ein Mystiker, und einer, der das Genre des phantastischen Films vertritt. Gut, da gibt es vieles. Vieles mit Monstern, Universen, Weltraumschlachten und Planeten, mit Zwergen und Orks und Zeitreisen. Da lassen sich Bilderbücher kreieren, die Leute wie ich nur allzu gerne durchblättern. Der Thailänder hat hier einen ganz anderen Zugang. Er verzichtet auf all das – zumindest weitgehend. Wenn, dann sind das nur Nuancen, kurze Szenen ohne Worte. Für sich alleinstehende Tableaus, die die Rätselhaftigkeit und das Transzendente lediglich aufzufangen gedenken; diesem Paranormalen letzten Endes eine kleinen Kick versetzen oder einen Nährboden geben, aus welchem der Zuseher eine Art Bewunderung ob der magischen Zustände schöpft, die plötzlich passieren.

Und so erwacht in Weerasethakuls drittem Langspielfilm Tilda Swinton mitten in der Nacht durch ein seltsames Geräusch. Durch einen dumpfen, erdigen Knall, der auch eher ein Hammerschlag sein kann, der auf Gestein trifft. Irgendwie in diese Richtung. Swinton alias Jessica, eine in Medellín, Kolumbien lebende Amerikanerin, ist verstört und irritiert. Vermutet gar neuronale Ursachen und will das Geräusch in einem Tonstudio mithilfe des Musikers Hernan rekonstruieren. Doch damit beginnt Jessicas rätselhafte Reise erst, die sie ins Hinterland Kolumbiens führt und wo sie einen Fischer trifft, der sich ebenfalls Hernan nennt, der totenähnliche Nickerchen macht und dessen Erinnerungen Jessica plötzlich als die ihren empfindet. Und natürlich ist das Geräusch immer noch da.

So weit, so surreal. David Lynchs Filme lassen sich ähnlich schwer entschlüsseln. Memoria ist ein Werk, dass sich im Gegensatz zu Uncle Bonmee erinnert sich an seine früheren Leben oder Cemetery of Splendour zumindest für mich so gut wie gar nicht erklären lässt. Und dennoch spürt man in alle den Geschehnissen, die sich wie immer in fast minutenlangen Einstellungen offenbaren und im beiläufigen Dialog zwischen den Protagonisten greifbar werden, eine gewisse Logik. Eine mathematische Formel für eine Metaphysik, die völlig pragmatisch, abstrakt und gestaltlos über die uns vertrauten Naturgesetze hereinbricht. Da ist etwas anders im Existierenden, da ist etwas anders im Drumherum, nur was genau? Wie bei Lynch bleibt dieses Gefühl vage, mulmig und dennoch erschreckend fremdartig, weil sich Ursache und Absicht nicht deuten lassen.

Memoria ist entschleunigtes Kino, steht fast still und irrt suchend im Kreis umher. Wenn Tilda Swinton den Kopf neigt, um genauer hinzuhören, ist man versucht, es ebenfalls zu tun. Kann ja sein, dass man plötzlich auch etwas hört, das nicht erklingen darf, weil es nichts gibt, was es unmittelbar erzeugt. So imaginäre Erfahrungen haben wir wohl alle mal gehabt, vielleicht im Halbschlaf, vielleicht in Trance – Weerasethakul erzeugt aus diesem Phänomen absonderlicher Momente die Geometrie eines Wachtraums.

Memoria

Encanto

DAS MÄDCHEN OHNE EIGENSCHAFTEN

6,5/10


encanto© 2021 Disney. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: BYRON HOWARD & JARED BUSH

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): STEPHANIE BEATRIZ, JOHN LEGUIZAMO, MARIA CECILIA BOTERO, DIANE GUERRERO, JESSICA DARROW, ANGIE CEPEDA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Blut ist bei Disney immer dicker als Wasser. Kein Film, der nicht die eingeschworene Glückseligkeit der Familie zum Ziel hat, und wäre sie auch nur zu zweit. Es geht immer und rund um die Uhr um Familie, um dessen Wert, dessen Bedeutung, dessen Herrlichkeit. Dafür ist Disney gemacht – für Familien und dem Wunsch der Kleinen, mit der Elternschaft bald wieder ins Kino zu hirschen. Seit es Disney+ gibt, braucht es aber nicht mal mehr einen gemeinsamen Ausflug. Es reicht die häusliche Couch und ein ausreichend großes Fernsehgerät, um keines der liebevoll arrangierten Details aus der Animationsschmiede Disney (nicht Pixar!) zu verpassen. Mit Encanto, dem richtigen Familienfilm zur richtigen Familienzeit, präsentiert der Mauskonzern wieder in aller Farbenpracht ein metaphysisches Abenteuer, dass sich aber viel stärker an psychosoziale Inhalte der Pixar-Macher orientiert. Diesmal ist es keine Reise, keine Queste, kein Bestehen von Gefahren, währenddessen man ganz fest an sich selber glauben muss und schon haut alles hin. Encanto ist ein Film, der inhaltlich mitunter schwer greifbar ist, und der die ganz jungen wohl nicht tangieren wird, hätten die doch lieber wieder so einen knuffigen Pelzdrachen, der coole Sprüche schiebt.

Das gibt es heuer nicht, stattdessen eine Villa Kunterbunt in Kolumbien, zwischen Dörfern und grünen Bergen. Dieser magische Ort verdankt seine Exklusivität einer wundersamen Kerze, die seinerzeit der auf der Flucht befindlichen Familie Madrigal von wem auch immer zum Geschenk gemacht wurde. Alle Nachkommen haben von nun an außergewöhnliche Gaben, ganz so wie Die Unglaublichen, nur lokal verortet und ohne Superheldendress. Das reicht von Bärenstarke bis zum Blumenregen, und jedes der Kinder hat ihr eigenes Reich, in dem es tun und lassen kann, was es will. Nur Mirabel nicht. Die hat kein paradiesisches Zimmer, und auch keine Fähigkeit. Niemand weiß warum. Man könnte meinen: das hässliche Entlein. Doch hässlich ist sie auch nicht, sondern recht knuffig und klug und etwas nerdig. Sympathisch, ganz einfach. Und mit Erschaffung dieser natürlichen, burschikosen Figur haben die Character-Designer wieder ganze Arbeit geleistet. Mirabel dämmert bald, dass diese Superfähigkeiten ihren Preis haben. Und dass der Haussegen eigentlich schiefer hängt als gedacht, wobei sie selbst, wie andere behaupten, nicht unbedingt schuld dran sein muss. Sie forscht also nach – und stößt auf beunruhigende Geheimnisse, deren Ursprünge zwei Generationen zurückliegt.

Ein Familienfilm? Wohl eher eine therapeutische Familienaufstellung. Da ist Oma, ihre Kinder (eines davon verstoßen) und die Enkelinnen. Gemäß der heutigen Zeit ist ein Kind wohl nichts, wenn es nicht in ihren Begabungen gefördert wird. Da wollen die Eltern nichts verpassen und dem Nachwuchs das ermöglichen, was sie womöglich selber nie hatten. Das ist ein Leistungsdruck, der nach hinten losgehen kann. Ungefähr so wie in Encanto. Magie hin oder her – diesmal können die Esel, Tapire und Capybaras noch so witzig dreinschauen; diesmal kann das kunterbunte Häuschen noch so mit den Kacheln klappern – was Encanto anstrebt, ist die Suche nach dem Besonderen im Charakter des einzelnen, und die Abkehr von dem, was man leisten muss, nur weil man es vielleicht gut kann. Ein Ansatz, der überraschend ernsthaft und ehrlich daherkommt, den die zum besten gegebenen Musiknummern auch gebührend unterstreichen, ohne zum Selbstzweck zu verkommen. Disney schaut also von Pixar ab? Natürlich, warum nicht. Ein bisschen mehr Konsequenz vor allem in der finalen Szene hätte aber nicht geschadet, doch da hat Disney dann doch nicht weniger als mehr gelten lassen. Die Magie hat wie immer das letzte Wort. Wäre das aber nicht passiert, hätten wir ein kleines Meisterwerk gehabt.

Encanto

Monos

CHILDREN FOR THE REVOLUTION

7,5/10 


monos© 2020 DCM


LAND / JAHR: KOLUMBIEN, ARGENTINIEN, NIEDERLANDE, DEUTSCHLAND, URUGUAY, SCHWEDEN 2019

REGIE: ALEXIS DOS SANTOS & ALEJANDRO LANDES

CAST: JULIANNE NICHOLSON, MOISES ARIAS, SOFIA BUENAVENTURA, JULIÁN GIRALDO, KAREN QUINTERO, DEIBY RUEDA, SNEIDER CASTRO, PAUL CUBIDES U. A. 

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Wohl eines der erschütterndsten und spannendsten Bücher, die ich je gelesen habe, ist die Leidensgeschichte der Politikerin Ingrid Betancourt, die als Geisel der kolumbianischen FARC jahrelang als wertvollster Besitz galt. Mit Geiseln, so die Rebellen, lässt sich politisch am meisten bewegen. Was das für Leute sind, beschreibt Betancourt mit fast schon sachlicher Genauigkeit. Der Film Monos von Alexis Dos Santos und Alejandro Landes nimmt so einen wilden Haufen junger Hunde ebenfalls unter die Lupe. Dafür steigt er hoch auf die unwirtlichen Hochebenen des südamerikanischen Landes, dort, wo man bereits über den Wolken weilt und auf ein Panorama blickt, dass erstens den Atem raubt und zweitens das unbändige Gefühl von Freiheit vermittelt.

Von dieser Freiheit hat die aus den USA stammende Journalistin, die als Geisel genommen wurde, leider überhaupt nichts. Sie dämmert hier oben, zwischen Gebirgssteppe und verfallenem Bunker (eine fast surreale Kulisse) mehr oder weniger vor sich hin, ohne Aussicht darauf, ersonnene Fluchtpläne in die Tat umzusetzen. Doch diese Doctora, wie sie genannt wird, ist an sich nur die Protagonistin im Hintergrund. Ganz vorne mit dabei, kalaschnikowschwingend und ständig am Feiern: eine achtköpfige Gang, die sich Monos nennt und die einer nicht näher benannten Rebellengruppierung angehört. Anführer dieser Soldaten ist ein muskelbepackter Zwerg, der den Greenhorns immer wieder die Leviten liest – und dann wieder verschwindet. Die Burschen und Mädchen müssen sich also allein organisieren und überdies auf eine Milchkuh achten, die ihnen zum Geschenk gemacht wird. Dass das schiefgeht, ist nur eine Frage der Zeit. Und irgendwann muss die Gruppe weiterziehen, runter ins Tal – in den tropischen Dschungel.

Monos war für mich einer der Filme, die letztes Jahr coronabedingt keine Kinoauswertung hatten. Glücklicherweise gab es dafür das Sommerkino, doch selbst diesen einen Termin konnte ich nicht wahrnehmen. Dabei wäre die große Leinwand für ein Werk wie dieses hervorragend geeignet gewesen, vor allem, weil das Rebellendrama so sehr mit der Opulenz und der Üppigkeit seiner Umgebung spielt. Monos ist allerdings kein klassischer Thriller, und folgt auch keiner gewöhnlichen Erzählweise. Lange Zeit bleibt vieles im Dunkeln, die einzelnen, teils clownesk agierenden Gestalten werden nach und nach bekannt, auch ihre Beziehungen zueinander. Ob hoch oben oder tief unten im stickigen Blätterwald – der spannungsgeladene Mikrokosmos zwischen den acht jungen Menschen und ihrer Geisel gebärdet sich als Psychostudie zwischen Herr der Fliegen und Coppolas Apocalypse Now, wenn man vom Aspekt der Geiselnahme absieht. Jeder einzelne, kaum Herr seiner Lage, versucht sich an die Macht zu boxen oder versucht, eine Lücke für seine eigene Macht zu finden. Nur die Zähen überleben hier, in diesem gesetzlosen Vakuum, in dieser schwül-düsteren Anarchie aus Ehrenkodex, Anbiederung und langsam übergreifenden Wahnsinn. Mensch und die Natur verschmelzen. Archaische Tänze ums Feuer, Gesichter hinter Schlamm- und Erdmasken, sei es zur Tarnung, sei es, um den eigenen erdachten Kult von jeder sonstigen bestimmenden Institution loszulösen.

Monos ist ein rauer, wilder Film ohne Sanftmut und Bedächtigkeit. Mag sein, dass diese unorthodoxe kleine Geschichte über das Wesen des Menschseins für manche schwer zugänglich ist. Mir ging’s anfangs ähnlich, doch mit der Zeit, wenn die Rolle der Doctora sich aus dem sozialen Gefüge herauszuschälen versucht, wird aus dem Gruppenportrait ein spannender Survivalthriller, der die Wildheit Kolumbiens in satten, schweren Bildern anhimmelt und das Ganze noch mit einem hypnotischen, kunstvoll verzerrten Folklore-Score ergänzt. Dieser Trip ins Herz der Finsternis und wieder hinaus lohnt sich.

Monos

Birds of Passage

DAS ÜBEL MIT DER WURZEL

7,5/10

 

birdsofpassage© 2018 Ciudad Lunar, Blond Indian, Matea Contreras

 

ORIGINAL: PÁJAROS DE VERANO

LAND: KOLUMBIEN 2018

REGIE: CIRO GUERRA, CRISTINA GALLEGO

CAST: CARMINA MARTINEZ, JHON NARVAEZ, JOSÉ ACOSTA, NATALIA REYES, GREIDER MEZA, JOSE VICENTE COTES U. A.

 

Eine karge Ebene, über die der Wind weht. Dürre Bäume. Man möchte meinen, man wäre in der Sahelzone. Falsch gedacht. Dieses Ödland ist Kolumbien. Wobei ich bei Kolumbien in erster Linie an dichte Wälder denke, bis an die Küste. Die Hütten der Wayuu allerdings, die stehen dort, wo Touristen womöglich kaum hinkommen. Nämlich an der Halbinsel La Guajira im Norden des Landes, direkt an der Grenze zu Venezuela. Wer die Wayuu eigentlich sind? Ein indigenes Volk mit Prinzipien, strengen Regeln und Ritualen. Und mit einem schier grenzenlosen Glauben an eine höhere, fast schon prophetische Bedeutung der Dinge. Kommt bekannt vor? Zumindest wenn man ans Römische Reich denkt, da waren die sogenannten Auguren jene, die aus allem was sie sahen, hörten oder in die Finger bekamen, die Zukunft lesen oder zumindest erahnen konnten. Soweit ich weiß, wurde selbst Cäsar davor gewarnt, an den Iden des März im Jahre 44 v.Chr. den Senat aufzusuchen. In den Wind schlagen lässt sich sowas recht einfach. Und in den Wind, der da an der Halbinsel unablässig weht, schlagen auch die Wayuu sämtliche Omen, wenn es um Profit geht. Den entdeckt nämlich in den 60er Jahren ein in die Sippe der Wayuu eingeheirateter junger Mann namens Rapayet, der einigen Amis Marihuana verkauft. Die wollen bald mehr, und so wird das grüne Gold, wie es im Untertitel des Filmes heißt, Zankapfel sämtlicher Clans, die alle ein Stück vom Kuchen wollen und bald lästige Konkurrenz mit bewährtem Blei der Einfachheit halber auszuschalten gedenken. Irgendwie rauft man sich zusammen, auch wenn man sich nicht ausstehen kann und die Ehre der Familie ständig im Weg ist. Die wird dann auch, nachdem alle Jahrzehnte später in ihrem Reichtum förmlich ertrinken, allen zum Verhängnis – und eine bittere Tragödie nimmt ihren Lauf.

Birds of Passage – das sind die Zugvögel, die übers Land Richtung Süden ziehen. Das sind aber auch Seelenträger Verstorbener, die keine Ruhe finden. Der stelzende Graureiher ist ein Symbol, dass den ganzen Film frequentiert und Verrätern nicht von der Seite weicht. Stets stakst das Federvieh über Lehm- und Teppichboden, erinnernd an den Blutzoll, der dem Perpetuum Mobile der Gewalt erst den Anstoß gegeben hat. Der Kolumbianer Ciro Guerra, der schon mit der bemerkenswerten Dschungelodyssee Der Schamane und die Schlange den künstlerischen Aspekt des Schwarzweißfilms wieder zu neuen Sphären erhoben hat, reist nun vom Amazonas in die eigene Heimat und gräbt so tief es geht in der kolumbianischen Erde, um das grüne Übel an der Wurzel zu packen und die kriminelle Genesis des Drogengeschäfts von der Stunde Null an zu erzählen. Auch für Birds of Passage findet Ciro Guerra epische Bilder, die auf den ersten Blick so gar nichts mit irgendeiner Art des Suchtmittel-Business zu tun haben. Wenn das Wayuu-Mädchen Zaida vom Mädchen zur Frau wird, und das im Rahmen einer penibel durchexerzierten Initiation, dann erinnern die wallenden, vom Wind gebauschten roten Gewänder an die Bildsprache von Tarsem Singh, wie aus einem surrealen Märchen, das aber bei näherem Hinsehen nur scheinbar so anmutig und verzaubernd wirkt. Das rote Tuch – eine weitere Metapher, vielleicht für das vergossene Blut, das den heiligen Boden tränkt, der für das im wahrsten Sinne des Wortes fatale Joint Venture unerlässlich ist. Die Leichen aber, die hier den Weg pflastern, säumen wie Mahnmale die Landschaft. Was wir sehen ist nicht das Töten, sondern den Tod, das Resultat eines unlösbaren Konflikts, dazwischen gezogene Waffen, traditionelle Gesänge, und entrückte Visionen, die genauso zu deuten sind wie alles andere. Birds of Passage ist eine flirrende, womöglich nach eigenen filmischen Ritualen streng komponierte Oper um Gewalt, Reichtum und die Geißel ethnisch bedingter Zwänge. Und ein verlustreiches Lehrstück über die Institution Familie als Grundstruktur für das finstere Wesen der Kartelle, wie Pablo Escobar sie später mal regieren wird.

Birds of Passage

Barry Seal

MOST WANTED MAN

7/10

 

barryseal© 2017 Universal Pictures / Quelle: filmstarts.de

 

LAND: USA 2017

REGIE: DOUG LIMAN

MIT TOM CRUISE, DOMNHALL GLEESON, SARAH WRIGHT U. A.

 

Es gibt Dinge, die tatsächlich nur in den Vereinigten Staaten von Amerika passieren. Zum Beispiel so etwas wie Donald Trump. Oder eine Klage wegen zu heißen Kaffees. Der Absturz eines vermeintlichen Ufos. Oder die Macht der Geheimdienste, die bereits schon weit über die Grenzen von Transatlantica hinausgeht. Hollywood unter der Regie von Actionspezialist Doug Liman hat aus dem schier grenzenlos scheinenden Panoptikum amerikanischer Merkwürdigkeiten die Biografie eines Mannes herausgepickt, der vom routinierten Piloten einer Passagierfluglinie zum Most Wanted Man so gut wie alle und jeden gleichermaßen beeindruckt wie enttäuscht hat. Dieser Barry Seal war in den späten Siebzigern und den Achtzigern, zur Amtszeit von Ronald Reagan, im wahrsten Sinne des Wortes ein Überflieger. Nicht nur, dass die CIA ihn abgeworben hat, um im Stellvertreterkrieg der Achsenmächte Mittelamerika auszuspionieren. Auch das langsam erstarkende Drogenkartell rund um Pablo Escobar hat den Gelegenheits-Allrounder in die Finger bekommen. Auf gewohnt joviale wie gleichermaßen kompromisslose Weise haben die Finsterlinge aus Kolumbien Barry Seal den lukrativen Job eines Drogenkuriers angeboten. Dieses zweigleisige Befahren von Flugrouten war aber erst der Anfang einer atemlosen True Story über die Absurdität von Reichtum und dem dehnbaren Begriff von Moral und Anstand. Wäre Barry Seal nicht der gewesen, der er war, hätte dieser wohl begehrteste Familienvater der Welt die herumreißenden Zügel der Geschäftemacherei niemals in Händen behalten können.

Der Bourne-Regisseur hat daraus einen irrlichternden Sampler aus Polit-, Familien- und Drogendrama zusammengemixt. Sein Film gebärdet sich wie ein Videoclip – eine Ästhetik, die wir schon bei Oliver Stone oder Tony Scott beobachten konnten. Viel anders lässt sch Barry Seal in seinem wilden, ungestümen Strudel aus Deals, Machenschaften, Wahnsinn und Bedrohung überhaupt erst gar nicht darstellen. Ein Leben im Stakkato, in ständiger Hektik, in fortdauernder Gier. Barry Seals übergroßes Ego zieht die Mächte des Zwielichts und der Finsternis an wie ein schwarzes Loch alle Materie. Der Narziss badet im Geld, das keiner jemals ausgeben kann. Gefahr ist notwendiges Übel. Ja zu sagen die einzige richtige Entscheidung. Bis Reagans Regierung und die Medien alles vernichten – mehr aus plumper Stümperhaftigkeit als aus Vorsatz. Das hätte Trump auch passieren können. Oder wird ihm noch passieren.

Tom Cruise stürzt sich in seine Rolle wie ein Fallschirmspringer in den freien Fall. Gut möglich und sehr wahrscheinlich, dass der zuvorkommende Scientologe wieder mal die meisten Stunts selbst gemacht hat, so fertig, wie er nach zwei Stunden Laufzeit aussieht. Natürlich, Filme entstehen nicht chronologisch, aber zumindest hat man das Gefühl, bei Barry Seal war das allerdings der Fall. Barry Seal ist wie ein Walter White auf Speed, nur dass Seal in seiner ungebremsten Arbeitsmoral Befehlsempfänger bleibt, der die wohlkoordinierte Drecksarbeit erledigt. Zu sehen, wie ein Mann mit großen Fähigkeiten am Boden und in der Luft zerrissen, ausgenutzt und weggeworfen wird, ist bittere, zynische Realität.

Durch Doug Liman´s leichter Hand wird man bei Barry Seal das Gefühl nicht los, einer Komödie beizuwohnen. Das ist der Film aber keineswegs. Doch die Art, in der die Memoiren eines Tausendsassas erzählt werden, spiegelt die Facetten eines schnellen, gierigen, todesmutigen Lebens als bravouröses, kurzweiliges Entertainment wider. Eine farbenfrohe, grelle Show zwischen Breaking Bad und Der Informant!. Beste Unterhaltung – auf Kosten einer rühmlich-unrühmlichen Legende.

Barry Seal

The Infiltrator

MITTENDRIN STATT NUR DABEI

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infiltrator

Schon wieder im Drogensumpf. Bryan Cranston, vormals exaltiertes und herrlich schräges Familienoberhaupt von Superhirn Malcolm, hat uns in Breaking Bad – einer der wohl besten Fernsehserien überhaupt – das Fürchten gelehrt, indem er zum weltweiten Crystal Meth-Papst aufgestiegen ist. Jetzt landet er wieder in diesem Terrain – allerdings zäumt er das Pferd diesmal von hinten auf. Indem er dem Drogenkartell rund um Erzschurke Pablo Escobar das Handwerk legt – und den finsteren Kerlen gehörig auf den Wecker fällt, ohne mit der Tür ins Haus zu fallen. Basierend auf der Lebensgeschichte des Zollbeamten Robert Mazur, der unter dem Decknamen Bob Musella vorgab, das Blutgeld der Kolumbianer reinwaschen zu können, ohne dabei aufzufallen, hat der amerikanische Regisseur Brad Furman, unter anderem verantwortlich für Der Mandant, zwar einen konventionellen, aber spannenden Undercover-Thriller inszeniert.

Wobei er mit Bryan Cranston sowieso schon die halbe Miete bezahlt hat. Er meistert seine Rolle des anfänglichen Schreibtischhengstes, der später Familie, Leib und Leben riskiert, um das Böse in der Welt dingfest zu machen, mit Leichtigkeit. Kein Wunder, er hat für Breaking Bad genug trainiert, um auf ganzer Länge zu überzeugen. Sowohl als Ehemann, Biedermann mit Schnauzer und risikobereiter Geheimagent. Noch dazu stimmt das Setting der frühen Achtziger bis ins Detail. Eine Stilwelt, deren Umsetzung ähnlich jener der Siebziger leicht hinzukriegen ist. Die ganze Geschichte übrigens könnte nach einem Krimi von Robert Ludlum oder gar Tom Clancy stammen – viel erstaunlicher ist es dann, festzustellen, dass sich das ganze Szenario tatsächlich so zugetragen hat – oder zumindest annähernd, denn das Kino adaptiert und interpoliert so Manches, um breitenwirksamer zu sein. Man kann aber getrost davon ausgehen, dass hier nicht allzu viel verschönert oder verschlimmert wurde. Sowohl das Personal der CIA als auch Escobars Handlanger sind nachvollziehbare Charaktere, denen man ihre Absichten unumwunden abnimmt. Einzig Benjamin Bratt wirkt auch als graumelierte rechte Hand der Colombian Connection zu brav und aalglatt, um wirklich der Schurke zu sein, für den man ihn hält. Doch wer weiß, wir wissen es alle nicht, vielleicht war dieser Mann wirklich so. Das weiß nur Robert Mazur – und von ihm ist auch die autobiografische Vorlage. Wohingegen Pablo Escobar höchstselbst lediglich einen Cameo-Auftritt in Brad Furman´s Film hinlegt. Eine flüchtige Erscheinung, wie das unangreifbar Böse, dass den Agenten Mazur nur zufällig streift. Diese Unantastbarkeit verdeutlicht nur zu gut, wie schwierig es gewesen sein muss, das Geflecht aus Drogen, Terror, Macht und Gewalt aufzudröseln. Bis man endlich mal das lebenswichtige Haupt der Hydra zu Greifen bekommt, stehen vorher noch unzählige weitere köpfe im Weg, deren Vertrauen man gewinnen und dessen Lebens- und Arbeitsweise man infiltrieren muss. Die skurrilste Begebenheit dieser Operation gegen die Macht der Drogen ist die Scheinhochzeit des Bob Marsella mit seiner Arbeitskollegin, um die perfekte Illusion zu wahren.

Wie sehr dies auf Kosten der echten Ehe geht, und wie sehr das erfundene Leben die psychische Substanz der Protagonisten dieser Operation bröckeln lässt, ist die interessanteste Episode in diesem stringent erzählten, packenden Thrillerdrama, in dem es auch um Vertrauen, Freundschaft und verdammt viel Glück geht. Denn Glück hatte dieser Mann, war sein Unterfangen doch des Öfteren haarscharf an der Kippe zum Scheitern. Dieser Balanceakt macht den Film sehenswert, mal abgesehen von Mr. Heisenberg, der mit gewohnt expressiver Mine zur Abwechslung mal kein Meth, sondern ein anders Süppchen kocht.

 

The Infiltrator