The Holy Boy (2025)

DEN SCHMERZ UMARMEN

9/10


© 2025 Vision Distribution

ORIGINALTITEL: LA VALLE DEI SORRISI

LAND / JAHR: ITALIEN, SLOWENIEN 2025

REGIE: PAOLO STRIPPOLI

DREHBUCH: JACOPO DEL GIUDICE, PAOLO STRIPPOLI, MILO TISSONE

KAMERA: CRISTIANO DI NICOLA

CAST: MICHELE RIONDINO, GIULIO FELTRI, PAOLO PIEROBON, ROMANA MAGGIORA VERGANO, SERGIO ROMANO, ANNA BELLATO, SANDRA TOFFOLATTI, GABRIELE BENEDETTI, ROBERT CITRAN, DIEGO NARDINI U. A.

LÄNGE: 2 STD 2 MIN 


Man kann nur hoffen. Hoffen und beten, dass The Holy Boy demnächst die Chance bekommt, das Licht der großen Leinwand zu erblicken. Ein Jammer, wenn dem nicht so wäre, schließlich sollte ein Wunderwerk nicht nur das Nischenpublikum des Slash-Filmfestivals in seinen Bann gezogen haben, sondern auch alle darüber hinaus, die sich mit den großen Fragen des Menschseins beschäftigen. Was The Holy Boy (Original: Im Tal des Lächelns) erörtert, ist nichts, was sich zwischen Tür und Angel in einem Smalltalk erledigen lässt. Hier dringen die bohrenden Fragen nach dem Sinn und Zweck von allem tief in die Dunkelheit vor, um am Ende einen leuchtenden Funken Erkenntnis zu erblicken, den damals schon der Mann aus Nazareth entzündet hat. In diesem Funken steckt das essenzielle Credo einer weltumspannenden Glaubensgemeinschaft, es ist die Rede vom Leiden in dieser Welt, das es zu ertragen gilt.

Fühlt sich gut an 

Nun gut, ich ahne schon, spätestens jetzt dürfte ich wohl alle meine Leserinnen und Leser verloren haben, die mit den Themen Kirche und Religion so gut wie gar nichts anfangen können. Das würde dann , so hoffe ich, nicht jene betreffen, die eine agnostische Herangehensweise an diese Krux zu ihrem Modus Operandi erklären, sprich: die gerne die Kirche ums Kreuz treiben und, wenn es schon der Pabst nicht versucht, die Gegenwart mit den leider gar nicht zeitlosen Dogmen in Einklang bringen wollen. Der beste Stoff, den es da zu inhalieren gibt, dürfte eben jener Film sein, der durch die Hintertüre die Bühne streithafter Exegesen entert. Bibelfest muss man dabei aber wahrlich nicht sein, viel eher reicht das Bewusstsein, dass Glaubensgruppierungen in jedweder Form dazu missbraucht werden können, zum Opium für das Volk zu werden, zur Droge, die Tür und Tor öffnet für Manipulation und Gehirnwäsche. Irgendwann erkennt man sich dabei selbst nicht mehr, so, als wäre man gesteuert durch ein machtvolles System, das beim Triggern die ganze Klaviatur der Perfidität beherrscht. Doch was soll man tun, wenn der inszenierte Glaube die ersehnte Entlastung bringt, den Kummer wegbläst und den Geist ganz still werden lässt.

Big Hugs als Schmerzmittel

Ein Wunder ist also nicht nur der Film, sondern auch die seltsame Begebenheit in dieser punktgenauen Betrachtung einer Gesellschaft, die, stellvertretend für die gesamte Menschheit, die Schwermut des Lebens gegen eine Umarmung tauscht. Dabei reicht nur eine einzige, um zumindest eine Zeit lang sorgenfrei und unbekümmert und mit einem Lächeln auf den Lippen Gott einen guten Mann sein zu lassen. Diesen „Big Hug“ holen sich die Bewohner einer norditalienischen Kleinstadt bei einem blutjungen Jesus-Ableger, der gerade mal 15 Lenze zählt und unter elterlicher Strenge tagtäglich seine Wundertaten vollbringen muss. Einmal berührt, schon erstrahlt das Rundherum heller. Diese seltsame Erfahrung macht auch Sportlehrer Sergio (Michele Riondino), der nur vorübergehend einen Job in der örtlichen Schule annimmt, allerdings schwer an ganz eigenen privaten Problemen zu kauen hat. Sobald er aber bei Matteo in den Armen liegt, scheint die Bibel doch recht gehabt zu haben. Oder doch nicht? Gilt es nun doch nicht, den Schmerz zu umarmen, sondern sich dessen zu entledigen, ohne jemals damit durch zu sein und neu daraus zu erwachsen? Wo bleibt die Katharsis?

Seelenheil um jeden Preis

Was dann folgt, ist ein Twist, der das Sinnbild des barmherzigen Samariters so sehr demontiert wie Martin Luther den Ablasshandel, bevor die Reformationskriege begannen. Was die Ignoranz nicht nur der biblischen Weisheit gegenüber, gepaart mit Bigotterie, Selbstsucht und Missbrauch, gemixt als toxisches Potpourri, zuwege bringt, eröffnet eine Apokalypse im Kleinen, ein grimmiges Gleichnis in pompösen, geradezu mächtigen Bildern – sakral, expressiv wie ein Tanztheater, abgründig wie eine Alien-Invasion, die man nicht kommen sieht und erst dann begreift, wenn alles zu spät ist. Dabei fischt Regisseur Paolo Strippoli nicht nur im Genre des Horrors, sondern vorwiegend im Tragödienhaften epischer Stoffe. Durch die dramatische Dichte an Wendungen bäumt sich The Holy Boy zu einem gespenstischen, hochintelligenten Lehrstück auf, das die Leidensfähigkeit des Menschen gleichsam hinterfragt und verfechtet. Ein radikales Wunder von Film ist hier gelungen, unerbittlich, hochemotional und durchdacht bis zum Ende.

The Holy Boy (2025)

Veni Vidi Vici (2024)

DER PAPA WIRD’S SCHON RICHTEN

6/10


VeniVidiVici© 2024 Ulrich Seidl Filmproduktion


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2024

REGIE: DANIEL HOESL & JULIA NIEMANN

DREHBUCH: DANIEL HOESL

CAST: LAURENCE RUPP, URSINA LARDI, DOMINIK WARTA, JOHANNA ORSINI, MARTINA SPITZER, MARKUS SCHLEINZER, MANFRED BÖLL, CHRISTOPH RADAKOVITS, BABETT ARENS U. A.

LÄNGE: 1 STD 26 MIN


Der Papa wird‘s scho richten, das g’hört zu seinen Pflichten… Dass die Oberen über dem Gesetz stehen, besang schon Helmut Qualtinger. Dabei ist Reichtum prinzipiell keine Schande. Reichtum allein macht noch niemanden zum Bösen. Reichtum allerdings, frei nach dem geläufigen Zitat „Wer zahlt, schafft an“, ist das wohl beliebteste Machtmittel, um in der Gesellschaft so hochzusteigen, dass alle anderen unten bleiben. Ist man mal im Olymp derer angekommen, die alles haben und noch viel mehr, ist die Versuchung groß, diese gottgleiche Freiheit dafür zu nutzen, gleich die ganze Welt an den hauseigenen Tropf zu hängen. Am süchtigsten wird dabei die Politik, oder jene, die glauben, den Krösus für sich instrumentalisieren zu können. Das wird nicht gelingen, viel eher ist es umgekehrt, und wir sehen, wohin diese Sache mitunter geführt hat. Als Paradebeispiele sind unter anderem Helmut Elsner, Karl-Heinz Grasser oder der von der Slimfit-Entourage hofierte Rene Benko zu nennen, der jetzt, nach all dem Desaster um sein verschachteltes Imperium, immer noch mit genug Mammon dastehen wird, um ein sorgenfreies Leben zu führen. Draufzuzahlen haben immer nur die Kleinen. Oder jene, die viel lieber für Vermögenssteuern plädieren würden als nur irgendetwas mit dieser weltfremden Haute Volée zu tun haben zu wollen. Leute wie Amon Maynard, welchem Laurence Rupp in der Gesellschaftssatire Veni Vidi Vici ein fast kindlich naives, unbekümmertes und jedem Zweifel erhabenes Gesicht gibt, gehen im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen. Dort, in dieser urösterreichischen Welt aus Freunderlwirtschaft, astreiner Korruption und Postenschacher, zählt die Jagd zu den Lieblingsbeschäftigungen des Multimilliardärs. Nur: Einem Tier kann der reiche Bonze niemals etwas zu leide tun. Dann wohl schon eher der eigenen Spezies. Nach diesem wenig humanistischen Motto entspannt sich das verzerrte Benko-Imitat beim Abknallen wildfremder Menschen.

Ein Verbrechen? Natürlich ist es das, und jeder weiß, dass Maynard dahintersteckt. Das Problem dabei: Maynard aus dem Verkehr zu ziehen würde schließlich für Politik und Wirtschaft bedeuten, an Einfluss zu verlieren. Denn Maynard ist viel zu wichtig, um ihn zu belangen. Macht geht über Menschenrechte, Justitia ist wieder mal blind und jene, die versuchen, dieser Gottheit, die in den hallenden Hallen des Olymps residiert, das Handwerk zu legen, sind auch nur schwache Geister im Angesicht der Verführung.

Bitterböse will Veni Vidi Vici sein, der sich selbst in Veni, Vidi und Vici teilt. Man kann davon ausgehen, dass das lateinische Wort Vici am Ende wohl nicht hinterfragt werden wird. Man kann davon ausgehen, dass, wenn die Ulrich Seidl Filmproduktion dahintersteht, wohl kaum Kompromisse eingegangen werden, wenn es heisst, eine kritische Agenda zu verfolgen, die den Hass auf all die manipulativen Reichen schürt, die sich erlauben können, am System herumzudrehen. Sieht man die ganze reiche Familie, die lieber falsche als keine Moral besitzt, die sich in NS-Zeiten auf Kosten der Verfolgten wohl gesundgestoßen hätte und kein Gewissen kennt, wünscht man ihnen das Unglück. Daniel Hoesl und Julia Niemann lassen Laurence Rupps Überfigur eines Hoffmansthal’schen Jedermanns mit dem Dilemma der Unberührbarkeit hadern. Er verübt seine Verbrechen, nicht nur weil es geht, sondern auch, weil er darf. Die Hölle sind auch hier die anderen, die Maynard erst zu dem gemacht haben, der er ist. Veni Vidi Vici zeigt die Schwäche des Menschen am Ende der Nahrungskette. Das alles ist berechtigt, es darzustellen.

Das Problem an diesem Film jedoch ist, dass Hoesl und Niemann die Zügel oft lockerlassen und ihre „Vorzeigefamilie“ auf gewisse Weise bewundern. Politik und die einflussreiche Gesellschaft bleiben in ihren Methoden vage, die Kritik bleibt unbeherzt und fast etwas duckmäuserisch. Mitunter blitzt die Radikalität im Film auch auf, die meiste Zeit aber werden genau jene Figuren, auf die es ankommt, kaum herausgefordert. Ans Eingemachte geht es nie, der Papa wird alles schon richten. Veni Vidi Vici erlangt dabei keine Tiefe, schon gar nicht, wenn es kaum etwas gibt, wodurch das Biotop kippen könnte. Die Energie des Hasses auf die Reichen verpufft, am Ende bleibt die Resignation.

Veni Vidi Vici (2024)

Der Schacht (2019)

DRUNTER UND DRÜBER

7/10


derschacht© 2020 Netflix Österreich


LAND / JAHR: SPANIEN 2019

REGIE: GALDER GAZTELU-URRUTIA

BUCH: DAVID DESOLA, PEDRO RIVERO

CAST: IVÁN MASSAGUÉ, ANTONIA SAN JUAN, ZORION EGUILEOR, EMILIO BUALE, ALEXANDRA MASANGKAY U. A.

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Wie kommt der Hunger in die Welt? Der Schweizer Globalisierungskritiker Jean Ziegler hat mit genau diesem Titel ein Buch an seinen Sohn geschrieben, da sich dieser nicht erklären konnte, wie es so viel Ungerechtigkeit auf Gottes Erden geben kann. Der spanische Science-Fiction-Film Der Schacht erklärt die Grunddynamik der Klassengesellschaft und ihre Folgen auf eine vermutlich viel simplere Art, dafür aber kontrastreich genug, um im Gedächtnis zu bleiben. Der Schacht (auf englisch: The Platform) ist allein schon aufgrund seiner genialen Idee ein denkwürdiges Ereignis – ein Kammerspiel zwischen menschengemachten Horror und surrealer Satire.

Die Kammer, in der das Ganze spielt, könnte einem Drama des absurden Theaters von Beckett oder Ionesco als dramaturgischer Unterbau gereichen. Vielmehr ist es eine Art Turm (wir wissen nicht, ob dieser unter- oder oberirdisch errichtet wurde) mit scheinbar unendlichen Ebenen, die weder Aus- noch Einstieg besitzen, die jeweils ungefähr quadratisch groß sind und in der Mitte eine Aussparung besitzen, durch welche täglich eine Plattform vorbeirauscht, die, beladen mit den köstlichsten Speisen, die man sich nur vorstellen kann, den Freiwilligen oder unfreiwilligen Teilnehmern den Magen füllt. Allerdings gibt es da ein kleines Problem: Die oberen Ebenen, beginnend bei 1, können sich noch die Bäuche vollschlagen, während die jeweils darunter liegende Kammer nur das bekommt, was die obere übriggelassen hat. Man kann sich also vorstellen, wie es, sagen wir, Ebene Nummer 48 ergeht – oder gar Ebene 100. Die müssen sehen, wie sie überleben, denn da ist außer abgenagten Knochen und leergegessenem Gedeck nicht mehr viel übrig.

Goreng – einer, der mit dem Vertikalen Zentrum für Selbstverwaltung einen Deal ausgehandelt hat, um einen Studienabschluss zu bekommen, wacht eines Tages also auf Ebene 48 auf. Das ist zwar nicht so glücklich gewählt, als wäre man drüber, aber besser als drunter. Ihm gegenüber ein älterer Herr, der schon lange Zeit festsitzt. Jeden Monat erwachen beide auf einer neuen Ebene, die mal besser, mal schlechter sein kann. Ein Ding darf jeder mitnehmen, Goreng hat Don Quichotte, sein Mitinsasse ein Messer. Man kann sich denken, wohin das führt, sitzen beide mal tiefer. Denn die Nahrungsbeschaffung in der Not kann letztlich nur eines bedeuten.

Wer mit Kannibalismus im Film überhaupt nicht umgehen kann, sollte Der Schacht tunlichst meiden. Andererseits ist dieser blutige Umstand Teil eines höchst durchdachten Konzepts zur Veranschaulichung eines sozialen Gefälles und gleichzeitig eines Phänomens, dass die Satten gieriger werden lässt und die Hungrigen verzweifelter. Dabei sollte der üppigst beladene Tisch für alle hier Anwesenden genug Essen zur Verfügung stellen, damit niemand mehr darben muss. Allein: Am menschlichen Verhalten scheitert es. Jesus wäre mit seiner wunderbaren Brot- und Fischvermehrung wohl gescheitert, hätte er den Korb durch die Reihen gehen lassen. Solidarität ist ein rares Gut. Warum teilen, wenn man selbst nichts davon hat? Altruismus ist nicht leicht zu verstehen.

Der Schacht ist zynisch, brutal und pessimistisch. Aber nicht ganz hoffnunsglos, obwohl der Streifen versucht ist, die Hoffnung auf den besseren Menschen aufzugeben. Da ist ein Streben in diesem Film, ein Vorwärtskämpfen und der Wille zum Stürzen geltender Systeme. Auch das ist dem Menschsein inhärent. In seiner mit scharfer Klinge geschriebenen Dialogen und absurden Plot-Highlights so wie jenem, die Panna Cotta als Botschaft des Umbruchs zu erwählen, mag Galder Gaztelu-Urrutias Film seine im Widerspruch zur klinischen Kulisse archaische Gewalt und deftige Exzesse manchmal zu sehr entarten zu lassen – im Grunde aber bleiben diese Elemente Teil einer höheren Bedeutung, nämlich die einer lustvollen bis gar leidenschaftlichen Zurschaustellung der Gier, der Macht und des Eigennutzes. Da dies so hell und klar durch den Schacht strahlt, lässt sich die Hölle ertragen, solange die Suche nach der Erlösung anhält.

Der Schacht (2019)

Du lebst noch 105 Minuten

MORD AUF DRAHT

6,5/10


sorry-wrong-number© 1948 Warner Bros. Studios


LAND / JAHR: USA 1948

BUCH: LUCILLE FLETCHER, NACH IHREM HÖRSPIEL

REGIE: ANATOLE LITVAK

CAST: BARBARA STANWYCK, BURT LANCASTER, ED BEGLEY, ANN RICHARDS, WILLIAM CONRAD U. A. 

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Das ukrainische Multitalent Anatole Litvak hat noch in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts einen Film gedreht, der so heutzutage nicht mehr funktionieren würde. Das Handicap von damals: das Festnetztelefon fernab günstiger Tarife. Aber was heißt Festnetztelefon – wenn’s doch nur das gewesen wäre. Barbara Stanwyck muss sich hier als herzkranke Industriellenerbin über die Hürden der Vermittlungsdamen hieven, die da, aufgefädelt wie Perlen an einer Kette – bedürftige Telefonierer in alle Welt zu verbinden hatten. Was für ein Job – den gibt es zum Glück auch nicht mehr. Mit Smartphones hätten Barbara Stanwyck und der blutjunge Burt Lancaster zumindest über entleerte Akkus und verlegte Devices stolpern können, doch der nostalgische Reiz von Wählscheibe und separiertem Sprechteil ginge natürlich flöten. Das wäre schon ein Film fürs technische Museum, Schauraum Fernsprechgeschichte. 

Der Leinwandstar von damals harrt also, in Habtacht-Position neben dem Apparat, dem Kommen ihres Gatten, der allerdings ausbleibt – und dem auch leider nicht in den Sinn kommt, seine bessere Hälfte über sein Fortbleiben zu informieren. Stanwyck versucht, Gott und die Welt an den Hörer zu bekommen. Letzten Endes muss sie sich mit zwei fremden Stimmen begnügen, deren Gespräch sie belauscht. Dabei kommt ihr Schreckliches zu Ohren: die beiden planen einen Mord. Und nicht nur irgendeinen, sondern einen Mord an einer unbekannten Dame, die anscheinend allein zu Hause sitzt. Um Viertel nach Elf soll das Kapitalverbrechen grünes Licht bekommen – bis dahin haben wir – so sagt uns der Filmtitel – 105 Minuten! Der bettlägerigen Barbara dämmert leise ein Verdacht… gar nicht gut fürs schwache Herz.

Zugegeben, Du lebst noch 105 Minuten (im Original: Sorry, Wrong Number) ist kein Hitchcock und nimmt sich trotz seiner knappen Spielzeit von 88 Minuten (da hätte man locker für den Echtzeit-Faktor 105 Minuten herausschlagen können) aufgrund einer gewissen Dialoglastigkeit doch so manches Mal die Eigendynamik und wäre fast ein bisschen schal. Hätte Litvak – oder eben Lucille Fletcher, die Autorin sowohl des zugrundeliegenden Hörspiels als auch des Drehbuchs, nicht die Idee gehabt, eine Geschichte zu erzählen, die eigentlich fast nur aus (leicht verwirrenden) Rückblenden besteht. Dabei ist es mit einer Zeitebene zurück nicht getan – Litvak eröffnet noch eine. So ein Konstrukt fiel mir zuletzt in der spanischen Psychogroteske Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden auf. Auch hier erzählten einzelne Figuren von Figuren, die wiederum von Figuren erzählen. Und Regisseur Aritz Moreno schraubt sogar noch eine Zeitebene runter. Du lebst noch 105 Minuten begnügt sich mit drei solcher Ebenen, was den Film schön genüsslich im Sud möglicher Motive fischen lässt, die vielleicht eben auch Burt Lancaster betreffen, der hier noch am Anfang seiner Karriere stand und entsprechend hölzern agiert.

Wie in den damaligen Krimis, inspiriert durch das Suspense-Kino Hitchcocks, handelt auch dieses gewiefte Drama von Psychospielen und inszenierten Abhängigkeiten, von Macht und Ohnmacht zwischen Mann und Frau. Der Spannungsfaktor kommt da etwas zu kurz – die fatale Psychologie dahinter jedoch nicht. Mehr Melodram als Thriller also, dafür aber eine runde Sache, die ihr Dilemma konsequent auserzählt.

Du lebst noch 105 Minuten