Nomadland

HEIMKEHREN NACH IRGENDWO

7,5/10


nomadland© 2020 20th Century Fox Studios


LAND / JAHR: USA 2020

BUCH / REGIE: CHLOÉ ZHAO

CAST: FRANCES MCDORMAND, DAVID STRATHAIRN, LINDA MAY, CHARLENE SWANKEY, BOB WELLS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Nomadland ist ein Western. Vielleicht ein Neo-Western, oder ein Spätwestern oder überhaupt ein Post-Millennial-Western. Aber ein Western. Dieses Bild des einsamen Cowboys oder Pistoleros oder Pioniers, der gegen den Sonnenuntergang reitet, immer weiter Richtung Pazifik. Der das ganze Land, all diese Wildnis dort in Nordamerika, sein Zuhause nennt. Umgeben von den Geräuschen der Natur und seinen Launen. Was für ein Mythos. Was für eine Romantik. Chloé Zhao gefällt das. Aber nicht dieses offensichtliche Bild, das ich hier  beschrieben habe. Sondern das Bewusstsein einer Nation dahinter, diese seit den alten Zeiten recht erfolgreich archivierte Gesinnung, die so oft mit Freiheit und allen möglichen Möglichkeiten verbunden wird. Dieses damit einhergehende, stereotype Bild der Männer und Frauen. Doch Chloé Zhao liebt ihr Land, in das sie emigriert ist; will das Nest, in dem sie selbst lebt, nicht beschmutzen; will auch niemanden, der scheinbar falsche Richtungen anpeilt, an den Haaren zurückhalten. Chloé Zhao will etwas nachspüren. Sie ist neugierig, wissbegierig. Will herausfinden, was diese Menschen antreibt, was sie straucheln lässt, wovon sie träumen, wohl wissend, diesen Traum niemals realisieren zu können.

Es ist zwar nichts faul, in diesem Staatenbund, zumindest aus Zhaos Sicht – aber nicht alles läuft nach Plan. Als Hemmschuh gilt der Mythos. Das war schon in ihrem beachtlichen, semidokumentarischen Spielfilm The Rider so. Das Draufgängertum des Rodeos; das toughe, unkaputtbare Männerbild des Westens. Nicht Indianer kennen keinen Schmerz, sondern der junge weiße Mann mit Hut und Halstuch. Ihr Blick darauf ist keiner des Mitleids, sondern des Mitgefühls. Zhao hält sich zurück, will beobachten, besetzt ihre Filme gerne mit Laiendarstellern oder mit genau den Darstellern, die diese ihre Geschichten tatsächlich erlebt haben. Viel Regie bedarf es dabei nicht – diese Menschen müssen nur sein, wie sie sind. Und Zhao bettet all das in eine Geschichte – die allerdings keinen Anfang und kein Ende hat, sondern Momentaufnahmen sind, mit ungewisser Zukunft.

In Nomadland hat Fern alias Francis McDormand (ausgezeichnet mit dem Oscar) ebenfalls einen Traum zu Grabe getragen, im Zuge ihrer existenziellen Not aber einen neuen ausgemacht – einen, der sich möglich und nicht verkehrt anfühlt, weil er dem Nationalbewusstsein entspricht. Sich dem Stolz der Pioniere bedient. So hat Fern also ihren Van, den sie sich recht kommod eingerichtet hat und mit welchem sie von einem saisonalen Job zum nächsten tingelt, quer durchs Land, durch die Prärie und durch die atemberaubend pittoreske Landschaft eines so reichen Kontinents. Sie trifft auf die Kommune der Nichtsesshaften, freundet sich mit urigen Originalen an, findet sogar etwas fürs Herz. Wir sehen den Alltag eines Lebensstils, der schon vor tausenden von Jahren als abgelegt gilt, den die Tuaregs noch praktizieren oder die Hirten der mongolischen Steppe. Nomadland ist ein in sich ruhender, unaufgeregter, sehr präziser Film, der völlig wertfrei einen Zustand widerspiegelt, der weder als trostloses Sozialdrama steht noch als idealisierte Aussteigerromantik. Von beidem hat McDormand etwas, unter beidem leidet und frohlockt sie gleichermaßen. Ihr Spiel ist ungekünstelt und zurücknehmend, direkt beiläufig – und ohne Scham vor kompromittierenden Alltagsszenen. Vielleicht hat ihr eben diese ungeschminkte, lockere Natürlichkeit den dritten Goldjungen eingebracht. Herausragend ist ihre Darstellung nicht, ungewöhnlich auch nicht. Dafür aber so angenehm normal. Diese Normalität sucht man im Kino fast schon vergeblich. Sowas kann McDormand. Und es könnte auch sein, dass sie und Zhao zu einem neuen Dreamteam werden, obwohl ich die Filmemacherin eher als jemanden einschätze, der viel lieber zu neuen Ufern aufbrechen möchte. Wie eben für den neuen Marvel-Film Eternals, der zu Weihnachten in die Kinos kommen soll. Auf ihren Filmstil, verbunden mit dem Disney-Franchise, kann man gespannt sein.

Nomadland ist vor allem auch in seiner Machart bemerkenswert. Zhao begleitet ihre Reisende rund ein Jahr lang, von Winter bis Winter. Und zeigt dabei sehr viel in sehr kurzen Szenen und Sequenzen, die aber, trotz des akkuraten Schnittstils, in ihrer Gesamtheit eine elegische, dahingleitende Ruhe ausstrahlen. Trotz der Umtriebigkeit, trotz der Rastlosigkeit ihrer Protagonistin. Mit Michael Glawogger hat Zhao einiges gemeinsam – vor allem wenn ich mir seinen letzten Film, Untitled, ins Gedächtnis rufe. Beide haben diese Kunstfertigkeit, über das Reale zu erzählen und sich dabei eines prosaischen Alphabets zu bedienen. Das gereicht zu einem geduldigen, wohlwollenden Beitrag für ein neues, altes Hollywood.

Nomadland

99 Homes – Stadt ohne Gewissen

DAS KALTE HERZ DES WESTENS

7/10


99homes© 2015 Wild Bunch Distribution


LAND / JAHR: USA 2014

BUCH / REGIE: RAMIN BAHRANI

CAST: ANDREW GARFIELD, MICHAEL SHANNON, LAURA DERN, TIM GUINEE, J.D. EVERMORE U. A.

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Mach nie die Tür auf, lass keinen rein – das rät zumindest die Erste Allgemeine Verunsicherung. Doch es hilft alles nichts. Auch wenn man in diesem Fall so tut, als wäre man nicht zuhause, sitzt man trotzdem bald vor selbigem, und zwar von einem Tag auf den anderen. Wir wissen: 2008 gab´s die Finanzkrise, und wir wissen auch, wohin das geführt hat: zum Platzen der sogenannten Immobilienblase. Sicherheiten waren plötzlich nichts mehr wert, Kredite nicht zahlbar, und Banken konnten sich nur noch damit retten, den Leuten das Heim unter dem Hintern wegzuziehen.

Was für eine schlimme Situation, die der alleinerziehende Bauarbeiter Dennis Nash da erleben muss. Es reicht nicht, dass der Mann den Job verliert – nein. Eines Morgens steht der Hausverwalter Rick Carver vor seiner Tür, flankiert von zwei hochmotivierten Polizisten und einer Entourage für die Drecksarbeit. Sind die Raten fürs Haus nicht mehr zahlbar, wohnt hier jetzt die Bank. Dabei muss die ganze Familie mitansehen, wie das komplette Interieur im Vorgarten landet. Doch so leicht lässt sich der arbeitswillige Jungvater nicht unterkriegen. In der Not bietet er Carver seine Dienste an, bleibt anfangs Mädchen für alles, um später genau das zu tun, was auch jener getan hat, der ihn und seine Familie vor die Tür gesetzt hat. Doch Moment! Genauer betrachtet ist ja nicht der Wohnungspfänder der Böse, sondern das Wirtschaftssystem dahinter. Genauer betrachtet wird aber auch klar, dass der schmierige Geschäftsmann Carver Mittel und Wege gefunden hat, selbst die Banken um ihren Vorteil zu prellen. 

Nirgendwo sonst als in den USA kann aus Alles plötzlich Nichts werden. Kann eine Existenz plötzlich scheitern. Nirgendwo sonst ist man auch dermaßen wenig vor Schicksalsschlägen abgesichert. Polizzen sind eine Sache fürs Establishment. Welches aber auch anderweitig vorgesorgt hat. Wie die schillernde Figur des Rick Carver eben. Will man solche Rollen wirklich treffsicher besetzen, klingelt´s womöglich bei Michael Shannon an der Tür. Der Mann ist prädestiniert für den charismatischen, kompromisslosen und über Leichen gehenden Typus, ein gelackter Influencer unter dem Herrn, ein Geschichtenerzähler und Einwickler. So kommt es, dass die Wirkung dieses Films fast ausschließlich auf seine Golferkappe geht. Und dabei ist es kaum vorstellbar, dass es Menschen gibt, die es tatsächlich anstreben, so sein zu wollen, und die es der Wirtschaft dort gutgehen lassen, wo man nicht so genau nachfragt. Ramin Bahrani setzt auch hier, so wie in seiner erst kürzlich auf Netflix erschienenen Buchverfilmung Der weiße Tiger  – die Chronik eines steinigen Wegs zum Wohlstand in Indien – seine abenteuerliche Identifikationsfigur auf Augenhöhe mit dem Zuschauer, die anfangs nichts, aber auch gar nichts hat und letztendlich alles haben könnte. Wie Peter Munk aus Willhelm Hauffs Das kalte Herz.

Und wie bei Hauff hat auch 99 Homes – Stadt ohne Gewissen ein ausgeprägtes Moralbewusstsein. Bahrani kann es natürlich nicht akzeptieren, die Welt auf diese Art sich selbst zu überlassen. Dafür ist er zu sehr Humanist, der erahnt, wie man leben soll. Diesen lehrmeisterlichen Gewissenskonflikt darf Andrew Garfield in diesem packenden Wirtschaftsthriller ganz alleine austragen – zwischen altklugen Weisheiten aus dem Munde Michael Shannons, der weiß, wies geht, und einem sozialen Bewusstsein, das selten in die Agenda des Erfolges passt.

99 Homes – Stadt ohne Gewissen

Sorry We Missed You

ACHSENBRUCH AM HAMSTERRAD

8/10

 

sorrywemissedyou© 2020 Filmladen Filmverleih

 

LAND: GROSSBRITANNIEN, BELGIEN, FRANKREICH 2018

REGIE: KEN LOACH

CAST: KRIS HITCHEN, DEBBIE HONEYWOOD, RHYS STONE, KATIE PROCTOR, ROSS BREWSTER U. A.

LÄNGE: 1 STD 41 MIN

 

Arbeiten wir, um zu leben? Normalerweise schon. Doch meist ist es so, dass ein Großteil der Menschheit nur lebt, um zu arbeiten. Diese ernüchternde Erkenntnis erlangt Ken Loach immer wieder, in all seinen Filmen. Und er lässt seine sozialen Verlierer nicht verschnaufen, er lässt sie schuften, bis sie umfallen. Und können sie mal nicht mehr schuften, so wie in Ich, Daniel Blake, dann verlieren sie alles, ihre gesamte Existenz. Da stellt sich wiederholt die Frage: wer genau duldet diesen Wahnsinn eines so abgewürgten Lebens? Das Wirtschaftssystem, denn geht es ihm gut, geht es allen gut. Und jene, die den Spagat zwischen Familie und Arbeit nicht bewältigen können, bleiben Einzelfälle, die durch den Rost fallen. Ist dem so?, fragt Loach. In Sorry We Missed You gibt der Filmemacher dem zweifachen Familienvater Ricky Turner die Chance, sich Gehör zu verschaffen. Doch worauf er stößt, sind tauben Ohren.

Diese verköpfige Familie Turner also ist Opfer der Finanzkrise 2008, lebt in einer recht heruntergekommenen Mietwohnung und macht das Beste daraus. Mama Turner arbeitet als Heimhilfe, die Kinder sind schulpflichtig, wobei der Sohn die Schulpflicht selbst nicht ganz ernst nimmt und lieber schwänzender Weise Graffitis auf leere Hausfassaden sprüht, und der Vater beginnt einen neuen Job als Paketauslieferer eines Franchiseunternehmens. Ob dies wirklich die beste Idee sein will, angesichts der ohnehin schon prekären finanziellen Situation? Selbstständig werden? Unter der Fuchtel eines Konzerns stehend, der die Auflagen vorgibt und keine Gnade kennt, falls es mal private Umstände erfordern sollten, daheimzubleiben? Hätte der Fachmann doch im Bauwesen einen neuen Job gesucht. Doch es geht ums große Geld, und das lässt sich als Paketbote kurzfristig lukrieren – wenn man´s richtig macht. Und keine Kids daheim hat, die das Leben erschweren.

Ganz klar: bei Filmen von Ken Loach hat niemand sein Happy End. Klar ist auch: Loachs Filme sind fast schon Reality-TV, schon alleine deshalb, weil der mehrfach ausgezeichnete Filmemacher selten professionelle Schauspieler besetzt, vielmehr Laiendarsteller, die vielleicht sogar einen ähnlichen Background aufweisen können wie ihre Filmfigur, und daher aus der eigenen Erfahrung schöpfen. Genau deshalb wirken die Darsteller in keiner Weise laienhaft – sie wissen, was sie erzählen müssen. Und entwickeln eine verzweifelte Wut, die Loachs Filme so intensiv machen. Sorry We Missed You zählt für mich tatsächlich zu einem seiner besten Werke, darüber hinaus auch zu einem der besten Filme zum Thema Menschen- und Arbeitsrecht. Das Drehbuch von Paul Laverty und Loachs unprätentiöser Blick in die Eingeweide einer Existenz vor der Kippe ist so dermaßen straff aufbereitet, dass gleich zu Anfang ein ungeheurer Druck herrscht. Ein Druck auf die Agierenden. Und nicht nur auf die – auch auf den Zuseher. Die Sogwirkung ist enorm, das Unheilvolle an jeder Ecke erahnend. Und immer wieder sei dem strudelnden Familienvater das Glück gewogen. Doch es wäre nicht Ken Loach, würden sich nicht komplexe Schwierigkeiten anhäufen wie all die Pakete im teuer erkauften Lieferwagen des Vaters. Mitleid ist nicht das richtige Wort für das, was man empfindet. Es ist auch kein Sozialvoyeurismus, der bei Dokusoaps vielleicht eher hervorgekitzelt wird. Es ist die plötzlich übergreifende eigene Angst vor einer entschwindenden Existenz, die so leicht hereinbrechen kann wie eine Finanzkrise oder der Corona-Lockdown. Und der Umstand, niemals einschätzen zu können, ob und wann es ganz anders kommen kann.

Sorry We Missed You – der Titel bezieht sich auf das Abwesenheits-Formular bei nicht überbrachten Paketen – erzählt auf so direkte und traurige Art von einem Achsenbruch in einem ohnehin schon bis zur Erschöpfung rotierenden Hamsterrad. Die nachkommende Generation, die bekommt ihre Eltern gar nicht mehr zu Gesicht. Sorry We Missed You könnten auch sie sagen. Auf ihre eigene, verzweifelte Art, am Ende des Sozialstaats.

Sorry We Missed You

Djam

RHYTHMUS DER STANDHAFTEN

6,5/10

 

djam© 2018 MFA

 

LAND: FRANKREICH, GRIECHENLAND, TÜRKEI 2018

REGIE: TONY GATLIF

CAST: DAPHNÉ PATAKIA, MARYNE CAYON, SIMON ABKARIAN U. A. 

 

Nichts hat er auf die Reihe bekommen, das Meiste improvisiert, und das hat dann schlussendlich doch geklappt: die Rede ist vom wohl berühmt-bercühtigsten Griechen in der Filmgeschichte, sehen wir mal von den Göttern und Halbgöttern des Olymps ab: Alexis Sorbas, grenzgenial verkörpert von Anthony Quinn. Und sein Tanz trotz all des Schlamassels am Ende des Films hat sogar einen völlig neuen Stil begründet: den Sirtaki. Vom Sirtaki ist die kokette Djam gar nicht so weit entfernt – ihr Steckenpferd ist der Rembetiko, eine den osmanischen Klängen verwandte Musikrichtung, die auch als der Blues Griechenlands bezeichnet wird. Tragische Inhalte, die von Liebe, Heirat und sonstigen Herzschmerz erzählen, melancholisch bis zum letzten Ouzo-Tropfen, allerdings aber auch von orientalisch-beschwingten Rhythmen durchzogen. Rembetiko – das ist Musik, da bleibt man laut STS wirklich irgendwann mal dort und steckt die Füße in den weißen Sand, grad weil es akustisch eben auch so anders ist als daheim.

Diese Djam also lebt auf Lesbos, direkt an der Grenze zur Türkei. Wir wissen natürlich, welchen schicksalhaften Stellenwert Lesbos in Sachen Flüchtlingskrise hat und ganz klar bleibt dieser tragische Faktor neben einigen anderen nicht unerwähnt. Die unangepasste Waise, die bei ihrem Onkel lebt, wird also von selbigem nach Istanbul geschickt, um Ersatzteile für das Ausflugsboot zu holen, das wieder flottgemacht werden soll, für den Fall, dass sich irgendwann doch wieder Touristen hierher verirren. Klar, dass Djam keinen straffen Zeitplan folgt, ganz im Gegenteil. Sie gabelt noch dazu eine völlig mittellose Französin auf, die auf dem Weg in ein syrisches Flüchtlingslager sitzengelassen wurde. Die beiden tun sich zusammen, vergessen Zeit und Ort und mit Musik geht fortwährend sowieso alles besser, und wo prinzipiell mal jeder die Flinte ins Korn wirft, wenn überall gestreikt oder sonst was wird, holt Djam ihre Instrumente hervor und trällert zwischen Grenzzaun und levantinischer Geschichte den Mut zum Weitermachen her.

Viel mehr ist in Tony Gatlifs Roadmovie gar nicht los. Muss es auch nicht, denn der gebürtige Algerier mit einem ausgeprägten Faible für richtig gute Volksmusik sucht den richtigen Klang für Momente, an denen Worte nicht mehr reichen, lässt Schauspielerin Daphné Patakia die Hüften schwingen und andere am Bouzouki schrummen. Gemeinsam setzen all diese Menschen, denen sowohl die Finanzkrise der Griechen oder das humanitäre Drama der Flüchtenden übel mitspielt, ganz auf Tradition, besinnen sich auf ihre Wurzeln, wollen durchhalten, solange die „Musi“ spielt. Gatlif, der 2005 für Exils den Regiepreis in Cannes gewonnen hat, ist mir mit seinem 2000 erschienenen, so feurigen wie temperamentvollen Film Vengo bis heute gut in Erinnerung geblieben. Djam entwickelt nicht ganz so ein Feuer und erweckt auch keine Sehnsucht nach dem Süden, zeigt Europa aber mal von einer ganz anderen Seite, nämlich mit dem Blick von der Ostküste her aufs Mittelmeer. Probleme gibt’s dort viele, irgendwann zählt nur mehr, woher man kommt. Und das lässt sich mit Klängen und Rhythmen am besten anpeilen, obwohl selbst diese berauschenden Rhythmen die gelegentliche Schwermut von Djam nicht ausgleichen können. Wer einen Sommerfilm erwartet, wird schaumgebremst – Gatlif verlegt seine kulturelle Reise in den mediterranen Winter, er filmt Schauplätze auf Lesbos, die alles, nur nicht touristisch verwertbar sind. Er zeigt die Grenze und die Verzweiflung, die Traurigkeit und den Trotz. Manchmal wirkt die Musik dabei fehl am Platz, aber vielleicht ist sie genau dann am besten platziert, wenn gar keinem danach ist, zu musizieren. Vielleicht braucht man dann die Musik am meisten. Wie bei Zorbas, dem Griechen, der plötzlich anfängt zu tanzen.

Djam

Bernadette

KREATIV DURCH DIE KRISE

6/10

 

bernadette© 2018 Universum Film GmbH

 

LAND: USA 2018

REGIE: RICHARD LINKLATER

CAST: CATE BLANCHETT, BILLY CRUDUP, KRISTEN WIIG, EMMA NELSON, JUDY GREER, LAURENCE FISHBURNE, STEVE ZAHN U. A. 

 

Da sieht man mal wieder, das Geld allein überhaupt nicht glücklich macht. Diese Frau, Bernadette, hat alles, was man nur haben kann. Einen Gatten, der mit Microsoft (Achtung: dieser Film kann Produktplatzierungen enthalten!) große Kohle macht. Eine kluge Tochter, ein herrschaftliches Anwesen, da wird selbst die Addams Family neidisch. Und wenn Familie Fox mal in die Antarktis will, dann fliegt sie einfach in die Antarktis. Kostet doch nur mehrere tausend Dollar pro Person, das zahlt die Portokassa.

Bernadette, die war mal eine berühmte Architektin, eine Koryphäe auf ihrem Gebiet. Eine Visionärin und kreativer Kopf, wie es kaum einen zweiten in dieser fiktiven Realität gegeben haben kann. 18 Visionen will diese, bezugnehmend auf ihre Namensvetterin aus Lourdes mit ihren 18 Sichtungen, umsetzen. Doch schon Idee Nr. 2 hat ein trauriges Schicksal erleiden müssen. Und seitdem gibt’s keine Entwürfe mehr. Familie, Kind und Eigenheim, sowieso sehr extravagant und nach eigenem Geschmack eingerichtet, sollte zukünftig reichen. Tut es aber nicht. Eine Künstlerin wie Bernadette, die wird da ganz unrund. Wenn ein Sonderling also in die Midlife- bzw. Existenzkrise schlittert, dann haben wir es meist mit Woody Allen zu tun. Nein, diesmal ist es aber Cate Blanchett als verschrobene Sonnenbrillenträgerin (auch wenn’s bewölkt ist) und Hassobjekt der Nachbarin. Irgendwas muss sich ändern. Und wenn es die Reise an den Südpol ist, wovon die an Sheldon Cooper erinnernde Neurotikerin nur alpträumen kann.

Talk King und Coming of Age-Guru Richard Linklater meldet sich wieder zu Wort, und ja, auch relativ wortgewaltig. Gesprochen und diskutiert und natürlich auch gejammert wird viel, wie gesagt fast schon in Woody Allen´scher Manier, aber längst nicht so beseelt von raffiniertem Allerwelt-Zynismus. Cate Blanchett sucht ihre Identität, zwischen allerlei Baukunst, fenzy Interieur und auf Kosten vieler. Egoismus kann man ihr nicht wirklich vorwerfen – oder doch? Weltfremdheit zumindest? Ja, die vielleicht. Also sucht sie sich und ihre Leidenschaft fürs Leben, und gemäß der Weisheit, die uns auf jedem einschlägigen Spruchkalender, sofern wir einen haben, morgendlich entgegensinniert, bedarf es manchmal eines Orts- bzw. Perspektivwechsels. Hatte ich nicht die Antarktis erwähnt? Genau – dorthin verschwindet Bernadette plötzlich. Ohne Auf Wiedersehen zu sagen. Gut, wenn schon Auszeit, dann richtig. Allerdings hat Linklater aufgrund seines womöglich begrenzten Budgets Grönland der ewigen südlichen Eiswüste den Vorzug gegeben. Die Pinguine sind wahrscheinlich aus dem Tiergarten. Aber sei´s drum, so viel Low Budget muss sein. Es geht doch um die Message dahinter. Um den Frust von in die Enge getriebener Künstler. Die, sofern sie nicht was weiß ich was kreieren können, anderen auf den Wecker fallen.

Bernadette ist ein filmgewordenes Unterschriftesammeln für ein Mehr an Verständnis für jene, die nicht unbedingt das Rad neu erfinden, aber neu gestalten können. Die für mehr frischen Wind sorgen können – wenn man sie lässt – oder sie sich selbst lassen. Natürlich findet da Cate Blanchett vorzüglich in ihre Rolle, vielleicht aber auch, weil sie ein bisschen selber so sein könnte. Exaltiert, abenteuerlustig, und manchmal, wie jeder Mensch auch, von liebenswürdiger Nervigkeit.

Bernadette