Die Nile Hilton Affäre

DA KOMMEN DIE TAGE DES ZORNS

8/10

 

nilehilton© 2017 Port au Prince Pictures GmbH

 

LAND: SCHWEDEN, DEUTSCHLAND, DÄNEMARK 2017

REGIE: TARIK SALEH

MIT FARES FARES, MOHAMED YOURSI, HICHEM YACOUBI U. A. 

 

So vieles hätte sich ändern können. So sehr standen die Zeichen auf Neuanfang. Im Januar des Jahres 2011 war das Land der Pharaonen dem Beispiel Tunesiens gefolgt und hat als Volk im Schulterschluss Reformen gefordert, ganz oben an der Spitze aller Forderungen den Rücktritt Hosni Mubaraks. Ende Januar dann bürgerkriegsähnliche Zustände am Tahrir-Platz von Kairo. Die Revolution hat ihren Höhepunkt erreicht. Die Folge: ein Machtwechsel. Auf zu neuen Ufern also. Doch da hat wer die Rechnung ohne das Militär gemacht. Alles weitere ist Geschichte, wenngleich eine von diesen Ereignissen, die man nachträglich gerne noch umgeschrieben hätte, zugunsten der Bürger, der sozial Benachteiligten, der Freiheit des Glaubens und natürlich der Stellung der Frau. Was ich aber fast vergessen hätte: zugunsten der Abschaffung einer eingefleischten Korruptionspolitik, die den exekutiven Staatsapparat schon so weit durchdrungen hat wie Mörtel in einer Hausfassade.

In dieser Corruption Airways, wie sie die EAV in ihrem Song-Klassiker Küss die Hand Herr Kerkermeister so formschön besingen, sitzt auch der Polizist Noredin, trauernder Witwer und autoagressiver Kettenraucher – keine Szene ohne Anheizen eines Tschicks, dementsprechend verraucht sind die Settings, und dementsprechen fahrig und verzweifelt das Suchen nach dem Päckchen. Dem Zuschauer bleibt ein fahler Geschmack im Mund, ein Film also zum Passivrauchen. Dieser Rauch, der sich durch Die Nile Hilton Affäre zieht, bleibt nicht ohne Feuer. Tarik Saleh´s packender, auf tatsächlichen Ereignissen beruhender Politthriller ist höchst brisant, politisch äußerst unbequem und interessanterweise eine Produktion aus schwedisch-dänisch-deutschen Landen, obwohl es sich anfühlt, als wäre der urban-düstere, verputzbraune Straßen- und Hotelkrimi ein Film von Ägypten für Ägypten, fühlbar authentisch und mit einem Lokalkolorit von oriententzaubernder Sogwirkung.

Fares Fares, der Mike Krüger des Nahen Ostens, ist natürlich ein Gesicht, dass sich schwer vergessen lässt und sich tatsächlich sogar im Star Wars-Ableger Rogue One, im Kreise der Rebellen auf Yavin (Randbemerkung für Insider) wiederfindet. Als Herumstocherer im Kairoer Korruptionssumpf lässt er sich auf Liaisonen ein, die auf die Dauer ungesund sein müssen. Und deckt Verbindungen auf, die, wie kann es anders sein, in den Olymp der Macht führen. Die Fakten dahinter sind nicht wirklich überraschend, faszinierend sind an diesem Film vielmehr die stilistischen Referenzen an Filme der schwarzen Serie, die ihre lasterhaften Helden einem unüberschaubaren großen Ganzen gegenüberstellen und ihrer rechtschaffenen Wahrnehmung von Gerechtigkeit das Steuer entreißen. Die Nile Hilton Affäre ist nicht nur ein Krimi, der die Lösung eines Falles anstrebt. Stetig wechselnd zwischen luxuriösen Appartements und peripheren Ghettos, zwischen Szenen des Aufstandes und verrauchten Hinterzimmern gerät Saleh´s Film in einen vielschichtigen Strudel aus ohnmachtsanfälligem Wettern gegen die Mechanismen einer arabischen Politik, die sich windet wie eine Hydra, und Kritik an einer Gesellschaft, die sich dem Eigennutz verschrieben hat. Dazwischen der Polizist Noredin, dessen unautorisierte Ermittlung zu einer Herkulesaufgabe mutiert. Fares steht da für einen Typ Mensch, der zwar nicht mehr an sich selbst, aber an eine bessere, höhere Ordnung glaubt, die anstrebbar bleibt. Bis auch dieses Weltbild bröckelt.

Die Nile Hilton Affäre ist großes politisches Kino im Gewand eines so rauhen wie eleganten Thrillers, voller Substanz und ganz vielen Seitenhieben, wüstenstaubverkrustet und abgasschwer. Ein Film aus den Straßen einer Millionenstadt und darüber hinaus, aus einem Land im dunklen Schatten der Pyramiden.

Die Nile Hilton Affäre

Wind River

JAGDSZENEN AUS WYOMING

6/10

 

windriver© 2017 Wild Bunch

 

LAND: USA 2017

REGIE: TAYLOR SHERIDAN

MIT JEREMY RENNER, ELIZABETH OLSEN, GRAHAM GREENE, JULIA JONES U. A.

 

Wenn es gerade so wie in diesem Frühsommer fast schon unerträglich heiß wird, können Filme wie dieser für die notwendige Abkühlung sorgen. Vielleicht ist Wind River ja sogar der Abkühlung zu viel, ein Pullover in Griffweite wäre ratsam. Denn dort, in Wyoming, wohin uns dieser Thriller führt, herrscht eisiger Winter. Eine Wildnis wie von Gott verlassen, eine Landschaft, von Wind und Wetter geformt. Wenn es mal schneit, dann nur als Schneesturm. Dazwischen, bei klarem Himmel – klirrende Kälte, die man leicht bekleidet nicht lange überleben würde. Schon gar nicht barfuss. Denn das ist die Leiche, die von Wildhüter Cory gefunden wird, unweit des Indianerreservats Wind River, mitten im Schnee. Tod durch Kälte. Normalerweise ein Fall für den Bezirkssheriff, doch welcher dieser Fälle ist schon normal. Noch dazu, da der verkniffene, wortkarge Jägersmann irgendwie von Anfang an schon mit drin steckt, und da auch nicht herauswill, ähnelt der Tod dieser 18jährigen Indianerin jenem seiner Tochter, die er vor drei Jahren zu Grabe tragen musste. Wie es das Schicksal will, bittet FBI-Agentin Jane Banner den so gebrochenen wie verschlossenen Spurensucher um Hilfe – hier in dieser lebensfeindlichen Gegend so dringend notwendig wie ein Bissen Brot.

Ich kann mich noch gut erinnern – vor zwei Jahren war der Hinterland-Krimi Hell or High Water in aller Munde, schon allein wegen der Nominierung zum besten Film. Der alternde Jeff Bridges will da Chris Pine und Ben Foster das Handwerk legen. Regiedebütant Taylor Sheridan hat da zwar nicht Regie geführt, aber das Drehbuch beigesteuert. In Wind River hat der gebürtige Texaner gleich beide Parts übernommen und diesmal Jeremy Renner einen weißen Overall übergezogen, um ihn nicht nur Pumas, sondern auch Mörder jagen zu lassen. Der sympathische Schauspieler, der sowohl die Avengers-Clique als auch das Team um Mission Impossible verlassen zu haben scheint, ist allein auf weiter Flur eindeutig besser dran. Renner ist ein Einzelgänger. Die meisten seiner Rollen sind das. Teamplayer ist was anderes. Das muss er aber auch nicht mögen. Oder gar machen müssen. Dem als Hurt Locker bekannt gewordenen Kalifornier steht der trauernde Wildhüter, der mit dem Motorschlitten durch den Tann dröhnt und  treffsicher zu zielen weiß, enorm gut zu Gesicht und legt seine bislang beste Performance auf die Piste. Fast wie eine Art Jean-Paul Belmondo, aber nicht in der Arroganz eines James Bond oder in Gigolo-Manier eines Jason Statham – das sind Einzelgänger, die alles können und mit Schmäh und Understatement letzten Endes immer gewinnen. Diese Attitüden hat der traumatisierte Shootist alle nicht. Sein Einzelgängertum ist auf das Wesentliche eingerext. Und längst ist nicht klar, ob er am Ende des Tages immer noch über allem steht. Das weiß selbst „Scarlett Witch“ Elizabeth Olsen nicht – als Greenhorn unter den FBI-Ermittlern hat sie zwar alle ihre Hausaufgaben gemacht – die Arbeit auf freiem Feld ist aber etwas, das man nur durch Erfahrung effizient bewerkstelligen kann. Diese Erkenntnis lässt Olsen in ihrer Rolle aufgehen und begegnet Jeremy Renner auf Augenhöhe. Dass sich beide sowohl ihren Defiziten as auch ihren Stärken bewusst sind, macht sie zu Identifikationsfiguren in einem Thriller, der allerdings einfach nur ein Thriller ist.

Ja, es ist saukalt, die unwirtliche Natur ist leinwandfüllend, das Licht des Tages meist schwindend. Landschaften, die schon in Genrefilmen wie Mörderischer Vorsprung die eigentlichen Stars der Geschichte waren. Dass es in Wind River um so Abscheulichkeiten wie Vergewaltigung und Mord geht, mag zwar zeitweise bleischwer im Magen liegen, letzten Endes aber wagt sich Sheridan´s Neo-Western kaum grenzüberschreitend weiter vor, um auch die Metaebene eines gesellschaftskritischen Diskurses aufs Tablett zu bringen. Ansätze sind zwar vorhanden, alle möglichen Ressourcen gehen aber auf die stark fokussierte Kriminalgeschichte, die dadurch aber auch so ziemlich lückenlos den Spannungsbogen bis zum Ende straff hält. Sheridan hat gute Arbeit gemacht, und war, so wie es scheint, vor allem für die endlos scheinende Wildnis Wyomings zu begeistern. Sonst ist Wind River wie schon Hell or High Water kein Kunst-, sondern eher das Handwerk eines bodenständigen Films über den gezähmten wilden Westen der Gegenwart, als Debüt verständlicherweise etwas hemdsärmelig, aber nach guter alter Schule inszeniert. Mag sein, dass die nächste Regie den eigenen Stil Sheridan´s womöglich erst definieren wird.

Wind River

Inherent Vice

DAS MODEL UND DER SCHNÜFFLER

4/10

 

inherentvice© 2014 Warner Bros.

 

LAND: USA 2014

REGIE: PAUL THOMAS ANDERSON

MIT JOAQUIN PHOENIX, JOSH BROLIN, OWEN WILSON, KATHERINE WATERSTON, REESE WITHERSPOON U. A.

 

Es gibt so dermaßen viele lesenswerte Bücher auf dieser Welt. So viele wirklich fesselnde Geschichten, die es wert sind, verfilmt zu werden. Von spannenden Krimis über unglaubliche, aber wahre Tatsachenromane bis zu detailliert ausgearbeiteten Utopien nach unserer Zeit. Aber nein, Paul Thomas Anderson greift zu der mit Abstand wohl uninteressantesten und belanglosesten literarischen Vorlage, bei der ich mich mit härtester Eigendisziplin dazu durchgerungen habe, den prätentiösen Murks bis zum Ende auszusitzen. Und wahrlich, es ist kaum zählbar, wie oft ich meine Gedanken bei diesem Film bändigen habe müssen, bevor sie irgendwohin in andere Bereiche des Erlebten oder noch zu Erlebenden abgeglitten wären. Inherent Vice ist wirklich harte Arbeit. Und das sicherlich nicht aufgrund der Geschichte, die der Film erzählt. Sondern aufgrund des Wunsches, dem Szenario nicht noch mehr sauer verdiente Lebenszeit zu opfern. Da drängt sich aber die Frage auf – wieso hab ich mir das angetan? Und wieso habe ich den Film nicht einfach vorzeitig beendet? Nein, das würde ich natürlich nicht tun, vor allem nicht, wenn ich eine Review wie diese schreiben möchte. Ich kann doch keinen halben Film beurteilen – oder sind im Filmjournalismus ganz andere Methoden usus? Stehen Kinoreporter ihre verordneten Filme bis zum Ende durch?

Zugegeben, es ist ein gutes Gefühl, wenn sich die Neon-Lettern des Abspanns von Inherent Vice in meinen Brillengläsern spiegeln. Da weiß ich, es ist vorbei. Und dabei hat Paul Thomas Anderson´s Krimigroteske nicht nur „natürliche Mängel“. Das ganze Kind mit dem Bade auszuschütten wäre irgendwie unfair. Denn schauspielerisch hat sich der Film nämlich gehörig ins Zeug gelegt. Ein Staraufgebot, da bekommt man feuchte Augen. Sogar einnehmende Gute-Laune-Bären wie Owen Wilson geben sich die Ehre. Absolut verführerisch und mit schwindelerregendem Sex-Appeal ausgestattet lässt Katherine Waterston, die wir eher in zugeknöpften Rollen aus Phantastic Beasts oder als Ripley-Verschnitt aus Alien: Covenant kennen, ungeniert die Hüllen fallen, da kann Jennifer Lawrence noch einiges lernen. Waterston strahlt so viel laszive Erotik aus, das hat zuletzt noch Sharon Stone geschafft. Die junge Dame ist ein Hingucker. Das ist der Backenbart von Joaquin Phoenix auch. Und ja, er brilliert in seiner Rolle. Aber wofür?

Ich habe die Vorlage von Pynchon natürlich nicht gelesen. Und nein, das werde ich auch nicht nachholen. Zu wenig Anreiz, das Ganze. Wer jetzt von wem in die Klapse gesteckt werden soll, und wer wann verschwindet, und wer dann wiederum am Verschwinden beteiligt ist, tangiert so wenig wie das neue Lippgloss von Paris Hilton. Gut, es gibt sicher jemanden, dem das wichtig ist, aber mir selbst geht die ganze Geschichte so ziemlich hinter dem Kinositz vorbei. Weder baut Inherent Vice irgendwelche Bezugspersonen auf, die das Geschehen wohl relevanter machen würden, noch bemüht sich Anderson auch nur irgendwie, sich auf gefällige Weise (und das ist im Kino bis zu einem gewissen Grad nicht verkehrt, gefällig zu sein) die Aufmerksamkeit des Publikums zu sichern. Viele Details erklären sich aus schnell gesprochenen Dialogen. Viele Namen kommen ins Spiel, eben auch nur verbalisiert. Passt man da einmal nicht auf – und ich habe vorhin schon erwähnt, wie schwer das war, dranzubleiben – geht’s einem so wie Privatdetektiv Larry Sportello, der den Auftrag hat, den Lover seiner Ex (eben diese K. Waterston) vor der Entmündigung durch dessen Gattin zu bewahren.

Sportello kennt aufgrund seines permanenten Stoned-Zustandes wohl kaum alle Namen. Den Durchblick hat er längst nicht, da bin ich noch in der ersten Halbzeit mit sattem Vorsprung mit dabei. Und ich war nicht mal bekifft. Aber vielleicht hätte ich das sein sollen. Dann wäre mir Inherent Vice nicht so dermaßen irrelevant erschienen. So nichtssagend in seiner gewollt aufgeplusterten Hippie-Reminiszenz, die mittlerweile auch keine Auszeichnung für eine Standing Alone-Idee mehr verdient. Alle Nase lang versucht ein Filmemacher, die Ära der Glockenhosen als schräges Kinovariete zu verkaufen. Dieser Versuchung ist schon David O. Russel mit American Hustle erlegen. Die Musik war gut, die Outfits auch – die Story flach wie Pizza Hawaii. So ergeht es auch Paul Thomas Anderson, der fraglos ein begnadeter Filmkünstler ist, der sich aber in seinem exorbitant gut fotografierten, aber hohlen Werk in eine Verklärung nostalgischer Coolness hineingeritten hat, aus der er satte zweieinhalb Stunden nicht mehr herausfindet.

Inherent Vice

Mute

ICH HAB NOCH EINEN KOFFER IN BERLIN

7/10

 

Mute© 2018 Netflix

 

LAND: GROSSBRITANNIEN, DEUTSCHLAND 2018

DREHBUCH & REGIE: DUNCAN JONES

MIT ALEXANDER SKARSGÅRD, PAUL RUDD, JUSTIN THEROUX, SEYNEB SALEH U. A.

 

Sehr schade, dass das Warcraft-Franchise unter der Regie von Duncan Jones im Kino nicht durchstarten konnte. Aber das konnte Hulk unter der Regie von Ang Lee auch nicht. Warum nicht? Eine Theorie hätte ich da. Beide Filmemacher haben ihre eigenen Visionen. Gut, welcher Filmemacher hat die nicht, aber die beiden sind schon einen Schritt weiter gewesen, als ihnen das Projekt Blockbuster auferlegt wurde. Künstlerische Differenzen sind da womöglich vorprogrammiert. Dennoch hatten beide zumindest die Chance ergriffen, ihre ganz eigene Interpretation von Popkultur zu verwirklichen. Doch Undank war des Publikums Lohn. Halbleere Kinosäle für Filme, die mehr wollten als nur die Kasse klingeln lassen.

Zurück also zum Ursprung. So schnell wird sich der Filius von David Bowie der Versuchung des schnellen Geldes nicht mehr hingeben. Das hat sein Papa auch nicht getan – und dennoch vollen Erfolg erzielt. Aber das ist etwas, was man vorab nicht wissen kann. Und es ist ja nicht so, dass Jones´ Erstling Moon kein achtbarer Erfolg war. Zumindest im Independent-Sektor des Science-Fiction Genres gilt das Solo-Drama am Erdtrabanten als innovativer Meilenstein. Source Code war nicht weniger beklemmend, wenn nicht gar noch mehr verstörend als der Einstand mit Neo-Oscarpreisträger Sam Rockwell. In Mute scheint sich Duncan Jones tief vor einem seiner möglichen Kino-Top Ten zu verbeugen – nämlich vor Blade Runner. Die urbanen Dystopien eines Philip K. Dick sind genau sein Ding, diese gesellschaftskritische Art von Science-Fiction, die keine Alien-Invasionen abwehren muss, sondern von innen heraus, durch die Technologie und den Fortschrittsglauben des Menschen, unterwandert wird. Alles keine rosigen Aussichten, eben wie in Ridley Scott´s Kult-Klassiker, der unter der Regie des Visionärs Denis Villeneuve eine vor allem visuell mächtige Fortsetzung fand. Auch Villeneuve ist ein Filmemacher auf seine Art. Das gefällt den Produzenten oder eben nicht. Duncan Jones hat für seinen futuristischen Film Noir das Streaming-Imperium Netflix gewinnen können. Netflix riskiert so einiges im Filmsektor, was ich erstmal sehr begrüßenswert finde. Wäre schön, wenn sich Netflix noch eine Kinokette krallt, dann könnten wir so bildgewaltige Filme wie Auslöschung und eben Mute auch auf Großformat genießen – wo beide Filme auch hingehören.

Jones taucht tief in den Farbpinsel und lässt so gut wie alle Ecken und Enden eines überbevölkerten, versifften Berlins in Blau- und Violett-Tönen irrlichtern, was das Post-Productions-Graffiti so hergibt. Zwischen all den Abgasen, zwielichtigen Gestalten und einem verspäteten Punk-Rock-Revival sucht ein stummer Barkeeper nach der Liebe seines Lebens. Von einem Tag auf den anderen verschwunden, hat die blauhaarige Kellnerin bis auf ein paar wenige kryptische letzte Worte keinen Hinweis hinterlassen. Mute fängt an wie ein Howard Hawks-Krimi, nur dass Alexander Skarsgård (Legend of Tarzan, True Blood) nicht als Detektiv investigiert, sondern als Einzelgänger, der mit Zeichensprache, Kopfnicken und defensiv-eruptiver Gewalt dem Abgang seiner Vertrauten auf die Spur kommen will. Das geht sehr tief in die Keller der Unterwelt hinein, wo wir auf Justin Theroux und Paul Rudd stoßen, von welchem ich kaum glauben kann, ihn als wohlgesonnen Marvel-Minikin Ant-Man gesehen zu haben. Rudd kehrt hier die düstersten Winkel seiner Seele hervor. Mit buschiger Rotzbremse und ungehobeltem Verhalten lehrt er nicht nur der Filmfigur Leo Beiler Respekt – so greifbar verkommen wie Rudd war schon lange kein Antagonist mehr, trotz Liebe zu seiner Filmtochter.

Mute ist ein ambivalentes Machwerk mit klassischen Film Noir-Elementen, die schon Ridley Scott in seinem Blade Runner gekonnt mit unheilvollen Android-Visionen kombiniert hat. Mute gelingt die Nachahmung ansatzweise ähnlich gut, nur seine Blick in die Zukunft ist auch ein verkappter Blick in die Vergangenheit, in die 80er Jahre des eigenen Berlin-Aufenthalts, unter der Obhut von Papa David Bowie, der hier eine Zeit lang gelebt hat. So richtig Science-Fiction ist Mute außerdem nicht wirklich, jedenfalls aber irgendwas dazwischen. Und obwohl der Film vor allem in der ersten Hälfte deutliche Überlängen aufweist und gleich zwei Handlungsebenen Geraden gleich, die sich irgendwann in der Unendlichkeit berühren mögen, stur vorwärts treibt, bekommt Mute im letzten Drittel auf eine Weise die Kurve, mit der ich leise gähnend nicht mehr gerechnet hätte. Denn siehe da – die Tangenten berühren sich. Und das nicht gerade zaghaft. Wenn sich der lichtverschmutzte Nebel hebt und die auf der Zunge liegende große Rätselfrage des Filmes, wohin die ganze Geschichte eigentlich führen soll und ob sie überhaupt irgendwo hin führt, anstatt zu versanden glasklar offenbart wie die Luft nach einem Gewitter – dann hat Duncan Jones ein in sich plausibles, dramatisches wie gleichsam faszinierendes Drehbuch verfasst, in dem Liebe, Hass und die Abgründe dazwischen zu einem formvollendeten Finale finden.

Mute

True Story

DER TEUFEL UND SEIN SCHREIBER

6/10

 

truestory© 2015 Twentieth Century Fox

 

LAND: USA 2015

REGIE: RUPERT GOOLD

MIT JAMES FRANCO, JONAH HILL, FELICITY JONES U. A.

 

Kriminalpsychologen haben sich an diesem Fall sicher die Zähne ausgebissen – und das nicht, weil der Mörder nicht zu überführen gewesen wäre. Vielmehr sind es die Beweggründe, die eine so unvorstellbar schlimme Tat zur Folge gehabt hat. Das Motiv ist meist immer am schwierigsten nachzuvollziehen. Als unergründliches Beispiel für die Psyche eines Menschen, der sein eigen Fleisch und Blut am Gewissen hat – oder zumindest am Gewissen haben könnte – führt das Kriminaldrama True Story den authentischen Fall eines Familienvaters an, der seine Frau und seine drei kleinen Kinder ermordet, in Koffer verpackt und versenkt haben soll. Was ist das wohl für ein Mensch? Und ist es überhaupt ein Mensch? Vielleicht ist der Täter Opfer einer Psychose, denn nach vorsätzlichem Mord sieht das Ganze auch nicht aus. Kurzschlussreaktion? Dazu bin ich selbst zu wenig Profiler, um diese Fragen zu beantworten. Die kann nicht mal der Journalist Mike Finkel beantworten, einst renommierter Journalist der New York Times, der sich aber mit einer bewusst falsch recherchierten Geschichte über Entwicklungshilfe in Afrika selbst den Podest hinter dem Allerwertesten weggezogen hat. Wieder am Boden der Tatsachen, fällt ihm die Sache mit dem vermeintlichen Mörder Christian Longo in den Schoß. So gesehen nicht verlockender als andere Kriminalfälle – nur Longo hat bei der Verhaftung die Identität eben jenes Journalisten angenommen. Natürlich muss Finkel da zuschlagen, schon allein, weil sonst keiner den in Verruf geratenen Schreiberling engagiert.

Kurze Zeit später sitzen sich beide gegenüber – der Mörder und sein Sprachrohr nach draußen. Der Teufel und sein Memoirenschreiber. Der manipulativen Redner und sein Laufbursche. Szenarien, die wir schon aus anderen gewichtigen Spannungsfilmen kennen. Mir fällt Der Totmacher mit Götz George ein. Eine Spielfilmlänge lang steht der bis zur Unkenntlichkeit getarnte Tatort-Star als Massenmörder Fritz Haarmann in einem Zimmer Rede und Antwort. Bedrückend, niederschmetternd, faszinierend. Jodie Foster blickt Anthony Hopkins durch die Glasscheibe bis ins Innerste seiner schwarzen Seele. Und Edward Norton führt Richard Gere auf geniale Weise hinters Zwielicht. James Franco, Mutlitalent und Alleskönner, kann auch in die Fußstapfen genannter Schauspielgrößen treten, wenn es heißt, einen des Mordes beschuldigten Horrorvater zu spielen. Seine Miene ist Tarnung pur, sein müder Blick versteckt hellwache Taktik. Oder doch nicht? Jonah Hill, der im Grunde auch alles spielen kann, was man ihm vorsetzt, scheint von dem verschlossenen Geheimnistuer ziemlich fasziniert. Ganz so wie der Interviewer von Fritz Haarmann. Oder Agent Starling von Hannibal Lecter. Abstoßend sind sie ja, die bösen Buben – aber andererseits ist das unergründlich Böse sowas wie eine Freiheit der Bestie, die sich keiner wirklich leisten kann. Der Journalist Finkel will die ganze Wahrheit wissen – und beginnt, dafür die eigene Seele preiszugeben.

Es ist so wie mit dem Abgrund, in den man hineinblickt. Es kommt immer darauf an, mit welcher Intensität oder welcher bizarren Leidenschaft man das macht. Theaterregisseur Rupert Goold begibt sich mit der Verfilmung des gleichnamigen Berichts von Journalist Finkel nicht weit weg von seinem eigentlichen Metier. True Story ist ein Kammerspiel, enorm nüchtern, reduziert und in graue Düsternis getaucht – einzig durch den orangen Overall des Sträflings zeitweise von aufweckender Farbgebung. Jonah Hill blickt streng, freudlos und begierig, alles zu hören, und sei es auch noch so verstörend. Franco dirigiert, manipuliert und heischt Mitleid. Dazwischen, oder eher aus der Distanz: Felicity Jones, die die Mechanismen des Psychoduells der beiden Egomanen als einzige erkennt. Für den Zuseher wird bald klar, was Sache ist. Und auch, was wirklich dahintersteckt. Dass sich diese Geschichte tatsächlich so ereignet hat, ist fast kaum zu glauben – viel zu bühnentauglich hört sich die ganze Begebenheit an.

Das gegenseitige Ergötzen am Gegenüber ist fast schon ekelhaft, doch wert, verfilmt worden zu sein. Spaß macht der Film allerdings keinen. Hobbykriminalisten und Fans von True Crime-Stories dürften den grauenvollen Einzelheiten der Ermordung sachlich gegenüberstehen – Zartbesaitete könnte die tragische Geschichte, die glücklicherweise meist nur erzählt wird, ziemlich beschäftigen – vor allem weil sich das Warum und Wieso im diffusen Zwielicht der Haftanstalt verstörend bedeckt hält. Und der Teufel über alles erhaben zu sein scheint. Übrigens: Briefkontakt haben die beiden immer noch (Stand 2015).

True Story

Mord im Orient-Express

DIE GRAUZONEN DER GERECHTIGKEIT

6/10

 

orientexpress@ 2017 Twentieth Century Fox

 

LAND: USA 2017

REGIE: KENNETH BRANAGH

MIT KENNETH BRANAGH, JOHNNY DEPP, MICHELLE PFEIFFER, DAISY RIDLEY, JUDI DENCH U. A.

 

Nein, gezwirbelt hat er das liebevoll arrangierte Bartkunstwerk nicht, so wie einst Sir Peter Ustinov als Hercule Poirot. Und auch ist Kenneth Branagh nicht so eine einnehmende, kernsympathische Wuchtbrumme wie der hochintelligente Brite, aber immerhin fast annähernd ein solcher Genussmensch. Die von Kultautorin Agatha Christie ersonnene Figur des belgischen Detektivs Poirot ist um Eckhäuser zugänglicher als der arrogante Sherlock Holmes, der nicht weiß wohin mit seiner Hochbegabung. Poirot ist vor allem in den Filmen von John Guillermin und Guy Hamilton kein Kostverächter, und gleichzeitig ein akribisch denkender und stets beobachtender Mensch mit fotografischem Gedächtnis und einer Kombinationsgabe, die uns im Vergleich dazu jubeln lässt, wenn wir einfache Schlussrechnungen auf die Reihe bekommen. Kombinieren und Mörder finden, das können wir getrost anderen überlassen. Am Liebsten auch Miss Marple, die von Grand Dame Margarete Rutherford mit ihren weißen Locken und dem kuscheligen Knautschgesicht bis in alle Ewigkeit wegweisend besetzt wurde. Peter Ustinov war in seine Rolle ebenso unverwechselbar – ein anderer sollte diese Figur gar nicht mehr spielen dürfen. Doch Ustinov weilt in den ewigen Jagdgründen, und also müssen andere ran – sofern man noch die Muße hat, das bereits dreimal verfilmte Meisterwerk Agatha Christie´s tatsächlich nochmal zu bebildern.

Die meisten Leser und Kinogeher wissen, was es mit dem Mord im Orient-Express auf sich hat. Es ist längst kein Geheimnis mehr, auf was für eine unglaubliche Wahrheit der zwangsrekrutierte Detektiv inmitten schneeverwehter Landschaft da stoßen wird. Aus dieser Perspektive betrachtet ist die nun vierte Verfilmung unter der Regie des theateraffinen Briten Kenneth Branagh äußerst entbehrlich, und ganz ehrlich gesagt wollte ich mir das altbekannte Szenario nicht noch einmal geben. Fast muss ich zugeben, dass Christie´s berühmtestes Buch und all jene Verfilmungen, die es bereits gibt, Branagh Neuauflage ungefähr so notwendig machen wie Gus van Sant´s farblich durchwirktes Imitat von Psycho. Aber sei´s drum – die wirklich geniale, leicht klaustrophobische und tiefenpsychologische Mörderhatz ist längst nicht nur ein Krimi. Bei Mord im Orient-Express kann sich der Zuseher trotz der widrigen Umstände des Schauplatzes irgendwie geborgen fühlen. Was zu erwarten ist, passiert auch. Branagh´s Film ist wie ein Samstagnachmittag auf der Couch, wenn man beim Zappen zufällig auf einen Agatha-Christie-Krimi stößt und dabei hängen bleibt, weil einfach die Stimmung, das Setting und die Schauspieler vielleicht ein bisschen an die zweite Dekade der Kindheit erinnern. Oder eben Reize auslöst, auf welche sich enorm kribbelige Gemütlichkeit einstellt. Das ist die eine Sache, die die Story immer wieder sehenswert macht. Die andere ist die, das hier ausnahmsweise Quantität tatsächlich gleich Qualität ist – nämlich die illustre Besetzungsliste, die sich liest wie die Sitzordnung eines Tisches bei der Oscarverleihung. Publikumslieblinge wohin man blickt – sogar „Jedi“ Daisy Ridley zwängt sich ins Abteil, Willem Dafoe gibt den Österreicher und Judi Dench ist sowieso die angenehm versnobte Grand Dame, die eigentlich bei keiner Agatha-Christie-Verfilmung fehlen sollte. Der, von dem wir vielleicht am Ehesten noch die Nase voll hätten, wäre Johnny Depp, aber der ist ja bekanntlich das Opfer und segnet das Zeitliche nach rund einer halben Stunde. Dafür legt Michelle Pfeiffer einen ehrwürdigen Auftritt hin. Und der rote Kimono fehlt auch nicht – den kennen wir schon aus den Vorgängerfilmen.

Der ganze Film ist ein elegantes, kurzweiliges Déjà-vu in opulent-nostalgischen Bildern und keinerlei Innovation, aber einem penetrant schnauzbärtigen Kenneth Branagh in der Titelrolle, der seine Sache allerdings souverän hinbekommt und den Gehirnakrobaten Poirot tatsächlich wiederauferstehen lässt. Natürlich, Ustinov ist er keiner. Aber das muss er auch nicht. Worauf Branagh aber Wert legt, ist die psychologische Tiefe der Geschichte. Das Motiv ist, worum es hier geht, weniger der Weg der Wahrheitsfindung. Das Ensemble schlittert und entgleist fast so wie der Zug in eine diffuse Schneeverwehung der Gerechtigkeit – in eine Grauzone aus Recht, Rache und Genugtuung. Ein Aspekt, der in keinen Agatha-Christie-Romanen je wieder so ambivalent und diskussionsanregend zu Tage tritt. Hätte ich einen Mustache wie Poirot, hätte ich ihn mir beim Abspann des Filmes womöglich nachdenklich gezwirbelt.

Mord im Orient-Express

Legend

SIE KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN SICH

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legend

Eigentlich hätten sie das alle gar nicht verdient. Niemand von ihnen. Weder Al Capone, noch Jack the Ripper, noch Carlos der Schakal noch sonst irgendeiner dieser Brüder und Schwestern, die unter der Flagge des urbanen Terrors, der Korruption, des Machtmissbrauchs und des Mordes zu zweifelhaftem Ruhm gelangt sind. Ihnen allen mit Millionen an Produktionskosten, die unter anderem auch Steuergelder sind, ein filmisches Denkmal zu setzen – diese Ehre und diese Aufmerksamkeit sollte diesen Herrschaften niemals zu Teil werden. Rein theoretisch. Und vor allem moralisch. Doch wie wir bereits aus der Geschichte und auch aus der Popkultur gelernt haben – die bösen Buben und Mädchen, die Schurken und Unruhestifter, hatten immer schon viel mehr Showappeal, waren immer schon allein charakterlich interessanter, facettenreicher und fantasievoller. Eckiger, kantiger, emotionaler – vor allem furchteinflößender. Und Furcht muss man bannen. Böse Buben und Mädchen mag man sehen, diese Figuren lösen Gefühle aus, die die Guten niemals auszulösen imstande wären.

Zwei dieser Anti-Größen der britischen Unterwelt waren die berüchtigten Gebrüder Kray Ronnie und Reggie, die, ausgehend in den 50ern, bis in die frühen 70er Jahre hinein ihr Unwesen getrieben haben. Ihr unrühmliches Handwerk hat von Entführungen bis hin zu Mord alles beinhaltet, was man sich nur vorstellen kann. Dabei waren die Zwillinge unterschiedlicher wie Feuer und Wasser. Der eine, Reggie, war ein Frauenheld, charismatischer Finsterling und gewaltbereiter Wüstling. Der andere, Ronnie, ein psychisch kranker, unberechenbarer Gewalttäter, der das Geschäft und den Erfolg der beiden des Öfteren gefährdet hat. Sie waren zwar unzertrennlich, aber auch von gegenseitigem Hass getrieben. Mit anderen Worten: Familie kann man sich nicht aussuchen. Somit war der Klügere, bedächtigere der Beiden der ungewollte Aufpasser seines Bruders, was nicht selten in einer Keilerei endete. Dieses Kunststück, beiden bizarren Charakteren der Kray-Familie Leben einzuhauchen, gelingt dem neuen Mad Max Tom Hardy eigentlich mit Bravour. Der britische Schauspieler besitzt eine ganz eigene Art, abgründigen Persönlichkeiten eine Aura zu verleihen, die bis jenseits der Leinwand hinauswirkt. So gefiel er auch als einfältiger Krimineller in The Drop an der Seite von James Gandolfini – oder auch als Lederstrumpf-Bösewicht in Inarritu´s The Revenant – spätestens dafür hätte er bereits einen Oscar kassieren sollen, mehr noch als DiCaprio. Und mit Legend hat er zweifellos eine weitere Rolle gemeistert, noch dazu eine Doppelrolle.

Der Film selbst bleibt Durchschnitt. Die Chronik der Unterwelt erzählt sich wie ein klassisches, gediegenes Hollywoodmelodram mit einigen Gewaltspitzen und könnte auch aus den 50er Jahren stammen. Naheliegend, dass dies Absicht gewesen ist. Schon alleine, um dem verrauchten, Hüte- und Mäntel tragenden Setting gerecht zu werden. Sucker Punch-Girlie Emily Browning sehen wir hier in ihrer bislang stärksten Rolle, obwohl sie Schwierigkeiten hat, der verlangten Intensität ihrer Figur gerecht zu werden. So bleibt Legend ein biografisches Gangsterepos ohne Überraschungen, aber mit psychologisch durchdachtem, differenziertem Schauspiel. 

 

Legend