Was geschah mit Bus 670?

PAKT MIT DEM TEUFEL

7,5/10


bus670© 2020 Bodega Films


LAND / JAHR: MEXIKO, SPANIEN 2020

BUCH / REGIE: FERNANDA VALADEZ

CAST: MERCEDES HERNÁNDEZ, JUAN JESÚS VARELA, DAVID ILLESCAS, ANA LAURA RODRIGUEZ, ARMANDO GARCÍA, LAURA ELENA IBARRA, XICOTÉNCATL ULLOA U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Das Kino Lateinamerikas ist immer wieder bemerkenswert. Neben den verrückten Ideen und Konzepten aus Südkorea findet sich auch von Chile bis Mexiko allerhand Ungewöhnliches, wie zum Beispiel die Festivalfilme Tragic Jungle, Nobody Knows I’m Here oder der Sozialthriller 7 Gefangene (alle drei im Sortiment von Netflix). Ebenfalls nachhaltig in Erinnerung ob seiner ungewöhnlichen Erzählweise und der Konvertierung eines zutiefst tragischen Themas in eine fast schon poetisch anmutende Ballade bleibt das Kriminaldrama Was geschah mit Bus 607?. Das Filmplakat dazu mag irritieren, vielleicht gar etwas ganz anderes versprechen als es letztendlich der Fall ist: Zu sehen ist vom Rückspiegel eines Autos und so unscharf wie das Found Footage Foto einer paranormalen Beobachtung der Teufel, der sich über seine Opfer hermacht, im Hintergrund lodert das Feuer. Ist der Film von Fernanda Valadez also ein okkulter Horrorfilm? Okkult vielleicht nicht, aber Horror würde ich nicht ganz ausschließen. Denn was mag Horror eigentlich bedeuten? Kann der Horror nicht auch in der inhumanen Anarchie eines Krieges zu finden sein? Oder in der Gesetzlosigkeit mancher Weltgegenden, wo Banden das Sagen haben und jeder noch so brave Bürger, der sich so unauffällig wie nur möglich verhält, um jeden Tag seines Lebens bangen muss? So zu leben ist Horror genug, und es ist weder eine Erfindung noch braucht man hierfür ein dystopisches Szenario vom Stapel zu lassen wie in The Road oder Mad Max. Diese Gegenden gibt’s wirklich, und die liegen nah an der US-amerikanischen Grenze, im Norden Mexikos. Gesetzloses Niemandsland, regiert von schwer bewaffneten Banden und unmöglich zu verwalten. Durch diese Todeszone müssen aber all jene, die ihren Mut aufgebracht haben, um über die Grenze in die USA zu gelangen, um eben dort der Willkür finsterer Kartelle zu entgehen, die mit Drogen und Menschenhandel Geld scheffeln.

Wie der deutsche Titel bereits verrät (im Original nennt sich Valadez‘ Streifen Sin señas particulares, was so viel bedeutet wie „keine besonderen Anzeichen“), wird Bus 670 auf der Fahrt an die Grenze sehr bald vermisst. In diesem Bus saß Jesús, gemeinsam mit seinem Freund Rigo – beide gerade mal Teenager im ersten Drittel, das ganze Leben noch vor sich. Zu Beginn des Films verabschiedet sich ersterer von seiner Mutter, die Hoffnung auf ein besseres Leben stirbt zuletzt. Und da fällt sie auch schon in Agonie, die Zuversicht, doch Mutter Magdalena sucht weiter, man findet lediglich die Leiche des Freundes Rigo, von Jesús fehlt jede Spur. Auf ihrer gefährlichen Suche trifft die verzweifelte Frau auf andere Schicksale – auf einen abgeschobenen jungen Mann, der jahrelang schon in den USA gelebt hat. Und eine Mutter, die den bestätigten Tod ihres Sohnes nach Jahren ohne Lebenszeichen nicht wahrhaben will.

Was geschah mit Bus 670? ist ein metaphysisches, zwischen Wachen und Träumen, Erinnerungen und gerade Erlebtem wechselndes Stück Endzeitkino in einer längst nicht zu Ende gehenden Welt. Es ist bevölkert mit Geistern und verdammten Seelen, Klageliedern und ausweglosen Schicksalen. Mercedes Hernández als beharrlich nachforschende Mutter ist selbst wie ein Geist; wie ein verletzbares, barfüßiges Kind in einer Wildnis, bevölkert von Dämonen. Valadez findet mit ihrer Kamerafrau Claudia Becerril Bulos erstaunlich unorthodoxe Bilder – einerseits ruhend, fast statisch, sich in den Erinnerungen wiederholend. Ein bisschen wie Sergio Leone. Und dann der virtuose Kniff, die überlieferte Tragödie der Busfahrt als eine im Bokeh-Stil gefilmte, dem Übernatürlichen zugeordnete Mär zu illustrieren, die den Beelzebub wüten lässt. Unschärfen werden hier zum Schleier des Selbstschutzes, der die Gräuel nicht von dieser Welt sein lassen will.

Der am Sundance Festival 2020 erstmals gezeigte Film mag nicht die erste Wahl für unterhaltsame Stunden sein – doch sollte er auf der Watchlist ganz oben stehen, wenn es heißt, mit neuen Sichtweisen und innovativen Ideen das Kino – und vor allem das Weltkino – aus seiner Routine zu holen. Mit einem in sich stimmigen Twist sorgt Was geschah mit Bus 670? am Ende noch für ein Durcheinander an Empfindungen, wechselnd zwischen Verblüffung und untröstlicher Melancholie.

Was geschah mit Bus 670?

The Batman

DER VIGILANT HAT NOCH ´NE FRAGE

7/10


thebatman© 2021 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: MATT REEVES

CAST: ROBERT PATTINSON, ZOË KRAVITZ, JEFFREY WRIGHT, PAUL DANO, COLIN FARRELL, JON TURTURRO, ANDY SERKIS, PETER SARSGAARD, PETER MCDONALD U. A.

LÄNGE: 2 STD 57 MIN


Die von Bob Kane und Bill Finger ins Leben gerufene Rächer-Figur im schwarzen Cape ist wohl DER wandelfähigste Charakter im ganzen Comic-Universum. Will man in diesen Kosmos quereinsteigen, ist man als uneingeweihter Panels-Leser erstmals rettungslos aufgeschmissen. Da gibt es Storylines noch und nöcher, Batman als üppiger Actionheld mit Muckis wie Arnie, dann wieder als einer, der unter dem Titel Der Batman, der lacht selbst den Verstand verliert. Dann gibt es jene Anthologie-Ausgaben, die den Spieß umdrehen und Joker als den Guten darstellen, während Batman im Grunde ein übler Bursche ist. Und dann gibt es natürlich die Film-Noir-Versionen, die Thriller-Comics des nachaktiven Investigators, der mit Comissioner Gordon gemeinsame Sache macht, um Komplotte aufzudecken. Batman ist ein Fass ohne Boden, unterschiedlich interpretierbar und auf keinen Stil endgültig festgelegt. Diese wunderbare Wandelbarkeit hat auch das Kino längst erkannt – angefangen mit Tim Burton und seinem Neo Gothic-Look aus den späten Achtzigern über die knallbunten und leider sehr trashigen Karnevalsnummern eines Joel Schumacher bis zum erwachsen gewordenen Actiondrama mit Nolans übertriebener Auslegung von Bruce Waynes Selbstmitleid. An dieser Stelle sei angemerkt, dass, würde ich die unterm Strich am häufigsten in den Comics ausgelegte Batman-Charaktertendenz mit einer Filmversion vergleichen, ich wohl Ben Affleck Rückendeckung geben muss: Seine Figur (für viele nicht tragbar, ich weiß) gibt den späteren, bereits etablierten Batman die nötige leicht arrogante Millionärsschwere mit Technik-Affinität. Sieht man sich die ersten Jahre von Batmans Schaffen an, lässt sich ganz plötzlich ein Mittdreißiger wie Robert Pattinson entdecken, der seine Twilight-Erinnerungen spätestens seit Dave Eggers Der Leuchtturm komplett abgelegt hat und in einer introvertierten Version aus The Crow und Kurt Cobain zwar mit seinem Schicksal hadert, dabei aber gar nicht mal so schmachtend wehklagt wie vielleicht befürchtet. Dieser Batman hat seine wirklich harten Jahre, in denen es ums Eingemachte geht, noch vor sich. Bis es so weit kommt, versinkt Gotham City unter geschmackvollen Variationen von Nirvana und Franz Schubert im Sumpf des organisierten Verbrechens.

Mit dem Mord an Bürgermeister Mitchell fällt somit der erste Dominostein für ein Tabula Rasa in der regennassen Finsternis einer kaputten Stadt, die keine Werte mehr kennt und als Sodom oder Gomorrha bald von höheren Mächten heimgesucht werden muss. Eine schwelende Prä-Apokalypse liegt in der Luft, und die gedeckte Stimme Batmans aus dem Off beschreibt tagebuchartig den Status Quo. Und dann das: ein olivgrün maskierter Wahnsinniger killt den Top-Politiker Gothams und hinterlässt Rätsel. Wer kann denn das sein? Jedenfalls nicht Jim Carrey im Fragezeichen-Stretch. Dieser hier ist ein weniger bühnentauglicher Psychopath, der gerne mit Joaquin Phoenix auf einen Kaffee gehen würde. Doch leider sind dessen Liebesbriefe an Batman gerichtet – und so geht dieser zum Leidwesen der übrigen Polizeibelegschaft mit dem durch Jeffrey Wright fabelhaft besetzten und moralisch sehr aufgeräumten Jim Gordon (besser noch als Gary Oldman!) den kryptischen Hinweisen nach. Bald quert auch eine gewisse Selina Kyle den Weg unserer Fledermaus, und Oswald Cobblepot als der Pinguin will wieder mal von nichts etwas wissen.

The Batman birgt ein klassisches, wenig überraschendes und fast schon routiniertes Szenario. Matt Reeves wagt sich im Storytelling nicht über den Tellerrand hinaus, er bleibt dem Einzelgänger treuer als so manch anderer, ja sogar Tim Burton, und verbeugt sich respektvoll vor Print-Klassikern wie Das erste Jahr, Kaputte Stadt oder Das lange Halloween – Comics, die man gelesen haben sollte. In dieser akkurat abgesteckten Spielwiese ist bei Reeves vieles möglich, aber eben nichts, was dem Kult fremd wäre. Das psychopathische Spiel des Riddlers ist zwar nobel exaltiert und hysterisch, doch erwartbar. Paul Dano gibt jedoch sein Bestes und ist so ideal besetzt wie Jon Turturro als Carmine Falcone oder Andy Serkis als Butler Alfred: Figuren, die in ihrer Manier vertraut bleiben. Am besten allerdings bekommt Zoë Kravitz als Katzenfrau die krallige Kurve: sie schafft es, Michelle Pfeiffer vom Thron zu stürzen. Ihr Spiel ist natürlich und lasziv, dabei lässig und gleichsam emotional. Spielerisch findet sie den Mittelweg und tänzelt diesen entlang in erstaunlicher Sicherheit, als wäre sie niemals eine andere gewesen. Das passt zu Pattinsons Batman-Version, die sich in angenehmer Zurückhaltung das Detektivische einverleibt und den Mut hat, zu straucheln oder Fehler zu machen. Er muss noch üben, dieser Batman – und diese Luft nach oben steht ihm gut.

Alles in allem ist Matt Reeves‘ Anthologie das runde, schöne Filetstück einer gar nicht übernatürlichen Superhelden-Ballade geworden, die als melancholischer Psychothriller die latente Terrorangst einer Stadt mit Wut und Selbstreflexion bekämpft, dabei manchmal zu viel redet und seine Stärke in einer penibel arrangierten, urbanen Grunge-Hölle findet, die so einige ikonische Batman-Stills Joker-Karten gleich ins Spiel wirft.

The Batman

I Care a Lot

DAS GELD ÄLTERER LEUTE

8/10


icarealot© 2021 Photo Cr. Seacia Pavao / Netflix


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: J BLAKESON

CAST: ROSAMUNDE PIKE, EIZA GONZÁLES, PETER DINKLAGE, DIANNE WIEST, CHRIS MESSINA, ISIAH WHITLOCK JR. U. A.

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


In Österreich ist der Pflegeregress – das Finanzieren von Pflege aus privatem Vermögen – seit Anfang 2018 abgeschafft. Na, Gott sei Dank für die Angehörigen und Nachkommen. Und Gott sei Dank natürlich für die Betroffenen. Etwas zu besitzen macht schon auch etwas mit dem Selbstbewusstsein. Vom Ende des Pflegeregress hat die toughe Marla Grayson allerdings noch nichts vernommen. Keine Ahnung wie das in anderen Ländern gehandhabt wird. Bei Marla Grayson jedenfalls bläht sich die Brieftasche dank sozialer Scheinliebe bis zum Äußersten. Denn sobald gerichtlich verfügt wird, dass hilfsbedürftige Senioren unter Graysons Kuratel gestellt werden müssen, sie noch dazu Heim und Hof verlieren und nicht mehr als zu melkendes Gemüse sind, wird der ganze Besitz veräußert. Nachlass für andere zu Lebzeiten sozusagen. Ein Vorgehen, fern jeder Ethik. Aber wer braucht schon Ethik in Zeiten von Konzerndenken und dem lukrativen Gewinn aus dem Schaden anderer? Du musst ein Schwein sein in dieser Welt, das sangen schon die Prinzen. Und recht haben sie damit. Allerdings übersehen sie, dass ein Leben auf Kosten anderer irgendwann auf holprigen Pfaden endet. Denn mit der Enteignung und Einweisung der betagten, aber geistig noch völlig fitten Jennifer Peterson (Dianne Wiest) tritt sich Marla Grayson einen Haufen Schwierigkeiten ein, mitunter den finsteren Burschen Peter Dinklage, der, was keiner weiß, Jennifer Petersens Sohnemann ist und sich ernsthaft fragt, warum Mutti sich nicht meldet.

Regisseur und Autor J. Blakeson (u. a. Die Entführung der Alice Creed, Die 5. Welle) hat mit seiner schwarzen Thrillersatire I Care a Lot verdammt vieles richtig gemacht und Netflix zu einem sehenswerten Stück Zeit- und Gesellschaftskritik verholfen, das sich überdies streckenweise zu einem sauspannenden Schachspiel zwischen Rosamunde Pike und dem alten Tyrion Lennister mit Rauschebart und Hipster-Scheitel aufbäumt, den man auch spätnachts ansehen kann, ohne dabei müde zu werden. I Care a Lot ist ein Film, der fesselt, und nicht nur zynisch sein will, weil medialer Zynismus den intellektuellen Kritiker hofiert. In diesem Zynismus liegt eine komödiantisch verzerrte Wahrheit, was die Gier einiger weniger betrifft, die sich zur fröhlichen Oligarchie zusammenschließen, um das Fußvolk, das gar nicht weiß, wie ihm geschieht, auszunehmen. Man möchte diese eiskalte, berechnende und scharfsinnige Figur der Marla Grayson, die das Kaliber einer mörderischen Sharon Stone in ihren besten Zeiten erreicht, ohne dabei mit plumpen Kapitalverbrechen anzugeben, am liebsten hassen. Doch das kann man nicht, weil Rosamunde Pike einfach zu begnadet agiert, um sich von ihr abzuwenden. Pike, längst eine meiner großen Favoriten im Filmbiz, ist eine strahlende, makellose Erscheinung und gleichsam so perfide wie eine Renaissance-Regentin, die ihre Widersacher beseitigt, nämlich so, dass es keiner merkt. Pike gibt sich die Frauenpower auf der Schattenseite, da geht selbst einem ebenso versierten Peter Dinklage irgendwann die Eloquenz aus. Und man selbst bleibt sprachlos bei so viel Kälte und Gleichgültigkeit dem Humanismus gegenüber, und man könnte sich auch denken, manch ein Mensch ist ein tigerartiger Einzelgänger, der soziales Miteinander als schier überbewertet empfindet.

J Blakeson folgt seinem erdachten Konzept des amoralischen Duells mit einigen Kompromissen, um zum notwendigen Ziel zu gelangen. Das merkt man leider, da sind in Sachen Plausibilität manchmal schwächelnde Wendungen drin, die aber das Gesamtbild nur geringfügig durcheinanderbringen. Doch vielleicht ist dieses Schwächeln auch Teil des Plans, um den Konkurrenten zu umschleichen, ohne ihn ernsthaft um die Ecke bringen zu wollen? Löwen und Lämmer werden hier des Öfteren als Gleichnis bemüht – zu welcher Fraktion Rosamunde Pike gehört, wird wenig überraschend schnell klar. Wenig klar bleibt, wohin sich dieses toughe Lust- und Frustspiel wohl hinentwickeln wird, was den Film angenehm unberechenbar macht. Und der so sagenhaft gut unterhält wie den Erbschleicher das notarielle Verlesen eines üppigen Testaments. Zu Lebzeiten, versteht sich.

I Care a Lot

Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra

VOM VERRATEN DER VERRÄTER

7/10


iltraditore© 2020 Pandora Filmverleih


LAND: ITALIEN, FRANKREICH, DEUTSCHLAND, BRASILIEN 2019

REGIE: MARCO BELLOCCHIO

CAST: PIERFRANCESCO FAVINO, MARIA FERNANDA CÃNDIDO, FABRIZIO FERRACANE, LUIGI LO CASCIO, FAUSTO RUSSO ALESI U. A. 

LÄNGE: 2 STD 33 MIN


Anfangs scheint es noch so, als wäre die italienische True Story rund um Mafioso Tommaso Buscetta so eine ähnlich tragende, romantisierte Gewaltoper wie Francis Ford Coppolas natürlich meisterliche Trilogie rund um die Familie Corleone. Wir finden uns plötzlich an der sizilianischen Küste wieder, am Tage der heiligen Rosalia am 4. September 1980. Die Familien der Cosa Nostra kommen zusammen, um sich zu verbrüdern, zu plaudern und zu feiern. Beziehungen werden vertieft und neue gesponnen. Es scheint, als wäre die Mafia sowas wie ein gesitteter Adel, dabei war sie zu den damaligen Zeiten längst von einer gewissen Tollwut befallen, die in blinder Machtgier und Raserei ganze Sippen bis auf den letzten Blutstropfen über die gewetzte Klinge springen ließ. Tommaso Buscetta hat sowas schon geahnt – und sich aus dem Staub gemacht Richtung Südamerika. Dorthin, wo regelmäßig allerlei Verbrecher auswandern, in der Hoffnung, unter falschem Namen nicht mehr gefunden zu werden. Dieser Buscetta war noch dazu aus dem Gefängnis von Turin geflohen – also Gründe gibt es mehrere, um zwangsläufig zu privatisieren. Doch der Arm der Justiz ist lang. Er reicht auch bis nach Rio – und macht den Schurken dingfest. Der aber will vor seiner Vergangenheit nicht mehr davonlaufen. Ein Ehrenmann, wie er selbst einer zu sein glaubt, muss für seine Taten gradestehen. Also packt er aus. Als Kronzeuge gegen all die Schurken, die längst nicht mehr dem „noblen“ Codex des mafiösen Geheimbundes Folge leisten.

Bis auf die glamouröse Feier Anfang des zweieinhalbstündigen Films hat die sizilianische Mafia hier nichts mehr vom imperialen Schimmer, den sie in Filmen und Romanen immer wieder gerne aufpoliert bekommt. Die Mafia ist hier ein fast schon zerlumpter Haufen herumballernder Figuren ohne Moral, nicht viel mehr als Meuchelmörder. Irgendwo auf der Spitze dieser von Buscetti erläuterten Pyramide sitzt der Kommandant und hält das Zepter in der Hand. Während der sogenannten Maxi-Prozesse gegen gefühlt alle Mitglieder des Kartells werden viele davon auch verurteilt. Wie und wodurch – das spart Regisseur Marco Bellocchio so ziemlich aus, denn Zeuge Buscetta allein kann es nicht gewesen sein. Verurteilen kann man nur jene, die unter akkuraten Beweisen einknicken. Also muss es noch jede Menge Belastendes gegeben haben. Nur was? Das hätte ich gerne noch gewusst. Aber dann wäre der Film um die doppelte Spielzeit länger geworden. Il Traditore – Als Kornzeuge gegen die Cosa Nostra ist daher in erster Linie kein Film über die Mafiaprozesse, sondern ein biographisches Justizdrama um den Charmebolzen Buscetta, der sich zur Wahrheit durchringt und mit den Sünden seiner Vergangenheit reinen Tisch machen will. Perfrancesco Favino verleiht seiner historischen Figur etwas unnahbar Charismatisches, gleichermaßen aber auch etwas abstoßend Chauvinistisches und Patriarchalisches, wie das Klischee eines Mafioso eben. Zwischen den Rissen dieser errichteten Zitadelle aus Selbstgefälligkeit und Zugeständnis blitzt eine von Furcht und Erschöpfung wie gelähmte Seele, die von Alpträumen geplagt wird.

Il Traditore ist trotz seiner Überlänge ein in seinen Szenen klug selektiertes, straffes Biopic, bei dem man allerdings leicht die vielen Namen, Familien und Beziehungen durcheinanderbringt, was aber den kathartischen Grundton des Films und die zentralen Figuren nicht vernebelt. Die Mafia selbst wird hier trotz ihres weitreichenden Netzes und ihrer scheinbar unerschütterlichen, zeitlosen Struktur zu einem bröckelnden, obsoleten Konstrukt, das angreifbar wird und sich aushebeln lässt. Das kann man als Entrümpelung eines Mythos verstehen, der sich, verfolgt man die Fakten, längst überholt hat. Oder mittlerweile zu etwas ganz anderem geworden ist.

Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra

The Irishman

DIE FRANKYS UND TONYS DIESER WELT

8/10

 

irishman© 2019 Netflix

 

LAND: USA 2019

REGIE: MARTIN SCORSESE

CAST: ROBERT DE NIRO, JOE PESCI, AL PACINO, HARVEY KEITEL, RAY ROMANO, ANNA PAQUIN, JESSE PLEMONS U. A.

 

„Welcher Tony? – Die heißen doch alle irgendwie Tony!“ Ein berechtigtes Statement von Gewerkschaftsführer Jimmy Hoffa, der eben Jimmy und nicht Franky heißt und rein namentlich mal unterwelttechnisch aus dem Schneider ist, obwohl er seine Ziele auch nicht immer mit den gesetzeskonformsten Mitteln erreicht haben will. Das jedenfalls erklärt uns Martin Scorsese in seinem ausladenden Alterswerk, das aber einlädt zu einer nachhallenden Breaking-Bad-Ballade eines tatsächlich von der Leine gelassenen Finsterlings, der wie ein leibeigener Bluthund von Cosa Nostra-Mobster Russel Bufalino Drecksarbeiten erledigt hat, soweit das Auge der Unterwelt nur reichen konnte. Dessen Name war Frank Sheeran. Und ja, der war tatsächlich ein entfernter Verwandter des irischen Chartstürmers Ed, der natürlich nichts dafür kann für die Skrupellosigkeit seiner Vorfahren. Frank Sheeran also ist das Subjekt von Scorseses Faszination für das Böse in den Straßen. Die hatte er eh und je, und natürlich ist die dunkle Seite des Menschen oder ganzer Menschengruppen weitaus sogwirkender als das harmlos scheinende Gute. Diese Affinität zur Mechanik des organisierten Verbrechens ist deswegen sogar nachvollziehbar, weil diese Art des Bösen seine eigenen Werte braucht, weil es die Anarchie in ein Regelwerk zwängt, weil die Frankys und Tonys dieser Welt doch nur im Rahmen einer heiligen Pflicht ihre Finger beschmutzen. Dabei können sie nicht mal tun und lassen, was sie wollen, weil sie ganz anderen Gesetzen folgen und sich einer viel strengeren Hierarchie unterwerfen als das bei einem redlichen Lebenslauf wohl der Fall gewesen wäre.

Und dabei spannt Scorsese einen weiten Bogen bis hinunter in die 50er Jahre. Fast alle hat er wieder versammelt, der Altmeister. Seine Lieblingsakteure, angefangen von Robert de Niro über Joe Pesci bis hin zu Harvey Keitel, der allerdings nur einen dankbaren Cameo bekommt. Ray Liotta, sein Hauptdarsteller aus GoodFellas, der fehlt. Dafür aber haben wir Al Pacino wieder an Bord, errettet aus den B-Movie-Engagements und hinein in eine seiner stärksten und wuchtigsten Rollen, die er je spielen durfte. Da macht auch der digitale und manchmal etwas maskenhafte Weichzeichner auf Jung nicht viel aus, denn Pacino ist immer noch Pacino, mit all seinen einstudierten Manierismen, seiner Mimik und seiner Gestik, stets leicht übertrieben, einnehmend, unglaublich charismatisch. Wir erinnern uns, zumindest vage, an Jack Nicholsons Performance als Jimmy Hoffa – und die war längst nicht so intensiv. Pacino als unbequemer, streitsüchtiger Gewerkschafts-Feldwebel – was will man eigentlich mehr? Scorsese legt aber noch einiges drauf: Sein De Niro ist ein längst alter Bekannter, auch er stark liiert mit seiner für De Niro üblichen Mimik der verkniffenen Blicke. Gut, die haben sie alle, all diese Anzugträger und leicht besorgten Unterweltler blicken verkniffen, und sie alle haben keine lange Lebensdauer, wie uns der Film mit Inserts zu diversesten Schattengestalten der Cosa Nostra-Geschichte aufzuklären weiß. Joe Pesci wächst ebenfalls über sich hinaus, eine knorrige und zugleich schillernde Figur, die er als Russel Bufalino da gestaltet,

Tatsächlich ist The Irishman ein finsteres Who is Who, eine moralisch verwerfliche Freakshow zwischen Politik, Loyalität und Machtgier. Dass Frank Sheeran, dieser reuelos gutböse Handlanger, sogar sein letztes bisschen Anstand verschachert wie ein biblischer Judas, macht aus dem dreieinhalbstündigen Epos, das sich aber längst nicht so lang anfühlt, zu einer Studie des Verrats und der Unmöglichkeit, sich selbst im freien Spiel der Kräfte treu zu bleiben. Mitunter findet Scorsese neben all den schmissigen, dichten und packend inszenierten Episoden seiner Chronik oft absurde Szenen unfreiwilligen Zynismus, die an Quentin Tarantino erinnern. The Irishman ist makaber, brutal und in seiner Abkehr vom Menschlichen umso menschlicher. Verborgen liegt das Böse hinter salonfähigen Floskeln, die wie geheime Codewörter irgendetwas bedeuten, aber meist Ungesundes für andere. Leichen pflastern Scorseses Weg durch ein Meisterwerk politischer Königsdramen, die allesamt einen nüchternen Abgesang auf eine medievale Parallelwelt ergeben, die uns eben nicht weniger fasziniert als die Politik mit Feuer und Schwert.

The Irishman

Sleepless – Eine tödliche Nacht

PAPA, DER MANN MIT DEM KOKS IST DA

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sleepless

Am Anfang war die Tasche. Schön und gut. Jetzt geht es darum, aus diesem transportablem Behältnis ein sehr begehrenswertes zu machen – die Arbeit der Drehbuchautoren ist gefragt. Aber nicht die Arbeit amerikanischer Drehbuchautoren – die Vorlage für den simpel gestrickten Reißer war wieder einmal aus französischen Landen zu holen. Da hatten die lokalen Filmemacher schon 6 Jahre zuvor die ganze Arbeit getan. Aber wie dies nun mal in den USA so ist – internationale Produktionen erfreuen sich enorm begrenzter Beliebtheit (siehe meinen Blog-Artikel Die Schöne und das Biest). Doch Kopien in englischer Originalsprache mögen meinetwegen ihre Runde machen – die Notwendigkeit allerdings, in einen derart austauschbaren Streifen wie Sleepless zu investieren, der wiederum in Österreich vor vielen anderen sehenswerten Produktionen einen Filmverleih findet, entzieht sich meiner Nachvollziehbarkeit. 

Der an Schauplätzen ziemlich begrenzte Taschen-Thriller besticht durch nichts, was nicht auch schon andere ähnlich gelagerte Produktionen durchgekaut haben. Undercover-Polizisten, kiloweise Drogen und mehrere Parteien, die darauf aus sind, das Vermögen in Form von weißem Schnee zu kassieren – auf kurze Dauer mag der Plot ja unterhalten. Doch dann kommt Jamie Foxx – und spielt sich selbst an die Wand. Allerdings auch nur dann, wenn sich Michelle Monaghan nicht dazwischen stellt. Die Schauspielerin agiert in dieser relativ lieblos heruntergespulten Hotel-Hasenjagd immer noch am besten, da kann Tarantino´s Django diesmal leider gar nicht mithalten. Zwischen beruflichem Ehrgeiz und familiärer Verpflichtung in geradezu paralysiertem Zustand befindend, versucht Foxx seinen Sohn aus den Fängen eines schmierigen Casino-Mafioso zu befreien. Für einen positiven Ausgang dieses Unterfangens ist eben jene Tasche vonnöten, von welcher wir hier schon des Öfteren gelesen haben. Doch die Dringlichkeit und die verzweifelte Vaterliebe, mit welcher der eigene Sohn herausgehauen gehört, sucht man eventuell in einem anderen Film. Der für Ray oscargekrönte Schauspieler dürfte die Rolle Sleepless lediglich zum Zeitvertreib angenommen haben. Und all der übrige Cast erinnert in der Ausarbeitung ihrer Figuren eher an das Videothekenkeller-Sortiment eines Jean-Claude van Damme in der Titelrolle – wobei das nicht heißen soll, dass der gelenkige Belgier Zeit meines pubertären Lebens nicht auch für unterhaltsame Stunden gesorgt hat.

Diese Zeit allerdings ist vorbei, und so wird bereits nach einer halben Stunde Laufzeit ziemlich schnell klar, dass alles zugunsten der Gerechtigkeit enden wird. Der Umstand sorgt für Langeweile, da helfen selbst der eine oder andere Shootout nicht, und genauso wenig ein sadistischer Bösewicht, der mittelalterliche Quälereien praktiziert. Dann lieber selbst irgendwann nach Las Vegas fliegen und eine Schnitzeljagd auf die Kosten des Hauses veranstalten. Da hat man mehr davon. 

Save

Sleepless – Eine tödliche Nacht

Live by Night

FOR HE´S A JOLLY GOOD FELLA

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livebynight

Was in Ben Affleck´s vierter Regiearbeit am meisten ins Auge sticht und auch nachwirkend in Erinnerung bleibt, ist nicht, wie nun von einigen Lesern vermutet wird, die reizvolle Zoe Saldana – obwohl die Dame durchaus dazu beiträgt, dem elegischen Gangsterepos aus den 30er Jahren einen gewissen exotischen Anstrich zu verleihen. Nein, was tatsächlich in Erinnerung bleibt, sind die ausladenden XXL-Maßanzüge, die Universalgenie Affleck geschätzte zwei Stunden lang durchs Bild manövriert. Und ja, diese Mode ist beeindruckend und vor allem ehrfurchtgebietend. Kein Wunder, dass die konkurrierende Unterwelt Respekt vor diesem Mann hat – oder in erster Linie vor seiner Kleidung. Zu dieser wohldurchdachten Ausstattung gehört natürlich auch der klassische Fedora-Hut, den schon Dick Tracy oder Humphrey Bogart oft und gerne getragen haben. Nun, jetzt ist die nächste Generation dran. Und gemeinsam mit dem schrankartigen Outfit ergibt das Gesamtbild einen Unterweltboss, den der eine oder andere Comiczeichner wohl nicht besser hinskizziert hätte. Vor allem wenn Big Ben im Gegenlicht als Schattenriss den Bildkader dominiert, könnte man eine Besetzung in Sin City 3 durchaus in Erwägung ziehen. Doch das ist Spekulation. Bleiben wir mal bei Live by Night.

Die Coming-of-Gangster-Story nach einem Roman von Dennis Lehane, aus dessen Feder schon seinerzeit das düstere, ebenfalls von Ben Affleck inszenierte Krimidrama Gone Baby Gone entsprungen war, ist gediegenes Erzählkino in feinster Ausstattung und schwelgerischen Bildern, die die Sumpflandschaft Floridas im schicken Licht des schwindenden Tages lobpreisen. In Live by Night sind die Drahtzieher und Geschäftemacher der Unterwelt eingängige Stereotypen aus dem bleihaltigen Genre der Gangsterfilme. Gestalten aus einer längst vergangenen Ära des Kinos, in der Antihelden wie James Cagney kleinen Fischen gezeigt haben, wo die MP hängt. Der neue Cagney ist Ben Affleck als aufstrebender Kleinkrimineller Joe Coughlin, der unter den Fittichen eines italienischen Syndikats im feuchtheißen Süden ganz groß rauskommt. Abzusehen, dass sich dieser bald schon nichts mehr sagen lässt. Weder von seinen Geldgebern, noch von der irischen Konkurrenz, noch vom Ku Klux Klan. Allein – das formatfüllende Sakko reicht nicht. Da müssen noch schöne, leicht leidende Gespielinnen her, für die es wert ist, ein neues Leben zu beginnen. Alles handwerklich routiniert in Szene gesetzt, aber extravagant ist etwas anderes.

Affleck zitiert nur Bekanntes und rückt sich selbst auffallend gern und sehr selbstverliebt in Szene. Im Grunde sein gutes Recht, hat doch der beste Freund von Matt Damon die ganze Arbeit zu leisten, vom Drehbuch bis zum Darsteller. Nur die Musik, die komponiert er nicht. In einer herausragenden Nebenrolle begrüßt man wiedermal Chris Cooper als harmoniebedürftigen, aber unkorrumpierbaren Polizeichef, der mit dem Verbrechen paktiert, und auf seine ganz eigene, schmerzvolle Art Opfer desselben wird. Die Episode rund um Erpressung, Verrat und Rache ist das wohl gelungenste Kernstück des ganzen Filmes. In diesem Aufeinandertreffen der Darsteller tun sich kurzfristig Abgründe auf, die dem Film eine gewisse Reibung und dadurch auch Tiefe verleihen. Jenseits davon aber unterhält das klassische Hollywoodkino zumindest auf altmodisch-gefällige und oberflächliche Art, um sich danach einem scheinbar biederen, romantisch-verklärtem Finale hingeben zu wollen. Affleck reißt zum Glück kurz vor Ende noch einmal das Ruder herum und orientiert sich dann doch noch an einem für Gangsterfilm-Biografien gewohntem Zynismus. „Tu Buße“ heißt es am Schluss – und so verwehrt Live by Night fast im Stile der schwarzen Serie seinen Figuren Zuversicht und Lebensglück, um der Moral Genüge zu tun. Das hätte man jetzt nicht unbedingt erwartet, setzt aber angesichts der übrigen Vorhersehbarkeit des Filmes achtbare Akzente.

Live by Night