Oslo Stories: Sehnsucht (2024)

FREIHEIT IN GEDANKEN UND TATEN

8/10


© 2024 Alamode Film


ORIGINALTITEL: SEX

LAND / JAHR: NORWEGEN 2024

REGIE / DREHBUCH: DAG JOHAN HAUGERUD

CAST: JAN GUNNAR RØISE, THORBJØRN HARR, SIRI FORBERG, BRIGITTE LARSEN, THEO DAHL, NASRIN KHUSRAWI, VETLE BERGAN, ANNE MARIE OTTERSEN U. A.

LÄNGE: 2 STD 5 MIN


Wie es der Norweger Dag Johan Haugerud schafft, Gespräche zu inszenieren, als würde er im realen Leben und völlig unbemerkt Leute dabei beobachten, wie sie sich mit ihren Problemen und Unsicherheiten auseinandersetzen – das geht schon jetzt als denkwürdiges Beispiel natürlicher Dialogführung in die Geschichte des europäischen Kinos ein. Seine Trilogie SehnsuchtTräumeLiebe (im Original wird nur Teil eins mit Sex betitelt) beinhaltet hochkomplexe Gedankengänge und Situationsbeispiele, die durch das zwischenmenschliche Gespräch sozialphilosophische Dimensionen erreichen und dabei minimal-invasiv in die Tiefe gehen, ohne das Volumen des Erzählten unnötig aufzublasen oder zu pathetisieren.

Haugerud appelliert in seinen Filmen an die Vernunft, an die Zivilisiertheit, an die befreiende und erklärende Wirkung der Aussprache. Dialogfilme mag man mitunter vielleicht langweilig finden – doch niemals so in den Oslo Stories, welche die Hauptstadt Norwegens anders betrachten als es ein Reiseführer tun würde – vielmehr ist Oslo auch nur eine grundlegende gemeinsame Bühne für Menschen, die nicht nur ihre sexuelle Identität suchen, sondern vor allem auch eine Form der Selbstbestimmung, die sie im sozialen Kosmos einer Beziehung nicht verlieren möchten. Egal, wer in dieser Trilogie über seine Bedürfnisse stolpert und nicht absehen kann, in welche Richtung ihre Entscheidungen führen  – sie alle streben danach, ohne Schamgefühl authentisch zu bleiben. Verwechseln werden es manche mit individueller Freiheit, deren Wert es in einer Welt des Miteinanders gilt zu reflektieren.

David Bowie und der Wert der Intimität

In Oslo Stories: Sehnsucht widmet sich Haugerud den Wertvorstellungen von Sex und Liebe. Auch hier, so wie in Oslo Stories: Liebe, stehen zwei Personen im Mittelpunkt, die sich selbst erkennen müssen, indem sie ihre Wahrnehmung, ihre Prioritäten und den Faktor Kompromiss neu bewerten. Seit Mary Poppins hat man keine Rauchfangkehrer mehr auf Dächern sitzen sehen. Zwei davon, die namenlos bleiben, sind gut miteinander befreundet, und zwar so sehr, dass sie sich alles erzählen – ihre Träume und eben auch ihre sexuellen Abenteuer. Ein solches hat einer der beiden erlebt, einer, der von sich behauptet, heterosexuell zu sein, und sich dennoch auf Sex mit einem Mann eingelassen hat. Einfach, weil er so etwas noch nie gemacht, weil es seinen Horizont erweitert und ihn auf gewisse Weise auch erregt hat. Dessen Ehefrau steckt diese Untreue nicht ganz so gut weg, da schließlich Sex aus ihrer Sicht ein Akt höchster Intimität darstellt, die sich nur Liebende teilen. Diese unterschiedliche Auffassung führt zu tiefgehenden Gesprächen über Vertrauen, Machtgefüge und den Regeln des Miteinanders, die man aus Liebe bereit ist mitzutragen. Der Freund dieses Mannes hat ganz andere Probleme, weitaus abstrakterer Natur. Dieser muss sich in seinen Träumen mit David Bowie herumschlagen, der ihn jedes Mal so ansieht, als wäre er weder Mann noch Frau, als würde er ihn ansehen um seinetwillen, vorurteilsfrei, bedingungslos, nichts einfordernd. Was das zu bedeuten hat, will er wissen. Und natürlich reflektiert er dabei auch seine sexuelle Identität, um letztlich zu ganz einer anderen Erkenntnis zu gelangen.

Es wird bei Betrachten dieses Films wohl kaum jemanden geben, der, sofern er sich in einer Beziehung befindet, sich selbst nicht an diesen Gesprächen mit seinen ganz eigenen Erfahrungen beteiligen könnte. Oslo Stories: Sehnsucht wirft so viele Fragen und Gedanken auf, dass man dieses Werk nicht einfach im Kino zurücklassen kann. Haugeruds erster Teil schenkt naturgemäß keine allgemeingültigen Antworten, nähert sich möglichen aber an, und zwar immer mehreren gleichzeitig, ohne universelle Lösungen zu generieren. So unterschiedlich und vielgestaltig das psychosoziale Leben auch sein kann, so unterschiedlich und vielgestaltig ist dieses präzise ausformulierte Drama in seinen Aspekten und Themen, die so essentiell sind wie die menschliche Existenz an sich.

Oslo Stories: Sehnsucht (2024)

Come on, Come on

DIE RESILIENZ JUNGER LEUTE

6,5/10


comeoncomeon© 2022 DCM


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: MIKE MILLS

CAST: JOAQUIN PHOENIX, WOODY NORMAN, GABY HOFFMANN, ELAINE KAGAN, JABOUKIE YOUNG-WHITE, KATE ADAMS U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Wenn der Onkel mit dem Neffen. Daniel Glattauer hat‘s vorgemacht. In seinem Anekdotenband Theo – Antworten aus dem Kinderzimmer hat sich der Schriftsteller die Sichtweisen seines Fast-Filius zu Herzen genommen, sie alle aufgeschrieben und ein Buch daraus gemacht. Das ist mal witzig, mal nachdenklich, zumeist äußerst komisch. Denn Kindermund ist eben was anderes als das, was die Erwachsenen so von sich geben. Dazu gehört auch die Sicht auf die Dinge und – ganz wichtig – die Frage, wie weit der Ereignishorizont zum Beispiel eines neunjährigen Buben reicht. Sind Klimawandel, Krieg und Covid wirklich etwas, dass in die Wahrnehmung eines Kindes eindringen soll und wenn ja, wie sehr? Herrschen da nicht ganz andere Prioritäten? Natürlich tun sie das. Mike Mills, der mit Jahrhundertfrauen ein meisterliches filmisches Essay über Frauenrollen des 21. Jahrhunderts entworfen hat, beschäftigt sich diesmal mit der Resilienz von unter 10- bis unter 20-Jährigen, die permanent dem Druck ausgesetzt sind, mehr Verantwortung übernehmen zu müssen als sie eigentlich bewältigen können.

Statt Daniel Glattauer und dem kleinen Theo sind es diesmal Oscarpreisträger Joaquin Phoenix und der entzückende Newcomer Woody Norman, den wohl so einige Filmemacher aus früheren Dekaden gerne gecastet hätten, wie zum Beispiel Spielberg oder Kubrick. Doch der Wuschelkopf mit dem seidigen Lächeln und einem versonnenen Blick auf die Welt heftet sich an die Fersen seines nicht weniger versponnenen, leicht gammelig wirkenden Onkels namens Johnny, der sich als Radiomoderator auf einer Tour durch die USA befindet, um Kinder unterschiedlichen Alters zu interviewen. Bei diesen Interviews geht’s meist um existenzielle Fragen, wie: Was kommt nach dem Tod oder wie sieht die Zukunft aus? Gut, das sind Fragen, die, wie schon erwähnt, jüngere Semester überfordern könnte, aber probieren kann man‘s ja. Der kleine Jesse, Johnnys Neffe eben, will auf diese Fragen erst gar keine Antwort geben. Seine Welt ist ohnehin eine, die bereits aus den Fugen geraten ist, nachdem sich Papa aufgrund psychischer Probleme von der Familie abgesondert hat. Da braucht einer wie Jesse nicht über die Probleme der Welt nachdenken oder über ein Leben nach dem Tod. Da reicht es, in der eigenen altersadäquaten Blase zurechtzukommen. Als Mama sich den Problemen des Vaters annimmt, kommt Jesse unter die liebevollen Fittiche von Johnny, der ihn alsbald mitnimmt nach New York und New Orleans.

Bei den Schwarzweißaufnahmen des Big Appels muss man unweigerlich an Woody Allens Meisterwerk Manhattan denken. Und auch so ist Come on, Come on (was sich auf das Weitermachen im Leben trotz aller unerwarteten Widrigkeiten bezieht) nicht weniger textlästig als die Filme des kleinen bebrillten Intellektuellen. Ausgeschlafen sollte man sein, denn sobald die ersten Minuten über die Leinwand flimmern, hören wir bereits Statements aus dem Off, allesamt geistreich und philosophisch. Wäre das ganze Filmprojekt nicht besser zu lesen gewesen? Doch, irgendwie schon. Vor allem deswegen, weil Mike Mills keiner wirklich tragenden Handlung folgt, sondern viel lieber in einer Anordnung aus tagebuchähnlichen Momenten verweilt. Dabei schneidet er Erinnerungsfetzen aus der Vergangenheit nahtlos in die Gegenwartserzählung ein, ohne diese stilistisch abzuheben. Entspannt ist das Ganze nicht, bisweilen gar recht sinnierend und auf den zweiten Blick schwermütig, als wäre Terrence Malick mit im Spiel. In diesem zeitlos scheinenden Zeitbild bleiben Phoenix und Norman stets aufeinander konzentriert. Da ist im Vorfeld der Dreharbeiten sicher viel passiert, um einander besser kennenzulernen. Das lässt sich spüren.

Come on, Come on gelingt der Fokus auf die Frage, was für Kinder relevant ist, trotz all der erratischen Erzählweise erstaunlich gut, wenngleich weniger Worte mehr gewesen wären. Eine inspirierende, liebevoll errichtete Studie, für die Phoenix sichtlich froh war, im Gegensatz zum Joker wieder ganz den kauzigen Eigenbrötler zu geben.

Come on, Come on

Die Wache

BEFRAGT GEJAGT

6/10


diewache© 2018 Diaphana Distribution


LAND / JAHR: FRANKREICH 2018

BUCH / REGIE: QUENTIN DUPIEUX

CAST: BENOÎT POELVOORDE, GRÉGOIRE LUDIG, MARC FRAIZE, ANAÏS DEMOUSTIER, ORELSAN, PHILIPPE DUQUESNE U. A. 

LÄNGE: 1 STD 11 MIN


Es gibt Situationen, da kommt es vor, dass ein Kommissar einen Affen befragt. So gesehen in David Lynchs Kurzfilm What did Jack do. In anderen Situationen wiederum genügt es, wenn der Zeuge eines Todesfalls zur Befragung auf die Wache zitiert wird. Das muss ja prinzipiell mal nichts Außergewöhnliches sein. Meist spitzt sich das, wenn man vor allem französische Thriller zu Rate zieht, zu einem verbal-spannenden Schlagabtausch zu, und die Lösung des Falls offenbart sich dann vor der dramatischen Kulisse eines Donnerwetters. Die Dinge laufen aber radikal anders, wenn einer wie Quentin Dupieux auf dem Regiestuhl sitzt, der noch dazu seinen eigenen Entwurf verfilmt. Und wir wissen: Dupieux hätte in Luis Buñuel oder in Eugène Ionesco seine wahren Freunde gefunden. Was der eine fürs Kino war, konnte der andere für sich verbuchen: Meister des Absurden, des Surrealen, der grotesken Komik und der obskuren Wendungen. Dupieux, der mit einem Bein auch als Musiker fest im Kunstbusiness steht, vertritt ein Genre, das wohl die wenigsten wagen würden: Absurdes Kino, das sich selbst genügt, und gar nicht als mehr verstanden werden will – außer, dass es das Reale durchbricht.

In der zeitlich genauso wie Monsieur Killerstyle knapp bemessenen Groteske sieht man anfangs einen nur in Unterhosen bekleideten Mann auf freiem Feld, der ein Orchester dirigiert. Kurze Zeit später wird dieser von der Polizei gejagt. Zur späteren Handlung trägt das nichts bei, doch damit ist zu rechnen, wenn man Dupieux‘ Filme kennt, in denen Autoreifen oder Lederjacken zu Killern mutieren. Wenig später hat Benoît Poelvoorde als Kommissar Buron einen Zeugen geladen, der vor seinem Wohnhaus einen Toten in einer Blutlache entdeckt hat. Neben der Leiche ein Bügeleisen. Wir erfahren in heillos abgleitender Verzettelung, warum der Befragte zu diesem Zeitpunkt siebenmal seine Wohnung verlassen hat. Schlauer wird das Publikum dabei nicht. Der Kommissar ebenso wenig. Und der Zeuge auch nicht. Der Abend ist lang, und je später es wird, umso zerfahrener wird die ganze Situation. Und es passieren Dinge auf dieser Wache, die den ausgehungerten Zeugen immer tiefer in eine Situation hineinreiten, deren Fassade durch eine radikale Wendung irgendwann zusammenbrechen muss.

Die Wache setzt sehr auf Dialoge, deren Gesprächspartner gerne und viel aneinander vorbeireden und sich permanent missverstehen. Auf den Punkt bringt hier niemand was, und dieses Aus-dem-Ruder-Laufen hat schon etwas richtig klassisch Bühnentaugliches. Auf diese Weise wirkt der Streifen trotz seines rücksichtslosen Irrsinns fast schon ein bisschen altbacken, wie eine Komödie aus den Sechzigern, in denen Filmnormen ja gut und gerne verdreht wurden. Statt Poelvoorde wäre die Rolle des Kommissars auch gut und gerne mit einem wie Louis de Funes besetzt gewesen, der sich im Klassiker Hasch mich, ich bin der Mörder mit Bertrand Blier als Kommissar in ähnlichen situationskomischen Momenten wiederfand. Auf diese Art des schrägen Humors nimmt Dupieux offensichtlich Bezug, verbeugt sich sogar. Und es wäre wohl eine Frage der Zeit, bis sich der Allrounder, der für diesen Film auch Kamera und Schnitt übernommen hat, auch mal auf der Theaterbühne sein Glück probiert. Die Wache würde im Grunde dort hingehören.

Die Wache

Das perfekte Geheimnis

BOHEMIENS IN DER HANDYFALLE

7,5/10

 

perfektegeheimnis© 2019 Constantin Film 

 

LAND: DEUTSCHLAND 2019

REGIE: BORA DAGTEKIN

CAST: ELYAS M’BAREK, KAROLINE HERFURTH, WOTAN WILKE MÖHRING, FREDERICK LAU, JELLA HAASE, JESSICA SCHWARZ, FLORIAN DAVID FITZ U. A. 

 

2016 kam ein Film aus Italien mit dem Titel Perfect Strangers ins Kino, der sehr süffisant mit den Irrungen und Wirrungen des Mobiltelefonzeitalters fabuliert. Neben anderen Remakes zu besagtem Original gabs dann auch in Deutschland letzten Herbst Das perfekte Geheimnis zu ergründen. Das Ergebnis: Ein Knüller an der Kassa – über 4 Millionen Besucher allein in der Filmheimat.

Unter Bora Dagtekins Regie wäre ein Kalauer-Zwischengang in Richtung Türkisch für Anfänger oder Fack ju Göthe zu befürchten gewesen. Eh ganz witzig, für die, die es mögen. Ist aber nicht meins. Dieser Abend allerdings, unter ehemaligen Kumpel-Jungs samt Anhang, die sich im Laufe ihres Coming of Age auseinandergelebt haben und plötzlich zu einem gemeinsamen Dinner aufschlagen, gestaltet sich anders als erwartet. Was also haben 4 Paare – oder sagen wir dreieinhalb Paare, weil Florian David Fitz kommt solo – wohl gemeinsam, ausser vielleicht die Freundschaft auf Facebook oder WhatsApp? Na eben genau das: und aus diesem technischen Spielzeug wird ein Spiel. Die Regeln sind ganz einfach: Alles, was an Nachrichten oder Anrufen eintrudelt, wird vor versammelter Menge veröffentlicht. Gut, würde ich mitspielen, wäre ich wohl die Spaßbremse. Und womöglich nicht nur ich. Doch für ein Filmkonzept wie dieses werden die Spitzen gebündelt – und es folgen saftige Enttarnungen und Enttäuschungen auf dem Fuß.

Mit Yasmina Rezas Gott des Gemetzels hatte Polanski 2010 Grundsatzkonflikte zwischen wildfremden Erwachsenen zelebriert. In Das perfekte Geheimnis sind es satte Lügen unter Bekannten, die aus einem erzwungen netten, oberflächlichen Abend eine Katastrophe machen. Tatsächlich gelingt der deutsche Kassenhit entschieden besser als Polanskis Film, obwohl oder gerade weil er versöhnlicher ist, vielleicht am Ende viel wohlwollender und den Zuschauer dabei nicht so ins Nichts entlässt. Für das Nichts ist sich das illustre Ensemble zu schade, will den Worst Case so gut es geht vereiteln und alles wieder auf Spur bringen. Das wäre natürlich nicht notwendig gewesen. Denn die besten Momente, die hat der Film dann, wenn klar wird, das gar nichts mehr zu retten ist, weder das Schokohuhn noch der gekippte Wein noch das Konstrukt eines Schwindels über sexuelle Orientierung, die erst recht den bigotten und vor allem selbstgerechten Verständnisbürger entlarven will. Das perfekte Geheimnis ist nur im ersten Augenschein eine Komödie, und hat rein gar nichts mit Schenkelkloper-Humor zu tun. Wie bei Reza schmettern auch hier die Dialoge durch den Ess- und Wohnbereich, viele Details gehen ob der Intensität des Verbalen manchmal verloren, doch das, worauf es ankommt, hat sein wortloses Vakuum, um zur Geltung zu kommen. Und dabei hat ein jeder und eine jede, von Jessica Schwarz bis zu Elyas M’Barek, seinen eigenen egozentrischen Quadratmeter, um angesichts dieser Gruppendynamik nicht seine Position zu verlieren. Das ist vollends geglückt in diesem Film: das Ensemble agiert umsichtig, niemand stiehlt dem anderen die Show. Keiner will der Leader sein, alle sind es gleichviel und gleich wenig – regietechnisch eine Herausforderung, die Dagtokin tatsächlich meistert. Und wie das mit der Smartphonitis, dem Genderwahn, Me Too und all den sonstigen gesellschaftlichen Headlines momentan so ist, bekommt das alles sein Fett weg, entdeckt dieses entlarvende Therapie-Dinner diese Zweierlei-Maß-Messung bei jeder und bei jedem.

Farewell Privatsphäre. Alles, was andere nichts angeht, wird zur Angelegenheit für andere, ein kleiner Zerrspiegel dieses wundervoll vernetzten Zeitalters, entschärft durch üblich Schlüpfriges und Frivoles, um mit Rotwangen-Pepp die Kritik an der urbanen Availability zu verniedlichen. Intrigen sucht man vergebens, böse meint es hier keiner. So gallig wie bei Albee oder Turrini verliert die Gesellschaft hier nicht ihre Hosen, dafür muss Das perfekte Geheimnis aber im Crowdpleasing ganz vorne sein. Was dem Film aber letzten Endes nicht zu sehr zur Last gelegt werden sollte. Im Gegensatz zum viel zu lose verweilenden Geplänkel Der Vorname oder Marie Kreutzers schwächelndem Was hat uns bloß so ruiniert, wo ebenfalls intellektuelle Alternativlinge am Ego- und Elterntrip die Spur verlieren, hat die weinselige Dramödie zwischen Handydrehen und stark alkoholisiertem Promi-Dinner mit Abstand die Nase vorn.

Das perfekte Geheimnis

303

LIEBE GEHT DURCH DEN WAGEN

5,5/10

 

303© 2018 Alamode

 

LAND: DEUTSCHLAND 2018

REGIE: HANS WEINGARTNER

CAST: MALA EMDE, ANTON SPIEKER, MARTIN NEUHAUS U. A.

 

Ab in den Süden! – Ich kann es kaum erwarten, bis Buddy vs. DJ the Wave wieder aus dem Radio scheppert, bis die Uhren endlich umgestellt sind und es langsam wieder nach Sommer riecht. Mit Ab in den Süden ist das Urlaubsfeeling in der Zielgeraden, da freut man sich, endlich ausbrechen und den ganzen Alltag hinter sich lassen zu dürfen. So wie die 24jährige Biologiestudentin Jule, die gerade ihre letzte Prüfung vor der große Pause versemmelt hat und sich nun mit einem Wohnmobil der Marke Mercedes Homer 303 aufmacht, ihren Freund zu besuchen, der in Portugal weilt und noch gar keine Ahnung davon hat, dass er womöglich Vater wird. Doch ganz sicher ist sich Jule da nicht – ob sie die Schwangerschaft nicht abbrechen soll? Kurz nach Berlin gabelt die junge Frau an einer Tankstelle den Tramper  Jan auf – ebenfalls Student, ebenfalls mit einem Projekt gescheitert, und eigentlich vaterlos. Sein unbekannter, biologischer Erzeuger, der weilt auch im Süden, und zwar in Spanien. Sommerferien sind also da, um das zu tun, was man irgendwie tun muss − wobei der Weg als Ziel eigentlich viel schöner ist als das, was wartet, wenn man ankommt.

Fatih Akin hat schon Anfang der 90er mit der Sommerkomödie Im Juli so ein launiges, verliebtes Roadmovie inszeniert, mit einer traumhaft quirligen Besetzung, und mit einer kurzweiligen Story, die nah an der hollywoodtauglichen Krimikomödie entlangflaniert. 25km/h, die Reise auf zwei Mofas Richtung Nordsee, war auch so ein Selbst- und Wiederfindungstrip. Und 303 – der liegt auch irgendwo auf dieser Schiene, nähert sich aber thematisch fast schon mehr den Dialogkomödien eines Richard Linklater an, insbesondere der Before-Trilogie, bestehend aus Sunrise, Sunset und Midnight. Ethan Hawke und Julie Delpy trafen sich da in Wien, Paris oder letztendlich in Griechenland, um einfach miteinander zu reden, Diskussionen vom Zaun zu brechen und an den Erkenntnissen zu wachsen. Das ist auch der Punkt, warum Linklaters Dialog-Trilogie in allen Teilen so gut funktioniert. Weil einfach die Chemie zwischen den beiden gestimmt hat – und beide auch bereit waren, ihren Standpunkt zu verändern, aus einem anderen Licht zu betrachten, sich selbst zu hinterfragen.

Die Chemie zwischen Mala Emde und Anton Spieker scheint erstmal auch zu stimmen. Beide Schauspieler lassen sich gut aufeinander ein, und sehr wahrscheinlich lief das Casting für diesen Film nicht getrennt voneinander ab, wie vielleicht bei Herzblatt. Die beiden mögen sich, das ist klar, zumindest nach dem zweiten Anlauf, denn beim ersten Mal hat Jan noch den Beifahrersitz räumen müssen, weil er bei Jule einen wunden Punkt getroffen hat. Gut aber, dass der Zufall es so wollte und beide wieder zusammengeführt hat. Und so tingeln sie quer durch Deutschland, Belgien, Frankreich und Spanien. Wir sehen, wie sie die offenen EU-Grenzen passieren, wenn der Kölner Dom oder rustikale französische Dörfer vorbeirauschen und das Meer zum Greifen nah ist. Während sie so von einer Landschaft in die nächste reisen, rund eine Woche lang, wird viel geredet, diskutiert und sinniert. Und genau darin liegt das Problem in diesem deutlich überlangen und auch viel zu langen Reisefilm vom Österreicher Hans Weingartner (Das weiße Rauschen, Die fetten Jahre sind vorbei). Sein mobiler Liebesfilm nimmt sich einerseits und vollkommen nachvollziehbar genügend Zeit, die Zuneigung der beiden füreinander langsam, aber stetig und glaubhaft wachsen zu lassen. Das ist das Kernstück, das tatsächlich auch so gemeinte Herzstück des Films – denn das Herz, das spielt hier eine große Rolle. Und was das Herz will, das, so wünscht man sich, soll es bei Jule und Jan auch bekommen. Andererseits aber sind die Dialoge nicht das, was sie sein sollten, da hätte Weingartner von Linklater mehr lernen sollen. Insbesondere bei den Gesprächen, die so aussehen sollen wie jene über Gott und die Welt. Wenn es um Suizid, Sexualität und Massenkonsum geht, wirken die Diskussionen so klischeehaft, vorbereitet und in den Mund gelegt wie durchkonzipiertes Schulfernsehen. Kann sein, dass Mala Emde und Anton Spieker hier aus dem Stegreif plaudern, aber wie Stegreif mutet das ganze nicht an. Eher wie eine Umfrage zu trendigen Jugendthemen. Da fehlt das Unmittelbare, das Aufgreifen des Gesprächs aus der Situation heraus. So hat man das Gefühl, einem Schulprojekt aus der Oberstufe beizuwohnen, das gerade mal ein Wochenende Zeit gehabt hat, sich stichwortartig die Fragen zu überlegen.

Liebens- und sehenswert sind die beiden ja trotzdem, und es sei ihnen das Glück in ihrem jungen Leben vergönnt, aber vielleicht bin ich diese Art der Twentysomething-Diskussionskultur schon durch und muss niemandem mehr meinen Standpunkt klarmachen. Weingartners Verliebte müssen das, und so ist sein Film auch durch den Eifer seiner populären, recht aufgepappten Topics ein reiner Jugendfilm, der weder überrascht, erstaunt oder Reibungsflächen bietet, der einfach nur  – und das kann er aber –- vom Gefühl einer Sommerliebe erzählt, und vom Alltag, den man gerne zurücklassen würde. Was aber nicht ganz klappt, denn die Hürden des Lebens sind mit dabei, wobei diese in 303 aber kleiner werden, sich anders verlagern oder von selbst lösen. Das ist wohl das, was das Reisen ausmacht – Distanz hinter sich und dem Status Quo zu bringen, während man sich neuen Horizonten auf der Landkarte und im Kopf zuwendet.

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