Queer (2024)

IM SCHWEISSE KOSMISCHEN ANGESICHTS

7,5/10


queer© 2024 MUBI


LAND / JAHR: ITALIEN, USA 2024

REGIE: LUCA GUADAGNINO

DREHBUCH: JUSTIN KURITZKES, NACH DEM ROMAN VON WILLIAM S. BURROUGHS

CAST: DANIEL CRAIG, DREW STARKEY, JASON SCHWARTZMAN, LESLEY MANVILLE, ANDRA URSUTA, MICHAËL BORREMANS, DAVID LOWERY, HENRY ZAGA, DREW DROEGE U. A.

LÄNGE: 2 STD 15 MIN


Sieht man sich das schauspielerische Oeuvre von Daniel Craig an, so fällt auf, dass gerade seine finanziell erfolgreichste Rolle des 007-Agenten James Bond im Grunde wohl am wenigsten das schauspielerische Können des smarten Briten illustriert. Seine Bond-Interpretation mag etwas stiernackig und verbissen wirken – ein Charakter, den Craig liebend gerne gegen andere tauscht, die dem Image des charmant-chauvinistischen Actionhelden zuwiderlaufen oder dieses geradezu konterkarieren. Die schmissige Hercule Poirot-Hommage des Benoit Blanc aus Knives Out war da schon ein erster Schritt in die für Craig ideale Richtung. Jetzt kommt das Sahnehäubchen obendrauf, jetzt darf der lange im Dienste der Broccolis gestandene, leidenschaftliche Akteur Dinge tun, die Tür und Tor aufstoßen in eine regenbogenfarbene Vielfalt an verlorenen, verkorksten, herumirrenden Gestalten, die sich in ihren Schwächen verlieren. Und dies mit ausgesuchter Leidenschaft.

Luca Guadagnino, seines Zeichens Meister im Abbilden verlorener Sehnsüchte – siehe Call Me By Your Name – weiß, was er gewinnt, wenn er Craig besetzt. Für ihn ist dieser ein in hellen Leinenanzügen gekleideter, ungehemmt dem Alkohol und allerlei Drogen zugetaner Privatier mit Fedora auf dem Kopf und genug Geld in den Taschen, um den lieben Gott tagelang einen guten Mann sein zu lassen. Aufgrund seiner Liebe zu rauschigen Stoffen aller Art hat William Lee den Staaten der Rücken gekehrt. Hier, in einem pittoresken, fast unwirklichen Mexiko City der Fünfzigerjahre, ist das Leben ein ewiger Zyklus aus Barbesuchen, Aufrissen und Trunkenheit. Was Lee allerdings begehrt, sind, wie der Titel schon sagt, Männer knackigen Alters, die des Nächtens für die nötige Süße sorgen sollen. Eine Affäre folgt der anderen, bis der Ex-Soldat Eugene Allerton (Drew Starkey aus Outer Banks) Lees Wege kreuzt. Ab diesem Moment ist es aus und vorbei mit der kunterbunten Auswahl an Bettgesellen. Eugene bedeutet mehr, obwohl dieser, eigentlich hetero, nur des Geldes wegen mit dem betuchten Lebemann ins Bett steigt. Alles sieht danach aus, als wäre diese Romanze zum Scheitern verurteilt, als eine gemeinsame Reise in den Dschungel Perus nebst schweißnassem Entzug auch die Entdeckung eines Rauschmittels mit sich bringt, die das Leben der beiden für immer verändern wird.

Die Vorlage zu Queer lieferte 1985 niemand geringerer als der Meister der literarischen Beat-Generation: William S. Burroughs. Der Konnex zum Kino: Dessen Kultbuch Naked Lunch, ein als unverfilmbar geltendes Sammelsurium an Grenzerfahrungen durch Drogeneinfluss, hatte sich Anfang der Neunziger David Cronenberg zu Herzen genommen. Guadagnino kann es besser. Sein psychologisches Drama einer Reise ins Unbekannte war dieses Jahr der Überraschungsfilm der Viennale und ist deutlich leichter verständlich als der zu Papier gebrachte bizarre Wahnsinn aus Tausendfüßern, Alienwesen und kriminellen Verschwörungen. Daniel Craig liefert in der ersten Hälfte des Films, die sich handlungsarmen Betrachtungen hingibt, dafür aber auf Stimmung setzt, das grenzlabile, psychologisch durchdachte Portrait eines Ruhelosen und Verlorenen, einer zutiefst einsamen Seele, die dem wahren Glück näherkommen will, indem sie sich überall sonst, nur nicht in sich selbst verliert. Der bittersüßen Liebesgeschichte schenkt Craig das schmachtende, fieberhafte Zittern eines Süchtigen. Guadagnino lässt dabei, wie schon in Call Me By Your Name, malerischen Sex unter Männern nicht zu kurz kommen. Hier ist er ein Ausdruck von Nähe und weniger die pure Befriedigung.

Es wäre aber nicht Burroughs, wenn dieses flirrende Delirium von Film nicht vollends in einen surrealen Albtraum kippen würde, der im tropischen Dschungel den irreversiblen Schritt in halluzinogene Welten wagt, um hinter den Vorhang des Realen zu blicken. Queer wird zum selbstvergessenen Horrortrip, verrückt bebildert, kosmisch aufgeladen und bewusstseinsverändernd. Wie Guadagnino diese Brücke schlägt, ist gewagt, gelingt aber dank Craigs beharrlichen Ego-Eskapaden so überzeugend, als hätte Captain Willard aus Apocalypse Now am Ende seiner Reise festgestellt, General Kurtz gäbe es nur in seiner vom Kriegswahn gezeichneten Vorstellung. In Queer ist es der Drogenwahn, dem man am liebsten zu zweit frönt. Und so eigentümlich dieses Psychodrama sich auch anfühlt – so, als könnte man sich kaum etwas Erbauliches mitnehmen aus diesem Dilemma – sickern Filme wie Fear and Loathing in Las Vegas ins Gedächtnis: Auch dieser nur ein Trip in die fantastischen Welten psychedelischer Substanzen.

Guadagninos Psycho-Abenteuer ist eine Überdosis Burroughs – der Wahnsinn kommt nicht überraschend. Sein existenzialistischer Schlussakkord wiederum erinnert an Lovecraft. Oder, um es anders auszudrücken: Der transzendente Abenteuerfilm ist zurück. Und Craig gibt ihm Seele.

Queer (2024)

Back to Black (2024)

VOM WERT DES WELTRUHMS

6,5/10


backtoblack2© 2024 Dean Rogers, STUDIOCANAL SAS


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2024

REGIE: SAM TAYLOR-JOHNSON

DREHBUCH: MATT GREENHALGH

CAST: MARISA ABELA, LESLEY MANVILLE, EDDIE MARSAN, JACK O’CONNELL, JULIET COWAN, BRONSON WEBB, ANSU KABIA, SAM BUCHANAN U. A.

LÄNGE: 2 STD 2 MIN


Janis Joplin, Jim Morrisson, Jimi Hendrix – und Amy Winehouse. Sie alle gehören, mit einem gewissen Zynismus betrachtet, zum Klub 27. Sie haben ein Leben gelebt, das nicht mal drei Dekaden gedauert hat. Sie wurden weltberühmt, Fans lagen ihnen zu Füßen, Türen und Tore waren geöffnet, und dennoch scheiterten sie daran, das, worauf es ankam, halten zu können. Im Juni 2011 starb Amy Winehouse aufgrund einer Alkoholvergiftung nach einer längeren Phase der Enthaltsamkeit, wie uns am Ende des nun in den Kinos angelaufenen Biopics letzte Zeilen informieren. Eine große Stimme, unverwechselbare Musik, und dennoch ist das, was Menschen wie Winehouse in die Geschichte eingehen lässt, eben nicht das, was ein gutes Leben wohl ausmachen würde. Ein gutes Leben, das wäre Beständigkeit, Geborgenheit und Zusammenhalt, Liebe und Treue. Back to Black sieht sich als Künstlerinnendrama weniger in der Pflicht, eine Chronik des jähen Erfolgs abzuliefern als vielmehr, den Alltagsmenschen Amy Winehouse losgelöst von all diesem Tamtam rund um ihre Person darzustellen, in der Erzählform einer Charakterstudie, die ankommt.

Back to Black setzt da an, wo alle Welt beginnt, die Stimme von Amy Winehouse zu bewundern. Manager werden hellhörig und handeln Deals mit dem Label Island Records aus, es dauert nicht lange, da schwappt der Erfolg nach dem ersten Albums Frank mit titelgebendem Meisterwerk auch nach Übersee in die Staaten über. Und wer mal, das wissen wir seit Falco, dort die Nummer Eins in den Charts erklommen hat, kann höher nicht mehr steigen. Die Talfahrt muss irgendwann folgen, denn Wundernummern, die auf der ganzen Welt gleichermaßen ins Ohr gehen, lassen sich auch nicht so einfach aus dem Ärmel schütteln. Was Amy Winehouse aber an diesem Punkt von allen anderen Künstlern unterscheidet, die am Leistungsdruck, den Erwartungen und all der Öffentlichkeit letztlich scheiterten, sind die gänzlich anderen Prioritäten, die Winehouse gesetzt hat. So platt und pseudoromantisch es auch klingen mag, hinter all dem Tun und den Treiben von Winehouse stand am Ende nur noch ein einziger Motor. Und dieser hieß: Lover Blake Fielder-Civil (Jack O’Connell). Diese nicht gerade hellste Kerze auf der Torte und ein Freund aller Substanzen, die man illegal inhalieren kann, sollte zur großen und einzig wahren Liebe des stimmmächtigen Soulstars werden. Und auch zu dessen größter Prüfung. Mit einem wie Blake lassen sich genussvoll toxische Beziehungen leben, und es ist ja nicht so, als wäre Winehouse ein einfacher Mensch gewesen. Newcomerin Marisa Abela scheint dafür bestens geeignet, dieser komplexen, stark nach Perfektion im Lebensglück fixierten jungen Frau mit all ihren Stärken und Schwächen gerecht zu werden. Und nicht nur das: Alle Musikstücke von Amy Winehouse hat Abela selbst eingesungen, und bewundernswerterweise kommt ihre Interpretation der Lieder der Originalstimme deutlich nah.

Sam Taylor-Johnson, die mit Nowhere Boy über die Anfänge der Kultband The Beatles bereits Musikgeschichte adaptiert hat, beißt sich zum Glück nicht daran fest, Winehouses Biographie klar zu strukturieren. Die Jahre ihres Erfolges und ihres privaten Unglücks fließen ineinander, niemals ist klar, wann was wo gerade stattfindet, es sind Szenen aus einem Leben, von welchem es Bilderalben voll von Paparazzi-Fotografien geben muss, so sehr rückte die Presse Winehouse auf die Pelle. Doch selbst das, und gerade das – Ruhm, Erfolg, Geld – blieb ihr zeit ihres kurzen Lebens egal. Stand by your Woman könnte man sagen, und dazu gehört auch, sich nicht mal in für andere womöglich peinlichen Situationen aus Suff und impulsivem Verhalten zu verstellen. So gesehen war diese Musikerin, wenn man Johnsons Portrait Glauben schenken will, ein Mensch der Extreme, der lieber Pech im Spiel und dafür Glück in der Liebe gehabt hätte.

Back to Black setzt Marisa Abela, mit Turmfrisur und Augenschminke, bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit ikonisch in Szene, es ist eine Hommage an eine Jahrhundertstimme, die Lieder für die Ewigkeit intonierte und noch so viel zustande hätte bringen können, wäre die Liebe ihres Lebens jemand anderer gewesen, jemand mit Beständigkeit. Vielleicht mag man dem Film vorhalten, sich zu sehr auf seine Hauptdarstellerin verlassen zu haben, und wenn nicht auf die Hauptdarstellerin, dann auf die Musik. Rechnet man diese Faktoren weg, bleibt eine handwerklich routinierte Regie übrig, und ein Film, über den man nicht reden wird, denn worüber man einzig und allein reden wird, ist Amy Winehouse – so, als hätte man einen Nachruf gelesen, dessen sprachliche Wucht vor dem emotional aufgeladenen biografischen Notizen wohl niemals verlangt werden wird.

Back to Black (2024)

Mrs. Harris und ein Kleid von Dior

KLEINE LEUTE KOMMEN IN MODE

7/10


MrsHarrisundDior© 2021 Ada Films Ltd – Harris Squared Kft


LAND / JAHR: FRANKREICH, GROSSBRITANNIEN, UNGARN 2022

REGIE: ANTHONY FABIAN

CAST: LESLEY MANVILLE, ISABELLE HUPPERT, LAMBERT WILSON, ALBA BAPTISTA, LUCAS BRAVO, ROSE WILLIAMS, JASON ISAACS, ELLEN THOMAS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 56 MIN


Das Kino tischt uns Märchen auf. Und ja, das soll es. Der Pflicht, uns über alle möglichen offenen Wunden zu informieren, die wir bereits hinterlassen haben oder gerade hinterlassen, kommt das Medium Film ohnehin mehr nach als uns lieb ist. Um Probleme zu wälzen braucht man kein Kino, Unglück gibt’s so nämlich auch genug. Warum nicht wieder das Glück suchen wie damals, während des Krieges oder in der Nachkriegszeit, noch vor dem Wirtschaftswunder, wo noch niemand satt wurde und die alliierten Mächte Europa derweil noch besetzt hielten? Da war das Kino noch ein wunderbarer Ort des Eskapismus. Dank Inflation, Klimawandel, Menschenrechte und Krieg ist es wieder an der Zeit, die heile Welt auf den Plan zu rufen – die aber, wenn man genauer hinsieht, gar nicht so heil daherkommt. Es ist nur eine, die hinbekommt, woran wir verzweifeln. Wo alles gut wird, während wir in manchen Dingen noch kein Licht am Horizont ausmachen können.

Die Hoffnung stirbt womöglich zuletzt im dunklen Kinosaal. Oder auch nie. Vielleicht muss man nur seinen Wünschen nachhängen, seinen Idealen und noch so absurden Träumen. Ja, ich weiß, es klingt kitschig, aber die kleine, aufgeweckte und stets höfliche Mrs. Harris, die hält solche Binsenweisheiten für einen löblichen Versuch, einen Schritt dorthin zu tun, wo noch nie ein Normalsterblicher mit dem Gehalt einer Putzfrau hingekommen ist: In die Welt des Establishments. Genauer gesagt: In die Welt von Christian Dior.

Mrs. Harris goes to Paris – der charmante Reim geht in der deutschen Übersetzung leider verloren – beruht auf dem Roman des Schriftstellers Paul Gallico und wurde bereits zweimal verfilmt. Allerdings in Dekaden des 20. Jahrhunderts, in welchen ich diesen Stoff wohl nicht eingeordnet hätte, atmet der doch, wie eingangs erwähnt, die Luft der Zuversichtlichkeit neu gewonnener Freiheiten der 50er Jahre. Doch zumindest tritt in einer der beiden vorangegangenen Werke Angela Lansbury auf, in der anderen Inge Meysel. Diese Version hier, mit Leslie Manville als wirklich bezaubernde ältere Dame mit ganz viel Power im Herzen, beglückt womöglich auch ein zynisches und weltkritisches Publikum, zumindest wird diesem vielleicht etwas wohliger in seinen gepolsterten Kinositzen, und der Verzicht auf die zwei, drei Ballkleider, den unsere niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner zwecks Inflationsoffensive empfehlen würde, ließe sich vielleicht nochmal überdenken. Ein solches Kleid könnte Frau ja besitzen, einfach, um sich dabei besser zu fühlen. Und die soziale Untersicht, der man zwar dankbar ist, die man jedoch nicht wirklich wertschätzt, könnte ein bisschen am Luxus schnuppern.

So fliegt Mrs. Harris das Glück in Form von wundersamen Finanzspritzen regelrecht in die Geldbörse. Eine satte Fußballwette und die Witwenrente des im Krieg verstorbenen Mannes machen es möglich, dass die resolute Dame plötzlich bei einer Fashion Show in den heiligen Hallen der Pariser Dior-Nähstätte reinschneit. So jemand ohne Klasse wird von oben herab beäugt, und selbst Isabelle Huppert als Diors rechte Hand weiß nichts mit der selbstbewussten Putzfrau anzufangen. Doch der Himmel ist ihr auch hier gewogen – und das Kleid ihrer Träume rückt näher, während draußen auf den Straßen die Müllabfuhr streikt und die Wirtschaft den Bach runtergeht.

Diesen dezent kritischen Seitenhieb auf den gegenwärtigen Zustand von Haben und Nichthaben leistet sich dieses auf noble Art konservative Märchen trotz all den Sternen, die man Lesley Manville vom Himmel holt. Selbst in einem Film wie diesen ist nicht alles eitel Wonne, und oft passiert es und das eigene Glück ist in Wahrheit das eines anderen. Wie Manville also von der unterschätzten Haushaltskraft zum funkelnden Stern aufblüht, ist fast ein bisschen My Fair Lady, fast ein bisschen Aschenputtel. Prinzen gibt es aber nur für andere, wie zum Beispiel für die sagenhaft schöne Alba Baptista (Warrior Nun), denn alles kann Mrs. Harris auch nicht haben. Die Genügsamkeit im Träumen selbst ist schon mal ein guter Anfang, um von der Welt nicht allzu sehr enttäuscht zu werden, wenn manches nicht klappt. Dass Mrs. Harris und ein Kleid von Dior lediglich den Klassenkampf zu einem guten Ende bringen will, ist Grund genug, der so entrückten wie naiven Schicksalskomödie als neuen Trend im Kino eine Chance zu geben. Ein guter Mensch soll ja auch was davon haben, gut zu sein, oder nicht?

Mrs. Harris und ein Kleid von Dior

Die Misswahl – Der Beginn einer Revolution

WAS FRAUEN WOLLEN

7/10


misswahl© 2020 eOne Germany


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN, IRLAND, AUSTRALIEN 2020

REGIE: PHILIPPA LOWTHORPE

CAST: KEIRA KNIGHTLEY, JESSIE BUCKLEY, GUGU MBATHA-RAW, GREG KINNEAR, RHYS IFANS, LESLEY MANVILLE, SUKI WATERHOUSE U. A. 

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Wer ist die Schönste im ganzen Land? Diesen Umstand im Rahmen einer Gala fürs Establishment zu zelebrieren, ist nicht das eigentliche Problem. Schönheit, so subjektiv sie auch sein mag, muss sich nicht verstecken. Das wirkliche Problem, mit dem die Frauenrechtlerinnen Anfang der Siebziger Jahre und auch heute noch zu kämpfen haben, ist der Umstand, dass diese Frauen eben nur als das gesehen werden: als reizvolle Objekte mit den richtigen Maßen und Kurven. Das, finden diese anderen Frauen, ist einfach zu wenig. Ist vielleicht gut, aber zu wenig. Gleiche Chance für das weibliche Geschlecht in Beruf, Bildung und Karriere wäre wichtiger: da lässt sich selbst heute noch ordentlich dran feilen – wie prekär muss die Lage  wohl vor 50 Jahren gewesen sein? Da hieß es: nichts wie raus auf die Straße und demonstrieren. Aufstehen für etwas, das endlich mal Sinn macht.

Das britische BBC Entertainment, das ja stets eifrig dabei ist, historische Biographien und ebensolche Wendepunkte kinematographisch aufzubereiten, um so Unterhaltung und Allgemeinwissen für das filmaffine Volk zu kombinieren, nimmt sich mit Die Misswahl – Der Beginn einer Revolution (besserer Titel wie so oft im Original: Misbehaviour) den Aktionismus medienwirksamen Ungehorsams zur Brust, indem Regisseurin Philippa Lowthorpe jene Ereignisse nacherzählt, die dem wütenden Zwischenfall bei der Miss World Zeremonie 1970 vorausgegangen waren (Keine Sorge: das Happening selbst bekommt sehr wohl auch seine Sendezeit). Die Misswahl beobachtet auf mehreren Fronten gleichzeitig – insgesamt sind es vier. Da wäre die Storyline rund um Entertainer Bob Hope (großartig herablassend und gleichzeitig charmant: Greg Kinnear), der letzten Endes auf der Showbühne die meiste Häme kassiert. Da wäre die Storyline rund um den Miss World-Organisator Eric Morley, gespielt von Notting-Hill-Faktotum Rhys Ifans als geschäftiger Allrounder. Da wäre die Storyline rund um Gugu Mbatha-Raw als Grenadas Schönheitsgöttin und eben jene um Keira Knightley sowie die draufgängerische Jessie Buckley, die anfangs das eine und das andere Ende der Frauenbewegung bilden, letzten Endes aber an einem Strang ziehen, wenn die Katze aus dem Sack soll. Ein klug gecastetes Ensemble vereint sich um ein straffes Script, dessen Szenen richtig getimt und genau da sind, wo sie hingehören 

Die Misswahl überlässt als zeitgeschichtliche Chronik natürlich nichts dem Zufall – wie denn auch. Die Fakten stehen geschrieben, das ist es nur gut und recht, ihnen auch emotional und wohlrecherchiert gerecht zu werden – künstlerische Freiheiten außen vorgelassen, die müssen sein, sonst wär´s recht trocken. Was Die Misswahl sicher nicht ist. Vielmehr ein kluges Panoptikum aus eigenwilligen Patriarchen, dem schillernden Showbiz und nachhaltigen Mutmacherinnen.

Die Misswahl – Der Beginn einer Revolution

Hampstead Park

HÜTTENZAUBER MIT IRISCHEM EISBÄR

4/10

 

hampsteadpark© 2017 Splendid Film

 

LAND: GROSSBRITANNIEN 2017

REGIE: JOEL HOPKINS

MIT DIANE KEATON, BRENDAN GLEESON, LESLEY MANVILLE U. A.

 

Hätte sich Bud Spencer einmal dazu durchgerungen, einen Ausflug ins Genre des romantischen Films zu wagen, hätte man ihm die Rolle des unangepassten Parkbesetzers Donald Horner an den stämmigen Leib schneidern können. Allerdings wäre der Neapolitaner wohl nicht als Ire durchgegangen, was aber mit einer kleinen Drehbuchadaption sofort kein Problem mehr gewesen wäre. Anstelle des bärtigen Riesen tritt ein anderer seiner Art – Brendan Gleeson. Dem breiteren Publikum bekannt als Mad Eye Moody aus dem Harry Potter-Universum. Cineasten wohl auch aus Calvary oder Brügge sehen… und sterben? ein Begriff. Der wuchtige Brummbär mit rotem Haar und weißem Eisbärbart macht in dem bis zur Arthritis ungelenken Liebesfilm für ausgesucht ältere Semester als einziger eine annehmend gute Figur. Gleeson ist es auch gewesen, der mich dazu bewogen hat, nach rund einer halben Stunde periodisch auftretender Selbstreflexion aus dem Film nicht auszusteigen, ließ er mich doch in jeder Szene wissen, dass Kinogeher unter 60 in Hampstead Park im Grunde nichts verloren haben. Und das ist schon etwas eigenartig. Natürlich sehe ich selbst sehr gerne Filme, die vom Leben, Lieben und Leiden der älteren Generation erzählen. Da gibt es Kinoperlen wie Nebraska, About Schmidt oder Die Brücken am Fluss. In ihrer Erzählweise sind es aber so außergewöhnlich konzipierte Geschichten, die dem jungen Publikum niemals das Gefühl geben, unerwünscht zu sein. Das liegt vielleicht am Beweggrund, warum man den einen oder anderen Film überhaupt macht. Oft sieht man Werken dieser Art an, wozu und für wen sie realisiert wurden. Will die Produktion marketingtechnisch tatsächlich nur eine Zielgruppe ansprechen anstatt ein vielfältiges Zuschauerspektrums, so lässt sich das kaum verbergen. Das passiert zum Beispiel bei Joel Hopkins´ Parkspaziergang.

Wobei dem Streifen im Grunde eine reizvolle Geschichte innewohnt: Eine hochverschuldete Witwe aus dem gehobenen Mittelstand stößt durch Zufall auf einen durchaus gesitteten Eigenbrötler und Aussteiger, der sich prompt in die Dame verguckt und des Weiteren um seine unrechtmäßige häusliche Existenz im Hampstead Park fürchten muss. Mit Diane Keaton und eingangs erwähntem Brendan Gleeson kann das reife Alltagsmärchen durchaus für kauzig-emotionale Stimmung sorgen. Sowas wie Zoff in Beverly Hills, muss aber längst nicht so grotesk und satirisch sein. Da kann auch ein Jack Nicholson-Gehabe durchaus reichen. Doch nichts davon entsprach letzten Endes den Erwartungen. Hampstead Park ist wie ein Döblinger Kaffeekränzchen mit gesellschaftskritisch fundiertem Small Talk. Und es ist gut vorstellbar, wie sehr gesellschaftskritischer Smalltalk in nachbarschaftlicher Noblesse aneckt. Nämlich gar nicht. Dass Diane Keaton sich für den zerfledderten Mittsechziger interessiert, lässt sich schwer nachvollziehen. Überhaupt gelingt der in Würde ergrauten Filmlegende nur mühsam, der Figur der noblen Witwe glaubhafte Gefühlswelten anzudichten. Sichtlich unterfordert stakst sie zwischen Rhododendronbüschen und angepflanzten Karotten durch den verwilderten Hain von Hampstead Heath, um sich erst für die Ambitionen des fischenden, autarken Freigeistes einzusetzen, um ihn dann und ganz plötzlich nach ihren Gutdünken zu manipulieren. Das geht storytechnisch gar nicht. Im letzten Drittel schmeißt der Drehbuchautor wohl die Nerven, weil er das Gesülze wohl selbst nicht mehr erträgt. Aber statt der Romanze hier wirklich mehr Kernigkeit und Körnigkeit zu verleihen, bekämpft man womöglich lieber hausbackenen Kitsch mit ebensolchem.

Leider ist Hampstead Park wirklich und offensichtlich nur Programm für zerstreuendes Seniorenkino. Aber selbst bei Oma und Opa könnte sich Langeweile einschleichen. Vom Niederbiedern potenzieller Utta Danella-Fans könnte man zumindest im Kino absehen, aber dafür ist es leider zu spät für den zweiten Frühling. Der geht ganz anders, und den hätte uns Brendan Gleeson gerne gezeigt – hätte er sich nur nicht barfuß im Park den größten Schiefer seines bisherigen Filmreportoires eingezogen. Ein mauer und stocksteifer Möchtegern-Wohlfühlfilm, der zeigen will, dass auch noch im Alter alles möglich sein kann. Wie wahr – dazu gehören auch leider solche Filme.

Hampstead Park

Der seidene Faden

LIEBE AN DER NADEL

7,5/10

 

BQ5A9653.CR2© 2017 Universal Pictures 

 

LAND: USA 2017

REGIE: PAUL THOMAS ANDERSON

MIT DANIEL DAY-LEWIS, VICKY KRIEPS, LESLEY MANVILLE U. A.

 

Er hat gesagt, es sei sein letzter Film. Keine Ahnung, wie viel man darauf geben kann. Dass er aufhören will hat Steven Soderbergh auch gesagt – und jetzt ist er wieder zurück. Die Rolling Stones sagen das auch jedes Jahr. Und jedes Jahr ist es das letzte Konzert. Aber bei Daniel Day-Lewis kann ich das wirklich nur schwer einschätzen. Denn der Mann ist zweifellos ein Sonderling. So, wie er ein Rollenprofil studiert und an die Performance seiner Figuren herangeht, so macht das niemand anderer. Denn Daniel Day Lewis spielt nicht nur – er verwandelt sich. Ohne mehrjähriger Vorlaufzeit und Fachstudium diverser Künste, welche die zu spielende Figur beherrschen muss, geht da gar nichts. Und das kann natürlich auf die Dauer anstrengend sein. Diesen Überperfektionismus verlangt natürlich niemand, aber Day Lewis kann aus seiner Haut genauso wenig raus wie aus seinen Avataren während der Drehzeiten.

In diesem seinen wohl letzten Auftritt geht er die Sache genauso akribisch an – zwei Jahre Studium bei einem Kostümschneider fürs Theater sind da selbstredend. Das Ziel: den fiktiven Schneider Reynolds Woodcock zu verkörpern, einen hochnoblen Modedesigner aus London, erste Adresse für die High Society, exquisiter geht’s kaum mehr. Day-Lewis ist für diese Rolle wie geschaffen, einzig Jeremy Irons wäre für den snobistisch-pedantischen Workaholic ebenso denkbar. Doch Paul Thomas Anderson, der schon in There will be Blood mit Day-Lewis das richtige Händchen hatte, wollte auf alle Fälle der sein, der dem Grandmaster des präzisen Actings das Farewell stilsicher auf den Leib schneidert. Kann sein, dass Day-Lewis mit der Rolle des Edelmannes eventuell etwas unterfordert war – herausgeholt hat er aus dieser Figur wirklich alles, was sie jemals hätte bieten können. Mehr ist da nicht, und mehr als notwendig würde der Schauspieler auch niemals hineininterpretieren. Eine punktgenaue Arbeit, bis auf den letzten Nadelstich. Nicht mehr, nicht weniger. Und dieser Reynolds Woodcock agiert vor einer Kamera, die, wüsste man es nicht besser, zu einem Film von Stanley Kubrick gehören könnte. Nur war Stanley Kubricks letzter Film, Eyes Wide Shut, bereits im Jahre 1999 abgedreht, und während der Dreharbeiten war der perfektionistische Visionär verstorben. Wäre diese Tatsache unbekannt, wäre Der seiden Faden wohl Kubrick´s definitives Alterswerk. Wohl sein leisester, nuancenreichster Film, in hypnotischen Bildern und einem neugierigen Auge, das Day-Lewis und Vicky Krieps in jeden Winkel des Herrenhauses hin folgt, in welchem der Film hauptsächlich spielt. Vicky Krieps kenne ich bereits aus Marie Kreutzer´s Was hat uns bloß so ruiniert? sowie aus Raoul Peck´s Der junge Karl Marx – sehr unterschiedliche Rollen, die auch gar nichts mit ihrer Figur der lebendig gewordenen Modepuppe mit den perfekten Maßen gemeinsam haben. Krieps ist ein relativ neues Gesicht im Kino – ein interessantes, unverwechselbares. Gut nachvollziehbar, warum der kreationssüchtige Egomane mit dem Mutter-Komplex gerade sie zu sich nach Hause holen musste.

Zugegeben, Der seidene Faden ist ein Film, der es anfangs nicht unbedingt leicht macht, ins Geschehen einzutauchen. Die Welt des Reynolds Woodcock ist eine weit entfernte, mit der wohl nur Karl Lagerfeld und Co sofort auf Du und Du wären. Wohin das ganze führen soll, weiß der Zuseher wohl erst, wenn die junge Alma in der häuslichen, starren Geschwisterbeziehung zwischen Reynolds und seiner Schwester Cyril (großartig distinguiert: Lesley Manville) Unruhe hineinbringt. Und dann ist bald schon klar, woran wir hier sind. Der seidene Faden ist so fein gesponnen wie die reinste Seide, und erinnert an seiner hauchzarten, eleganten Düsternis an die Romane von Daphne DuMaurier. Ihre Suspense-Dramen spielen ebenso wie der Seidene Faden mit Etikette, Gesellschaft und einer unheilvollen Liebe. Mit Geheimnissen und Stimmungen, die wie Nebel durch die Räumlichkeiten der Schneiderwerkstatt dringen. Ein Gefühl von Todessehnsucht macht sich breit, das bemerkt auch Reynolds Woodcock. Doch Alma, die ihn fasziniert und zugleich verstört, und für den Schnittmeister und Modeschöpfer wie eine Alma Mahler-Werfel Leidenschaften entfacht und bis an die Grenzen gehen lässt, ist wie ein Geist, den man gerufen hat und nicht mehr loswird. Oder loswerden will. Wie Rebecca. Oder Cousine Rachel.

Paul Thomas Anderson hat ein betörendes Liebesdrama geschneidert, das zwischen stillen Closeups, opulenten Settings und Stillleben aus der Modezunft auf eine große Leinwand gehört und so wirkt wie das Vermächtnis eines Meisters. Der Filmemacher kann zufrieden sein, passt sein Werk doch wie angegossen. Mit unsichtbaren Stecknadeln im Saum, die wehtun und gleichermaßen glücklich machen.

Der seidene Faden