White Snail (2025)

FAST GESTORBEN IST NOCH AM LEBEN

7/10


© 2025 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2025

REGIE / DREHBUCH: ELSA KREMSER & LEVIN PETER

KAMERA: MIKHAIL KHURSEVICH

CAST: MARYA IMBRO, MIKHAIL SENKOV, OLGA REPTUKH, ANDREI SAUCHANKA U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Als Romanze würde ich den neuen Film des Traumpaares des österreichischen Films nicht bezeichnen. Romanze wäre zu banal, zu einfach. Was sich in White Snail entfaltet, sind nicht nur die empfindlichen Stielaugen weißer Landschnecken, die behutsam und zaghaft ins Ungewisse hinein einige Millimeter machen. Zwei Menschen, irgendwo am Rande der Gesellschaft und doch mittendrin, wissen auf jeweils unterschiedliche Weise, wie unnatürlich (oder natürlich) oft die eigene Existenz vom Tod begleitet wird. Man könnte fast meinen: unentwegt.

Francis Bacon der Pathologie

Denn Misha, der ist Pathologe in einem Krankenhaus in Minsk, obduziert das über den Jordan gewanderte belarussische Volk und wahrt dabei klinische Distanz, während er daheim auf unzähligen, teils auch riesenhaften Leinwänden all die Erfahrungen, die er täglich macht, und all die zerschnittenen und beschädigten Körper, denen er begegnet, auf seine Weise verewigt. Es sind Bilder, die unweigerlich an die Arbeiten von Francis Bacon erinnern, es sind surreale, traumhafte, poetische und zugleich grausame Bilder, fast schon sakral, das Imperfekte des menschlichen Körpers geradezu vervollkommnend. Gemalt hat diese Bilder Mikhail Senkov. Schauspieler ist der Mann keiner, agiert vor der Kamera dafür aber umso besser. Vielleicht, weil er die eigen Biografie mit in den Charakter bringen kann, ganz so wie seine Filmpartnerin, Marya Imbro, eine faszinierende Persönlichkeit, weiße Haut, weißblondes Haar, intensiver Blick. Marya spielt Masha, eine Modelschülerin, die sich nichts sehnlicher wünscht, als aus Belarus rauszukommen. Ihr Vater sitzt bereits in Polen und tut alles, damit Frau und Kind nachkommen können. Derweil jedoch hadert Masha mit etwas sehr Dunklem in ihrer Seele, was sie nach einem Suizidversuch ins Krankenhaus bringt – an jenen Ort, an dem sich Misha und Masha zum ersten Mal begegnen, oder besser gesagt: Masha sieht Misha, wie er mit den Toten hantiert. Und der Tod scheint sie zu faszinieren. Sie will wissen, was Misha mit den Leichen anstellt – und klopft eines späten Abends an die Tür der Pathologie.

Durch den Tod verbunden

Das Traumpaar, das sind nicht nur Misha und Masha, sondern Elsa Kremser und Levin Peter, bislang bekannt geworden durch recht spezifische Dokumentarfilme, die sich mit den Schicksalen russischer Hunde beschäftigen: Ihr Debütfilm trägt den Titel Space Dogs, fünf Jahre später folgt Dreaming Dogs. Ihr Wechsel in den fiktionalen Film hätte kaum besser funktionieren können. Mit einem Gespür für innere Zustände, nicht zynischer, aber trotziger Lakonie und einem immanenten Gefühl, andauernd auf der Suche zu sein nach etwas bestimmbar Unbestimmten, bringen Kremser und Peter zwei mit dem Tod Verwandte und Verliebte einander näher, ohne sie aufeinander zuzustoßen. Langsam, wie zwei Schnecken, kriechen sie umeinander herum, beobachten sich, ertasten sich. Ein herbstdunkles Psychogramm ist White Snail geworden, das in seiner leisen Metaphysik an Krzysztof Kieślowski erinnert, im Umgang mit dem transzendent Natürlichen und Mythischen spricht White Snail eine Sprache, die auch Ildikó Enyedi (Körper und Seele) spricht, zwischen nackter, harter Physis und dem Rätselhaften jenseits des Urbanen, Profanen, Erschlossenen.

Nicht als Anti, aber als Fast-Romanze lässt sich die Begegnung der beiden dann doch betrachten. Ein klassisches Annähern ist das natürlich nicht, umso interessanter, extravaganter und ungewöhnlicher erscheint hier die Möglichkeit, einander viel zu geben, ohne sich für die Zukunft zu irgendetwas bekennen zu müssen.

White Snail (2025)

Oxana – Mein Leben für Freiheit (2024)

OBEN OHNE GEGEN PUTIN

5/10


© 2024 X Verleih AG


LAND / JAHR: FRANKREICH, UKRAINE, UNGARN 2024

REGIE: CHARLÈNE FAVIER

DREHBUCH: DIANE BRASSEUR, CHARLÈNE FAVIER, ANTOINE LACOMBLEZ

KAMERA: ERIC DUMONT

CAST: ALBINA KORZH, MARYNA KOSHKINA, LADA KOROVAI, OKSANA ZHDANOVA, YOANN ZIMMER, NOÉE ABITA, MARIIA KOKSHAIKINA, OLESYA OSTROVSKA U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Das Kino nimmt nicht nur zeitgemäße, sondern auch längst überfällige Agenden ernst. Und keine davon erfährt derzeit mehr Unterstützung quer durch alle Genres wie jene, die zum Ziel hat, die Frau dem Mann endlich gleichzustellen. Das beginnt stets immer damit, erstmal darüber zu berichten, was alles jahrhunderte- und jahrzehntelang im Argen lag. Das beginnt bei historischen Werken wie dem italienischen Familienepos Vermiglio und reicht mit Arbeiten wie Wunderschöner proaktiv und zukunftsweisend bis in die direkte Gegenwart, die gar keine Gegenwart mehr sein will, sondern eine zuversichtliche Zukunft, in der vieles längst besser gemacht und so manch diskriminierender Gap fast schon überwunden scheint. Weil alle zusammenhalten, alle Frauen, und vielleicht auch ein paar Männer.

Dazwischen gibt es biographische Werke wie Oxana – Mein Leben für Freiheit. Deutschsprachige Titel-Anhängsel wie diese sind meist zu generisch, um wirklich mehr Aufschluss darüber zu geben, worum es in diesen Filmen eigentlich geht. Für ein Publikum, das sich schon seit jeher interessiert und aufgeschlossen hinsichtlich feministischer Bestrebungen gezeigt hat, braucht es das nicht, da reicht der Name Oksana Schatschko und der Überbegriff Femen, um zu wissen, welche gesellschaftspolitische Wissenslücke hier geschlossen werden kann. Bei Femen weiß man vielleicht noch so ungefähr, dass hier Aktivistinnen mit textilfreier Oberweite konservativen Apparatschniks das Leben schwer gemacht hatten, natürlich gewaltfrei und bereit dafür, selbst Gewalt zu erleiden, denn abgeführt wurden sie immer. Dann aber war das Ziel bereits erreicht – europäische Medien und auch jene darüber hinaus hatten, was sie brauchten. Femen wurde weltbekannt, der Finger lag in den offenen Wunden, die Saat zum Aufstand war ausgebracht. Hinter all diesen Bemühungen, Entbehrungen und offener Rebellion stand Oksana Schatschko als Gründungsmitglied einer Initiative, die das Zeug hatte, starre patriarchale Krusten aufzubrechen.

Ihr schenkt Regisseurin Charlène Favier ein filmisches Denkmal, chronologisch geordnet und gleichsam auch wieder nicht, denn was wiegt schon schwerer als das Datum des freiwillig herbeigeführten Todes? Dabei präsentiert sich Oksana nicht als Opfer für den guten Zweck, nicht als Märtyrerin oder gar moderne Heilige, die bis zur letzten Sekunde für die gute Sache kämpft. Favier stellt die junge Ukrainerin, die sich mit 31 Jahren das Leben nahm, vorallem als Künstlerin dar, die mit der Eigendynamik ihrer mitersonnenen aktivistischen Idee letztlich nicht klarkommen konnte.

Als Künstlerin oder Künstler ist man vorrangig mit sich selbst beschäftigt, der Geltungsdrang und die Selbstbestätigung durch die Bewunderung anderer ist die Ernte, die man einfahren will. Da geht es weniger um die Sache an sich als um das Ego, das im Mittelpunkt bleiben will. Seltsamerweise hätte, zumindest laut Film, Oksana dank ihrer virtuosen Darstellung provokanter Ikonen nur durch offene Türen treten müssen, um nochmal ganz groß durchzustarten – das Problem aber lag offensichtlich woanders. Eine Dunkelheit, die Favier scheinbar ausspart und nicht näher ergründen will. Somit bleibt Oxana – Mein Leben für Freiheit sehr an der Oberfläche, scheint fast schon Furcht davor zu haben, das Kind beim Namen zu nennen. Viel anderes muss hier in diesem Leben schiefgelaufen sein, doch das Psychodrama bleibt außen vor. Als Biografie, die sich in den letzten Lebenstag des 23. Juli 2018 einbettet, bleibt Oxana – Mein Leben für Freiheit konventionell und routiniert. Die Ukrainerin Albina Korzh gibt der Femen-Ikone ein hübsches Gesicht, doch das ist auch schon alles. Bewegend mögen, wie so oft in Biografien, die Fakten sein, der Bezug zur jüngeren Geschichte Europas, die in einer Dokumentation aber genauso zu finden sind.

Oxana – Mein Leben für Freiheit (2024)

Klondike (2022)

MIT DEM KRIEG AUF DER COUCH

8/10


klondike© 2023 ZDF / Foto: Sviatoslav Bulakovskyi


LAND / JAHR: UKRAINE, TÜRKEI 2022

BUCH / REGIE / PRODUKTION / SCHNITT: MARYNA ER GORBACH

CAST: OXANA CHERKASHYNA, EVGENIY EFREMOV, ARTUR ARAMYAN, OLEG SHCHERBINA, SERGEY SHADRIN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Manche Filme stellen Dinge mit einem an, die lassen sich nicht voraussehen. Damit meine ich nicht, dass sie nachhaltig verstören und man als Zuseher Zeit braucht, um das Gesehene zu verarbeiten. Manchmal braucht es nicht den Schockeffekt als alleiniges Mittel, um das Publikum mitzureißen. Manchmal sind es höchst ungewöhnlich gesetzte Prioritäten oder eine der dramatischen Intensität des Gezeigten entgegenlaufende Dynamik, die erstmal irritiert, dann vielleicht sogar langweilt – in letzter Instanz aber genau dadurch zu einer Conclusio findet, die sowohl auf der Metabene des Films als auch in der ganzen augenscheinlichen Handlung funktioniert. Klondike von Maryna Er Gorbach ist so ein Werk. Ein nüchterner Lokalaugenschein, eine semidokumentarische Chronik unheilvoller Ereignisse und ein zutiefst humanistisches Manifest gegen den Irrsinn eines politischen Konflikts, dem nichts heilig ist, außer dass er die menschenverachtenden Mittel heiligt, die dem Zweck dienen sollen. 

Zu solch ähnlichen Erkenntnissen kommen Antikriegsfilme des öfteren. Alles sinnlos: Der Krieg, die Opfer, der Konflikt um gezogene Grenzen – letzten Endes nichts wert. So auch im Osten der Ukraine im Jahr 2014. Separatisten, die den Donpass längst schon unter russischen Fittichen sehen wollen, kämpfen gegen die ukrainische Regierung. Es herrscht lokaler Bürgerkrieg, der autoritäre Nachbar füttert von jenseits der Grenze seine Stellvertreter. Wir wissen längst, und spätestens seit Februar 2022, wohin das führen wird. Damals noch war alles etwas anders, aber nicht weniger erschütternd. In Klondike (naheliegend, dass dieser Titel auf den amerikanischen Goldrausch und seine Folgen anspielt – der auch anderswo entsprechend eskaliert, nur ist es eben Kohle statt Gold) steht ein Ehepaar im Mittelpunkt, das ihren kleinen Bauernhof unglücklicherweise direkt im Kriegsgebiet zur Selbstversorgung betreibt. Toliks Frau Irka ist hochschwanger und müsste bald ins Krankenhaus. Dumm nur, dass die Region von Separatisten abgesperrt wird, die beiden können nirgendwo hin. Ein Passagierflugzeug der Malaysian Airlines wird abgeschossen – ich bin mir sicher, wir alle erinnern uns noch, als dieses Unglück die Titelseiten dominierte. Die Gegend ist von Trümmern des Wracks übersät, überall liegen Leichen. Um der ganzen zerfahrenen Situation auch noch die Krone aufzusetzen, wird das Haus von Tolik und Irka von einem Geschütz getroffen und reißt die ganze Wohnzimmerfront ein. So sitzen die beiden nun auf der verstaubten Couch direkt vor dem klaffenden Loch mit Blick aufs Kriegsgebiet, von wo aus bald selbstgefällige Warlords heranrücken werden, um den beiden auch noch den letzten Rest nicht nur an Würde, sondern auch an Nahrung zu nehmen.

Wie sich erkennen lässt, ist Klondike wahrlich kein Film, der für gute Stimmung sorgt. Er stochert aber auch nicht zum Selbstzweck in offenen Wunden herum, nur um die Latte der Betroffenheit beim Publikum in schwindende Höhen zu treiben. Filmemacherin Gorbach, eine Ukrainerin, die mit ihrem erst 2022 beim Sundance Filmfestival ausgezeichneten Werk auch anderswo für Aufsehen gesorgt hat, schafft durch ihre bemerkenswerte filmische Reduktion eine völlig entrückte, sich fremd anfühlende Atmosphäre, in die Zuseher ohne viel Bezug zur Materie nur schwer einsteigen könnten. Das liegt auch an der nüchternen Betrachtung der Situation, die durch seine langen, langsamen Kamerafahrten und den fast schon selbstvergessenen Beobachtungen eines mühsam zusammengehaltenen Alltags, bestehend aus Sicherheit schaffenden Ritualen, die Geduld auf die Probe stellt. Oftmals verlässt die Kamera den Ort des Geschehens und studiert im 360°-Schwenk die ganze Umgebung, um letztlich wieder an den Ausgangspunkt zurückzukehren. Das ist seltsam. Und doch erstaunlich. Mit dieser Methode kommt Klondike durch die Hintertür ins Oberstübchen seines Betrachters. Genau diese höchst ungewöhnliche Erzählweise schafft letzten Endes einen beklemmenden Sog, obwohl der Film seine Figuren auf Distanz hält – nur Irka rückt als Close-up ins Bild. Schließlich liegt in dieser Person die Kampfbereitschaft um Würde, liegt die Angst vor einer globalen Eskalation, liegt die Sorge um die nächste Generation, die als Baby ans Licht des Tages will.

Wie Gorbach alle Ereignisse zu einem bedeutungsvollen Schlussakt bündelt, gerät zum Meisterwerk des anderen Blicks. Gerät zu einem ikonischen Bild, dass mehr verkündet als jedes gesprochene Wort. Das einerseits an die Nieren geht, andererseits so sehr verblüfft und überrascht angesichts dieser schmerzvollen wie traurigen Konsequenz.

Klondike (2022)

Der Anruf

AGENTEN BEIM WEIN

6/10


deranruf© 2022 Amazon Studios


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: JANUS METZ

SCRIPT: OLEN STEINHAUER, NACH SEINEM ROMAN

CAST: CHRIS PINE, THANDIWE NEWTON, LAURENCE FISHBURNE, JONATHAN PRYCE, ORLI SHUKA, COREY JOHNSON, DAVID DAWSON U. A. 

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Wenn Chris Pine als Agent Henry Pelham aus dem Fenster seiner Wohnung blickt, dann sieht man die klassizistischen Kuppeln der Wiener Hauptmuseen – wenn man ganz genau schaut, sogar die Minoritenkirche. Da haben die Macher dieses Streifens in Städtekunde aufgepasst, was aber nun auch keinen Eintrag ins Klassenbuch lukriert, denn sonst bleibt die Kapitale Österreichs hinter generischen Gassen und Fassaden gut verborgen. Die Gloriette ist übrigens auch nicht mehr das, was sie mal war. Aber das schert die wenigsten. Mir als Wiener fällt sowas natürlich auf, wie damals schon, bei James Bond: Der Hauch des Todes, als Timothy Dalton im Cellokasten die slowakischen Alpen runterbrettert und sich vor den Toren Wiens einbremst. Das Marchfeld liegt anderswo.

Aber genug der fremdenführerischen Spitzfindigkeiten. Es geht schließlich um Superstar Chris Pine – vormals Captain Kirk und die große Liebe von Wonder Woman – und um Thandiwe Newton, Mission Impossible- und Star Wars-geeicht. Die beiden sind also auf alles vorbereitet und haben vieles gemeinsam durchgemacht – also zumindest in diesem Film, der den prickelnden deutschen Namen Der Anruf trägt, wobei: den Originaltitel All the Old Knives zu verstecken, erscheint fast schon ignorant. Weiß Olen Steinhauer (nicht verwandt mit Erwin) davon? Aber andererseits: er wird froh sein, seinen gerade mal sieben Jahre alten Roman verfilmt zu sehen, noch dazu mit solcher Spitzenbesetzung, da lässt sich ein Anruf schon ignorieren. Steinhauer wird ja praktisch als jemand angesehen, der die Kalte-Krieg-Ära eines John le Carré (der ja tatsächlich im Geheimdienst tätig war) bis in die Gegenwart und darüber hinaus weiterspinnen will. Mit Russland hat vorliegendes Werk also nur peripher zu tun, was sich in Zukunft vielleicht ändern könnte, denn der Kalte Krieg hat sich, wie es scheint, erneut aus dem Grab erhoben. Hier, in Der Anruf, wärmt Steinhauer die globale Angst vor dem islamischen Terror nochmal ordentlich auf, indem er gleich zu Beginn ein Flugzeug der (natürlich fiktiven)Turkish Alliance entführen und auf dem Flughafen von Wien-Schwechat landen lässt. Darin fordern eine Handvoll lebensunlustige Radikale die Freilassung diverser Gefangener. Glück im Unglück: die CIA hat einen ihrer Männer im Flieger, vorzugsweise inkognito – doch dieses Ass im Ärmel fällt für alle sichtbar auf den Boden. Irgendwo gibt es einen Maulwurf – die Rettung der Passagiere misslingt, der Vorfall kommt zu den Akten und Thandiwe Newton als Agentin Celia wirft das Handtuch. Acht Jahre später soll die Sache mit Flug 127 neu aufgerollt werden, Agent Harry soll der Sache nachgehen und alle damals Beteiligten nochmals unter die Lupe nehmen. Darunter auch Celia, ehemals große Liebe und vielleicht verdächtig. Beide treffen sich in Kalifornien in einem noblen Weinlokal, um die alten Zeiten – oder die alten Messer – neu zu wetzen.

Der Anruf unter der Regie von Janus Metz (Borg vs. McEnroe) trägt als Grundgerüst alle Parameter eines dialogreichen, vielleicht gar psychologisch gefinkelten Kammerspiels, in welchem aber jede Menge Rückblenden eingebettet sind, die das Ganze ausweiten zu einem tragischen Spionagedrama quer durch den Osten Europas. Da ist Tschetschenien mit im Spiel und Moskau, vor allem Wien und immer wieder mal fällt der Name Angela Merkels. Die Spurensuche nach dem Sicherheitsleck quer durch die österreichische, deutsche und amerikanische Geheimdienstpolitik gestaltet sich gemächlich, trifft sich in Kaffeehäusern oder schlägt sich den Mantelkragen im regnerisch-kalten London hoch. Dabei gehen Steinhauers Ermittlungen ähnlich wie bei John le Carré, so sehr ins Detail und greifen nach so vielen losen Fäden, dass die Übersicht langsam bröckelt. Wer nun was wo tut und getan hat und warum, mag dem Stoff schon etwas die frische Färbung nehmen. Zusehends wird alles recht grau, und der Modus Operandi muss immer wieder mal in sich gehen, was den Zuseher warten lässt.

Und doch ist Der Anruf ein Film, der die zwischenmenschlichen Emotionen, die im Angesicht globaler Katastrophen außen vorgelassen werden müssten, so sehr ins Spiel bringt wie so manches frühe Nachkriegswerk des schwarzen Spionagefilms. Die individuelle Tragödie stellt die Weltpolitik aufs Abstellgleis, das Zerbrechen des eigenen Lebenstraums läutet die nächtliche Sperrstunde ein. Und Chris Pine, der, graumeliert und mit Dreitagebart, nach George Clooney die männliche Spätromantik neu einläuten könnte, schenkt uns da bei so viel Konflikt überzeugend wehmütige Blicke.

Der Anruf

Away – Vom Finden des Glücks

DIE ENDLICHKEIT IM NACKEN

6/10


Away© 2019 Der Filmverleih


LAND / JAHR: LETTLAND 2019

BUCH / REGIE: GINTS ZILBALODIS

LÄNGE: 1 STD 14 MIN


Mach es zu deinem Projekt! Dieser Imperativ klingt ein bisschen wie die marketingtechnische Phrase einer Heimwerker-Marktkette, motiviert aber schlicht und ergreifend, das zu tun, woran das Herz dranhängt. Egal, wie lange es dauert. Im Grunde egal, wie viel es kostet. Und wenn ich es ganz alleine mache, muss ich auch niemandem Rechenschaft ablegen. Und es pfuscht mir auch niemand ins Handwerk. Fast schon paradiesisch – zumindest für einen Künstler, der das Tempo seines Workflows selber bestimmt. Beharrlichkeit ist da gefragt. Und am Ende des Tages kommt was Schönes dabei raus. Der lettische Filmemacher Gints Zilbalodis könnte über diese Art des Schaffensprozesses einiges erzählen. Sein Filmdebüt Away nämlich, das hat er ganz im Alleingang durchgeboxt. Selbst geschrieben, selbst entworfen, selbst gezeichnet und animiert. Alles in und aus einer Hand. Ein Autorenfilm, wie er klassischer nicht sein kann.

Zilbalodis Film trägt zumindest in der deutschen Übersetzung den Zusatz: Vom Finden des Glücks – was vielleicht ein bisschen den Anschein erwecken könnte, es hier mit etwas ganz Ähnlichem zu tun zu haben wie den Abenteuern aus der Feder eines François Lelord. Dessen Hector-Romane sind ja schließlich Bestseller, alltagsphilosophisch wertvoll, und sogar mit Simon Pegg ist einer davon verfilmt worden. Auch dort weilt das Glück im Titel, und auch dort ist es natürlich eine Reise weg von Vertrautem, weg von sich selbst, um sich schließlich selbst neu zu finden oder zu er-finden. Away hat aber bei weitem nicht diese unbeschwerte, augenzwinkernde Leichtigkeit – im Gegenteil. Sein Film erinnert an Motive aus dem literarischen Schaffen des Poeten, Kleinen-Prinzen-Schöpfers und Weltkriegspiloten Antoine de Saint-Exupéry, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass der Protagonist des universellen Abenteuers ebenfalls ein Pilot zu sein scheint, welcher mit dem Fallschirm auf einer namenlosen Insel hat notlanden müssen. Wir sehen den ebenfalls namenlosen jungen Mann, hilflos hängend in den Ästen des einzigen Baumes weit und breit. Dann aber wirds märchenhaft düster: Ein schwarzer Golem mit gespenstisch leuchtenden Augen schreitet durch die Landschaft und nähert sich seinem Opfer, um es vom Baum zu pflücken. Der Pilot kann dem Monster allerdings entkommen und findet sich jenseits eines steinernen Torbogens in einer Oase wieder. Dort wartet ein Motorrad und eine Tasche mit brauchbaren Utensilien. Überdies freundet sich der Bruchpilot mit einem gelben Vogel an, der von nun an nicht mehr von seiner Seite weicht. Beide beginnen eine Reise ans andere Ende der Insel, im Rücken der schreitende Gigant, der ihnen folgt.

Away – Vom Finden des Glücks ist ein zur Gänze wortloses, mitunter auch seltsam bedrückendes Sinnbild vom – wie soll ich sagen, ohne es zu pauschalisieren? – nun, vom Leben. Allgegenwärtig ist der Tod, das Vergängliche, ein riesengroßes, stummes, beängstigendes Wesen, das sich nicht abschütteln lässt, das immer sichtbar bleibt, auch aus großer Entfernung. Dessen Omnipräsenz man vielleicht nur für kurze Zeit ganz verdrängen kann. Die Kunst der Abkehr von Gedanken über das Vergängliche scheint der Protagonist immer besser zu beherrschen, währenddessen erhalten so wichtige ethische Gebote wie Freundschaft und Nächstenliebe ihre visuelle Interpretation. Zilbalodis bleibt aber konsequent meditativ, untermalt seinen Film mit situationsbedingten Geräuschen aller Art, kann aber seiner Geschichte nichts abringen, was auch nur entfernt mit Glück zu tun hat. Statt eines positiven, sinnerweckenden Weltbildes gönnt sich diese Reise nur einzelne, in sich ruhende Momente, während alles andere nichts anderes ist als die Flucht vor dem Unausweichlichen. Angesichts dieser beabsichtigten Roadmovie-Poesie scheint das ziemlich ernüchternd.

Away – Vom Finden des Glücks

Die schwarze Katze

UNIVERSAL-IKONEN IM CLINCH

5/10


the-black-cat© 1934 Universal Pictures


LAND: USA 1934

REGIE: EDGAR G. ULMER

CAST: BELA LUGOSI, BORIS KARLOFF, DAVID MANNERS, JULIE BISHOP, LUCILLE LUND, EGON BRECHER, JOHN CARRADINE U. A. 

LÄNGE: 1 STD 6 MIN


Frankensteins Monster gegen Graf Dracula? Schön wär’s. Der aus Österreich-Ungarn stammende Edgar G. Ulmer, seines Zeichens Multitasker beim Film – vom Bühnenbild über die Regie bis hin zur Produktion – trug den Begriff B-Movie fast schon als dritten Vornamen. Zweitklassige Filme, in denen es an allen Ecken und Enden mangelte. Oft schrieb Ulmer seine Drehbücher selbst. Hin gehudelt während des Frühstücks oder am Lokus. Innerhalb weniger Tage waren diese Filme dann auch schon abgedreht. Doch was zählte, war die Resonanz des Publikums, und die war gut. Bei Die schwarze Katze geradezu phänomenal. Mit der gleichnamigen Erzählung von Edgar Alan Poe hat dieser nette Versuch eines Psychothrillers aber nichts zu tun, obwohl dieser im Vorspann steht. Den beiden Universal-Ikonen mag das egal gewesen sein, die waren damit beschäftigt, in diesem kruden Streifen aufeinander loszugehen. Und Ulmer? Der huldigt hier seiner alten Heimat Österreich-Ungarn. Schauplatz ist das Land der Magyaren, manch eine Biographie der Figuren hat österreichischen Bezug.

Worum es also geht? Um ein Ehepaar auf der Hochzeitreise durch Ungarn, das aufgrund eines Autounfalls bei Regen die Hilfe des obskuren Dr. Werdegast annehmen muss, der wiederum jemanden kennt, der eine neumodische Villa auf dem Hügel einer kriegshistorisch bedenklichen Ruhestätte errichtet hat. Dort suchen sie Zuflucht, während sich die Gattin auskuriert. Dieser Herr im Haus, genannt Poelzig, ist noch rätselhafter als Werdegast. Bald wird klar: letzterer ist dem Hausherrn nicht gut gesonnen – ganz im Gegenteil: er sinnt nach Rache aufgrund vergangener Schmach. Den beiden frisch Vermählten hingegen dämmert bald, das irgendetwas in diesen vier Wänden verhindert, dass die beiden wieder weiterreisen.

Boris Karloff ist ein Charakter, so einen gibt’s auch kein zweites Mal. Der grimmige, diabolische Blick, das bedächtige Wandeln durch den Flur. Längst nicht so grobschlächtig wie als Frankenstein, mehr wie der untote Pharao aus Die Mumie. Bela Lugosi hingegen gibt den Geschmeidigen, den Gutmenschen. Der Moment, wenn sich die beiden dann in die Haare geraten, ist sehenswert. Der Schauplatz – eine moderne Villa im Stil der Neuen Sachlichkeit, mitsamt morbid-musealem Kellergewölbe, ebenso. Sonst aber bietet der lediglich 66 Minuten lange Streifen recht behäbige Unterhaltung. Die schwarze Katze ist ein Film, der seine Zeiten nicht ganz so schadlos überdauert hat wie manch anderer Klassiker. Aus gegenwärtiger Sicht betrachtet, ist sowohl inhaltlich als auch dramaturgisch jede Menge Luft nach oben. Immer dann, wenn’s pikant wird, leiten grobe Schnitte zur nächsten Szene über. Vieles sieht man erst gar nicht, obwohl es stattfindet, vielleicht aus Kostengründen eingespart. Das geht fast schon in Richtung Ed Wood, von Liebe zum Detail kann man nicht gerade schwärmen. Das Frauenbild ist fragwürdig, ja geradezu sexistisch. Die Prise Teufelskult verleiht dem Thriller auch nicht die Würze, die er aus heutiger Sicht vielleicht gebraucht hätte.

Die schwarze Katze ist insofern kurios, da die Hintergründe zum Film, dessen Stars und Regisseur wohl interessanter sind als das Werk selbst.

Die schwarze Katze

Attraction

ALIEN NON GRATA

6/10

 

attraction© 2017 Capelight Pictures

 

LAND: RUSSLAND 2017

REGIE: FJODOR BONDARTSCHUK

MIT OLEG MENSHIKOV, ALEXANDER PETROV, IRINA STARSHENBAUM U. A. 

 

So ein Pech aber auch: Da betreibt man als außerirdische Intelligenz Feldforschung im Geheimen, und tut alles daran, um nicht aufzufallen. Und dann das! Ein Asteroidenschauer, der das fremde Raumschiff von seinem Inkognito-Status befreit und in die Atmosphäre des Planeten Erde schleudert. Für einen stofflichen Körper ist so ein Eintritt nicht gerade angenehm. Das Vehikel wird selbst zum Meteor und glüht dem Erdboden entgegen. Doch damit nicht genug. Zusätzlich zur Arschkarte, die die Aliens gezogen haben, gesellt sich der schwarze Peter in der Gestalt von Abfangjägern dazu, die den Eindringling unterstützend vom Himmel holen. Und aus dem doppelten wird dreifaches Pech – das Ding geht über bewohntem Gebiet nieder. Was an sich schon relativ unwahrscheinlich ist. Da muss man schon richtiges Bad Karma haben, damit sowas passiert. Normalerweise wäre ein Eintauchen in den Ozean oder eine Landung auf unbewohnten Gebieten das plausiblere Szenario. Aber sei´s drum, wie es der Zufall so will, kracht das einem Perpetuum Mobile ähnliche Schiff nach verheerendem Kollateralschaden zwischen die Plattenbauten eines Moskauer Vorortes. 

Wenn man jetzt erwartet, dass der russische ÖAMTC mitsamt Rettung im Schlepptau herangeschneit kommt, hat man sich gehörig geschnitten. Das Raumschiff ist auf der Erde gelandet, nicht auf irgendeinem anderen Planeten! Also wird das Gebiet abgesperrt und das UFO erstmal nicht willkommen geheißen. Alles, was fremd ist, ist mal potenziell gefährlich. Vor allem, wenn es von anderen Planeten kommt. Da haben die Amerikaner ja schon ganz andere Erfahrungen gemacht. Verheerende, um genau zu sein. Wie kann dann dieses Ding da in Frieden kommen? Am besten ist es, abzuwarten und die Sache auf sich beruhen zu lassen. Vielleicht repariert sich das Ding von selbst und verschwindet wieder. Doch so viel Selbstbeherrschung ist Homo sapiens nicht zuzutrauen. Da braucht es nicht lange, und aggressive Xenophobie zieht eine weitere Schneise der Verwüstung bis hin zum Objekt ihres Hasses. 

Dabei ist es nur ein Schiff. Das war es bei Neil Bloomkamp´s Alien-Parabel District 9 genauso. Nur um einiges größer. Und mit viel mehr Besatzung. Wohin damit? Nun, in ein Township, wie in den Zeiten der Apartheid die schwarze Bevölkerung Südafrikas. In Attraction sind es nur eine Handvoll Aliens. Und als Alien ist man unter Menschen Persona non grata. Haben die alle zu viel Roland Emmerich-Filme gesehen? Mitnichten. Der Mensch ist laut Regisseur Fjodor Bondartschuk weit davon entfernt, für so eine weltbewegende Begegnung bereit zu sein. Vielmehr ist sein Erdenbürger noch ein Kind, das auf das Unerklärliche und Unverstandene mit Wut und Angst reagiert, egal, welchen Grund das Eindringen des Fremden in die vermeintlich heile Welt des russischen Alltags hat. Solange wir Menschen nationale Grenzen ziehen, Flüchtlingsrouten schließen und Asylantenheime anzünden, ist hier auf Erden für einen Besuch von ganz weit Außen lange noch nicht aufgeräumt. Der Streit der Ethnien um Grund und Boden und die Religionen der Rechthaberei, Kräftemessen mit Nuklearwaffen und das Töten Ungläubiger gibt dem Universum wieder mal ein gutes Gefühl, seine benachbarten Sonnensysteme und Galaxien in Lichtjahren Entfernung zu platzieren, denn die Erde, die ist für Fremde kein einladender Ort. Doch manch ein Terraner oder eine Terranerin fühlt sich zu den humanoiden Astrobiologen dann aber doch irgendwie hingezogen – daher auch der Titel des Filmes. Was aber die Situation auch nicht viel besser macht.

Die russische, tricktechnisch beeindruckende Großproduktion ist bei Weitem besser gelungen als der Superhelden-Actioner Guardians, war in den Kinos im IMAX-3D-Format zu sehen und wartet mit leinwandfüllenden, opulenten UFO-Bildern auf. Die zwar etwas zu lang geratene, weniger unheimliche Begegnung der dritten Art ist ein teils derbes, teils augenzwinkerndes Gleichnis von der Xenophobie und der Entwertung des Ungleichen mit Darstellern, die mal mehr mal weniger ihren emotionalen Anforderungen gerecht werden. Doch unterm Strich ist der Mix zwischen Independence Day, District 9 und Der Mann der vom Himmel fiel ein durchaus solides Stück osteuropäisches Science-Fiction-Kino.

Attraction