Blood & Sinners (2025)

TANZ DER VAMPIRE

8,5/10


© 2024 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.


ORIGINALTITEL: SINNERS

LAND / JAHR: USA 2025

REGIE / DREHBUCH: RYAN COOGLER

CAST: MICHAEL B. JORDAN, MILES CATON, HAILEE STEINFELD, JACK O’CONNELL, WUNMI MOSAKU, JAYME LAWSON, OMAR BENSON MILLER, LI JUN LI, DELROY LINDO, DAVID MALDONADO U. A.

LÄNGE: 2 STD 18 MIN


Get Out!, hatte Jordan Peele damals seinem verzweifelt in der Klemme steckenden Daniel Kaluuya zugerufen, dem inmitten den Films längst schon klar geworden war, wie sehr ihn der perfide Rassismus einer selbsternannten Herrenrasse vereinnahmt hat. Get In!,ruft seit Kurzem Black Panther-Virtuose Ryan Coogler seinem Ensemble zu, das in einer mondhellen Nacht völlig unbeabsichtigt mit zum Niederknien guter Musik das Böse beschwört. Denn solange Vampire nicht irgendwo hineingebeten werden (sofern die Lokalität nicht sowieso öffentlich zugänglich ist), bleibt diesen nur die Möglichkeit, die Lebenden aus der Reserve zu locken. Mit manipulativen Worten, betörendem Geschwafel und herausfordernden Blicken mit Augen, die ein glühendes, nicht menschliches Funkeln in sich tragen.

In den Dreißigerjahren rund um das Delta des Mississippi, wo Alligatoren in der Hitze schlummern, Flechten von den Bäumen hängen und Moskitoschwärme aus der feuchtheißen Luft eines alle Sinne lähmenden Sommers aufsteigen, ist der Rhythmus des Blues die Antwort auf alle Fragen, ob sie gestellt werden oder nicht. Mit dem Blues lässt sich die Zeit anhalten, lässt sich die Hitze, das Liebesleid und all die Repressalien ertragen, welche die White Supremacy bis zum heutigen Tage der schwarzen Bevölkerung angedeihen lassen (siehe The Order mit Jude Law). Der Blues ist Stellungnahme und Eskapismus gleichzeitig, er erzählt von den afrikanischen Wurzeln genauso wie von einer möglichen Zukunft, die eine neues, selbstbewusstes Narrativ finden könnte. Er öffnet die Pforten zu anderen Dimensionen, bittet Vergangenheit und Zukunft an einen Tisch. Und weiß genau, dass das Böse, dass die Dunkelheit, genauso nicht anders kann, als den Klängen der Gitarre und den wimmernden, leidenden, kraftvollen Stimmen zu folgen, während das tanzende  Auditorium zeitgleich akkurat und im Rhythmus mit den Füßen stampft. In dieser Nacht werden sie kommen, die Untoten. Sie werden mehr werden. Und sie werden tanzen.

Zum letzten Mal schwangen Untote den Huf beim Musical Anna und die Apokalypse, zuvor noch im legendären Musikvideo von Michael Jackson zum ewigen Hit Thriller. Draculas Entourage hingegen machten zuletzt bei Roman Polanskis Schauermär Tanz der Vampire ganz dem Titel des Films entsprechend das gebohnerte Parkett unsicher, aufgerüscht im Look des Rokoko. Doch so, wie die nach Blut dürstenden Gestalten in Blood & Sinners ihren ganz privaten Hexensabbat schmeißen, gab es den Genremix noch nie. Ryan Coogler hat mit dieser episch anmutenden, enthusiastischen Ballade von realen und mystischen Monstern ein schwer niederzuringendes Highlight des Vampirfilms geschaffen, und so wie Jordan Peele die Themen überkreuzt, um etwas ganz Eigenes zu wirken, gelingt dies auch hier, dank der konzentrierten Arbeit eines Visionärs, der genau wusste, was er will, der die Ideen seines Horrors nicht aus der Hand gegeben hat, um ihn durch andere verwässern zu lassen. Blood & Sinners ist Ryan Coogler ganz eigenes Baby, und das erkennt man zweifelsohne an der geölten Stringenz und an dem Flow dieses Films, der so beginnt, als wäre er ein historisches Gangsterdrama im Dunstkreis des rassistischen Südens der Dreißiger.

Michael B. Jordan, Cooglers erste Wahl, wenn es um die Besetzung seiner Filme geht, darf sich hier gleich doppelt in Schale werfen – als personifizierte Coolness gibt er beide Cousins, die nach längerem Aufenthalt in Chicago wieder in ihre Heimat zurückreisen, um ein Etablissement zu eröffnen. Und nein, das ist nicht der Titty Twister aus From Dusk Till Dawn, sondern eine zum „Juke Joint“ umfunktionierte Scheune, in der zum Einstand des Unternehmens ordentlich gefeiert wird. Dafür rekrutieren die beiden alte Bekannte, allen voran den jungen Preacher Boy Sammie, der die besondere Gabe hat, beim Blues die Schleusen der Hölle zu öffnen. Völlig ungeplant wird die Nacht zur entbehrungsreichen Tragödie, zur blutigen Belagerung. Wer noch Freund war, wird zum seelenlosen Feind, wer noch küssender Lover, beißt plötzlich kräftig zu. Dabei ist der Vergleich mit Rodriguez und Tarantinos Splatter-Feuerwerk nicht nur, was den Schauplatz betrifft, ein zulässiger. Auch der Aufbau der Geschichte, das Heranführen des Publikums an mehr als ein Dutzend Charaktere, die wunderbar gezeichnet sind, erinnert an Tarantinos vorallem vorletztes Werk The Hateful Eight. Wenn Blood & Sinners beginnt, bricht ein neuer Tag an, der in drohender Vorahnung dahinkriecht, in dem sich Menschen begegnen und wiederfinden, die alle an einen Ort gelangen, der die Realität um hundertachtzig Grad dreht und das Paranormale heraufbeschwört.

Grandios, wie Coogler seine Szenen setzt – welche er prophetisch vorwegnimmt, was er darstellt und was nicht. Jetzt schon kultverdächtig ist das Gitarrenspiel des Preacher Boy, während die große Party steigt. Dabei werden die Ahnen wach, verschwimmen die Epochen, zeigen sich Visionen der Zukunft. Dazwischen folgen manche Szenen dem Rhythmus der Musik, als gerate der Film in eine Art Trance. Längst ist Blood & Sinners nicht nur mehr Rassismus- oder Südstaatendrama, sondern wird zum Gangsterfilm, zum Thriller, zum Horror. Zur tragischen Liebesgeschichte, zum Veitstanz einer schwarzen Gesellschaft, die erst durch die Aggression der Blutsauger auf Augenhöhe mit den Weißen gerät. Und immer, immer wieder diese hypnotische Musik; der ungebremste, sich verselbstständigende Erzählfluss, die getriebene Handlung, in der sowohl das angststarre als auch das todbringende Ensemble lückenlos miteinander harmoniert. Diese Opulenz bringt dabei die Tragweite eines erfrischend wiederbelebten Vampirismus zurück, den Anne Rice vor vielen Jahrzehnten schon entworfen und mit Interview mit einem Vampir eine ungewohnt geglückte Verfilmung verdient hat. Blood & Sinners könnte nun eine Art Nachfolger dieses Klassikers sein; neu durchdacht, innovativ arrangiert, doppelbödig und progressiv – ohne dabei aber darauf zu verzichten, was schon seit jeher in solchen Albträumen für Faszination sorgt. Diesem Albtraum aber gibt man sich hin, man lässt sich mitreißen, dabei verblassen mühsame Nachahmungen wie Nosferatu von Robert Eggers, insbesondere in der Darstellung der spektakulären Schlusssequenz, die Vampire, den Blues und den Sonnenaufgang über dem Mississippi zu einer immersiven, spektakulären Kinoerfahrung macht.

Wichtig dabei ist: Es gibt eine Post-Credit-Szene, die man nicht verpassen sollte, denn mit ihr schließt sich der Kreis.

Blood & Sinners (2025)

Köln 75 (2025)

DER PIANIST UND DAS MÄDCHEN

7/10


© 2025 Alamode Film / Wolfgang Ennebach

LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, POLEN, BELGIEN 2025

REGIE / DREHBUCH: IDO FLUK

CAST: MALA EMDE, JOHN MAGARO, MICHAEL CHERNUS, ALEXANDER SCHEER, ULRICH TUKUR, JÖRDIS TRIEBEL, LEO MEIER, SHIRIN LILLY EISSA, ENNO TREBS, LEON BLOHM, DANIEL BETTS, SUSANNE WOLFF U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Sei ruhig, Fließbandbaby – diesen im Sprechgesang vorgetragenen Song aus den späten Sechzigern legt Regisseur Ido Fluk gleich einer ganzen Gruppe junger Wilder buchstäblich in den Mund. Die Politrock-Band Floh de Cologne durfte damals ihrer Zeit weit voraus gewesen sein, denn die Neue Deutsche Welle etablierte sich erst mit Mitte der Siebziger. Diesen musikalischen Sonderling greife ich deshalb auf, weil er die eigentliche Prämisse dieses Films treffend intoniert, schließlich handelt das musikalische Werk von weiblicher Unterwürfigkeit, dem Patriarchat und der gesellschaftlichen, starren Ordnung, wonach die Frau hinter den Herd oder wenn nicht, dann zumindest etwas Gescheites lernen soll. Auch wenn es die Jungen nicht wollen: Als Fließbandbaby muss man still sein. Und tun, was sich gehört. Wäre das passiert, hätte sich Vera Brandes den starren Dogmen ihres Vaters unterworfen, wäre das Ereignis, welches unter Kennern gemeinhin als The Köln Concert bekannt ist, nie in die Musikgeschichte eingegangen.

Wer ist denn nun diese Dame, die von Mala Emde so emsig und mit Hummeln im Hintern verkörpert und in den späteren Jahren von Susanne Wolff gespielt wird, die ihrem Vater nichts mehr zu sagen hat, außer dass dieser ein Arsch gewesen sein mag? Vera Brandes dürfte wohl weniger ein Begriff sein als Frank Farian – letzterer war immerhin Musikproduzent und verantwortlich für das Milli Vanilli-Desaster. Brandes wiederum, mit blutjungen 18 Jahren, hat damals, Anfang der Siebziger, im Konzertmanagement Blut geleckt. Begonnen hat das Ganze mit dem Organisieren kleinerer Gigs irgendwelcher Jazzmusiker, die man heute kaum mehr kennt. Brandes durfte schnell gelernt haben, wie man andere Leute davon überzeugt, ihren Künstlern die Bühnen zu überlassen. Im Jänner 1975 dann die große Nummer: Der Jazzpianist Keith Jarrett hat vor, in Köln eines seiner ungewöhnlichen, einzigartigen Improvisationskonzerte zu geben. Was das heisst? Keiner weiß, nicht mal Jarrett selbst, was an diesen Abenden wirklich passieren wird. Der verschrobene Musiker, der sich vor dem ersten Tastenschlag mal minutenlang einkrampft, um die kreative Mitte zu finden, führt den Free Jazz bis zum Exzess, und zwar im Alleingang. So einen Typ muss man erst mal zufriedenstellen, und das beginnt bei dem richtigen Konzertflügel.

Köln 75 beweist wie Girl You Know It’s True, dass nicht allzu gegenwartsferne Entertainment-History ein Subgenre darstellt, welches das deutsche Kino etwas überspitzt gesagt gnadenlos gut beherrscht. Beide Filme sind auf ihre Weise mitreißend, bei Köln 75, welcher auf der diesjährigen Berlinale Premiere feierte, ist der Charakter der Vera Brandes allerdings jemand, der sich eher austauschen ließe als ein Egomane wie Frank Farian. Brandes ebnet zwar den Weg für Jarretts großen Auftritt – dennoch ist es letzterer, der, dargestellt von John Magaro (zuletzt gesehen in September 5), das tiefgreifende Kernstück eines Musikfilms ausfüllt, der mehr sein darf als das. In dieser mittleren Sequenz, in der Mala Emde gar keinen Auftritt hat und die sich ausschließlich auf die Anreise Jarretts im klapprigen Automobil vom Lausanne nach Köln konzentriert, erfährt der Zuseher die mit starken Akzenten skizzierte Charakterstudie eines genialen Exzentrikers – oder exzentrischen Genies. Im Grunde hätte Köln 75 ein szenisches Biopic wie Like A Complete Unknown werden können, nur noch eng gefasster, fokussierter. Drumherum aber haben wir Mala Emdes immerhin hinreißende Performance, deren Figur aber oberflächlicher bleibt als womöglich vorgesehen. Doch ohne Brandes kein Köln-Konzert, und ohne Köln-Konzert kein Film. Am Ende wird der aufgeweckt erfrischende Streifen mit biografischer Tiefe zum hechelnden Thriller rund um egomanische Überheblichkeit, Flexibilität und Improvisation. Vor allem letzteres erfährt eine mehrheitliche Deutung und beweist wieder einmal, dass nur das Unvorhergesehene wirklich großes bringt. Und das Große niemals kalkulierbar sein kann.

Köln 75 (2025)

Like A Complete Unknown (2024)

SPIEL MIR DAS LIED VOM WIND

9/10


© 2025 Searchlight Pictures


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: JAMES MANGOLD

DREHBUCH: JAY COCKS, JAMES MANGOLD, NACH DEM SACHBUCH VON ELIJAH WALD

CAST: TIMOTHÉE CHALAMET, ELLE FANNING, MONICA BARBARO, EDWARD NORTON, BOYD HOLBROOK, DAN FOGLER, NORBERT LEO BUTZ, SCOOT MCNAIRY U. A.

LÄNGE: 2 STD 21 MIN


James Mangold kann Biografien erzählen, die sind so kraftvoll, dynamisch und mitreißend, dass niemand auch nur einmal nach dramaturgischen Innovationen verlangt. Sein Walk the Line über Johnny Cash hat es vorgemacht, das neueste und für acht Oscars nominierte Portrait eines Nonkonformisten, wie er in den Annalen der Musikgeschichte steht, ist von ähnlicher Art, nur noch besser, noch intensiver und entfacht noch viel mehr Sehnsucht nach einer Zeit des Umbruchs, obwohl diese nicht nur gut war. Like A Complete Unknown vermittelt das Gefühl der Wehmut, wenn Timothée Chalamet als Bob Dylan am Ende des Films auf seiner Triumph die Bundesstraße entlangfährt, einer Freiheit entgegen, die nur er bestimmt. Wehmut ist es, die diesem Typen, diesem unbequemen, ungefälligen Egomanen und Virtuosen, nachwinkt. Es ergeht uns wie Dylans Herzensmensch Sylvie Russo (Elle Fanning), die zur Einsicht erlangt, einen wie ihn niemals halten zu können.

Warum wir diese Lust und das Verlangen verspüren, immer mehr und mehr dieser aufbrausenden Musik der Sechziger zu hören? Weil Mangold sein Ensemble dieses Lebensgefühl auch entdecken lässt. Da sind Namen dabei, die kennt ein jeder, der sich auch nur ansatzweise mit der US-amerikanischen Musikgeschichte auskennt. Joan Baez, Pete Seeger, Woodie Guthrie, Johnny Cash. Baez mit ihrer unverkennbaren, engelsgleichen Stimme, die ihre Zuhörer in andere Sphären katapultiert – Monica Barbaro gibt ihr ein Gesicht, gibt ihr Charakter, Charisma, spürt die Leidenschaft und das Engagement. Genauso Edward Norton als Seeger, Mitinitiator des Newport Folk Festivals und Mentor Bob Dylans, zurückhaltend, beflissen, gutherzig. Und natürlich Chalamet als der widerborstige und schwer zu greifende Lockenkopf, der Singer und Songwriter mit dieser atemberaubenden Poesie in seinen Liedern, mit all den kritischen, ironischen, melancholischen Texten über Beziehungen, die Gesellschaft, die Welt an sich und all den Schwierigkeiten, als Mensch auf ihr zu wandeln.

Da ist dieser junge Schauspieler, der mit Call Me By Your Name erstmals für Aufsehen gesorgt hat und in Dune mittlerweile als Monarch über Arrakis herrscht. Es hätte ja sein können, dass Timothée Chalamet in jene Kerbe schlägt, in die hofierte Stars manchmal geraten, wenn ihr Ego größer wird als ihre Rollen, die sie verkörpern. Die Folge: Immer das gleiche, niemals jemand anderer, maximal so tun, als ob. Zuletzt passierte dieser Umstand Angelina Jolie als Maria Callas in Pablo Larraíns Maria. Doch Chalamet weiß davon, sich seinen darzustellenden Figuren unterordnen zu müssen. Es gelingt ihm das Kunststück, trotz seines bekannten Äußeren hinter dem Konterfei eines Bob Dylan zu verschwinden – ganz ohne Make up, Latexmaske, Zahnprothese wie bei Rami Malek oder sonst eines nachhelfenden Charakter-Gadgets – wenn man Sonnenbrille und Wuschelkopf mal weglässt. Durch seine Interpretation dieses Mysteriums namens Bob Dylan wird das obsessive Musikgenie sichtbar. Und ja, man muss zugeben: In der Schauspielerei mag es deutlich einfacher sein, nach charakterlicher Vorlage weltbekannte Persönlichkeiten zu imitieren – sie geben die Richtung vor, markieren das Soll und das Ziel. Und dennoch ist es immer wieder ein Wunder dieser Performance-Kunst, wenn der Kult lebendig wird, wenn Chalamet es gelingt, die Tonlage Dylans zu treffen und von Blowin‘ in the Wind bis Like A Rolling Stone all diese zeitlosen Klassiker selbst zum Besten gibt. Man will dann gar nicht mehr Dylan hören, sondern Chalamet, wie er Dylan singt. Und man vergisst darauf, nur eine Darstellung des Originals zu sehen, denn Chalamet ist einer, auf den man abfährt, der eine geheimnisvolle künstlerische Entität verkörpert. Ob das Geheimnis rund um Dylans Wesen bei Mangold gelüftet wird? Gott behüte, das soll es gar nicht! Ihm nahe zu kommen und gleichzeitig auf Distanz zu bleiben, um auch sein Umfeld betrachten zu können – seine Gefolgschaft, seine Freunde und Gegner – dafür braucht es die richtige Balance. Durch die Interaktion mit einer behutsam erweckten verlorenen Zeit der 60er wird eine Figur wie Dylan erst lebendig. Ist der Fokus zu stark auf nur eine Person, bleibt nur versponnenes Psychokino, das niemanden mitnimmt.

Ob Biopics funktionieren, hängt ganz davon ab, welche Episode man wählt. Bei letzten Lebenswochen wird es manchmal zu resignativ und melancholisch. Mangolds Wahl fiel hingegen auf Bob Dylans stürmische Jahre. Der Um- und Aufbruch des Künstlers ist so voller Verve, dass man immer tiefer in medias res gehen will. Daher gibt der Film seinem Publikum genau das, was es innigst verlangt: Musik, Musik und nochmals Musik, sei es im synergetischen Duett, im stilübergreifenden Austausch oder mit einer Band im Hintergrund, die den Weg der E-Gitarre ebnet – und damit Grenzen sprengt. In diesem Musikfilm wird man schwerlich satt, und das nicht, weil man nichts geboten bekommt, sondern weil das Gebotene so erquickt. Dazwischen will und kann man von Chalamets Figur einfach nicht lassen. Und nicht nur von ihm, von niemandem in diesem auf beste Art klassischen, lange nachhallenden Filetstück biographischer Zeitgeschichte, nach dessen Sichtung die hauseigene Plattensammlung durchstöbert werden muss. Ob nicht doch ein lang verschollener Bob Dylan nur darauf wartet, gefunden und aufgelegt zu werden. Um diesen Zeitgeist neu zu spüren, der Gänsehaut verursacht.

Like A Complete Unknown (2024)

Better Man – Die Robbie Williams Story (2024)

DER AFFE IM ROCKSTAR

8,5/10


BETTER MAN© 2024 Tobis Film GmbH


LAND / JAHR: AUSTRALIEN, USA 2024

REGIE: MICHAEL GRACEY

DREHBUCH: OLIVER COLE, SIMON GLEESON, MICHAEL GRACEY

CAST: ROBBIE WILLIAMS, JONNO DAVIES, STEVE PEMBERTON, ALISON STEADMAN, DAMON HERRIMAN, KATE MULVANY, RAECHELLE BANNO, JAKE SIMMANCE, LIAM HEAD, JESSE HYDE, ANTHONY HAYES U. A.

LÄNGE: 2 STD 14 MIN


Echt jetzt? Jetzt schon ein Biopic über Robbie Williams? Um die Werbetrommel zu rühren für eine neue Scheibe, eine neue Tournee? Oder nur, um sich wichtigzumachen? Oder gar nur, um sich selbst zu bemitleiden? Und dann noch das: Der Sänger stellt sich selbst als Affe dar. Klingt nach Klamauk, nach mutwilliger Exzentrik. Muss ich nicht sehen, dachte ich mir, zu dem Zeitpunkt, als ich in den Film-News von einem Projekt gelesen hatte, das sich Better Man nennt. So eine Ankündigung muss aber erst mal sickern. Denn Musiker-Biopics gibt es mittlerweile zuhauf. So richtig begonnen hat das mit Bohemian Rhapsody, dann haben Studios Blut geleckt. Dann gab es Elton John, Amy Winehouse, Aretha Franklin, Miles Davis, Bob Marley, Whitney Houston und noch viele andere dazwischen. Muss sich einer wie Robbie Williams tatsächlich so derart in den Vordergrund rücken? Hat er denn das Format all dieser genannten Ikonen?

Meine Skepsis gegenüber Better Man und gegenüber Robbie Williams Idee, seine Memoiren auf eine Weise zu erzählen, die an Planet der Affen erinnert, sollen sich letzten Endes bis auf das letzte Molekül zerstreuen. Denn das Beste, was einem Filmfreund passieren kann, ist, im Kino überrascht zu werden. Überrumpelt, eines Besseren belehrt und von einem Experiment, das so noch nicht erprobt wurde, überzeugt. Better Man ist so ein Film, der das alles zusammenbringt. Und das liegt an diversen Parametern, die dafür sorgen, wie noch nie zuvor einer Berühmtheit aus dem Showbiz über das Medium Film so sehr nahezukommen wie in Michael Graceys fulminantem Geniestreich, der viel mehr psychologisches Drama als simple Biografie sein darf.

Robbie Williams erzählt in Better Man erstens, und das lässt schon mal einiges an Nähe zu, auf selbstkritische und ironische Weise über sich selbst. Das ist Autobiografie in seiner reinsten Form. Und nicht nur das: Williams hat den Mut, über sein Tun und sein Leben in einer Ehrlichkeit zu reflektieren, die fast schon zu intim, dadurch aber umso aufrichtiger erscheint. Er macht keinen Hehl daraus, sich als besten Entertainer überhaupt zu sehen. Das ist das, was er anstrebt und angestrebt hat. Er macht aber auch kein Hehl daraus, zuzugeben, mit einer ganzen Reihe psychischer Probleme zu hadern. Die da unter anderem wären, sich selbst als dismorph wahrzunehmen. Das führt dazu, dass sich Williams selbst als etwas sieht, das einem Menschenaffen gleicht. Als eine Außenseiterfigur, einen Nonkonformisten, als niederes Wesen voller Minderwertigkeitskomplexe und mangelndem Selbstwert. Michael Gracey (Greatest Showman) wagt daher den Clou des Jahres: Dem Star kein schauspielerisches Lookalike zu verpassen, sondern ihn vollends jedweder Identifikation zu berauben. Das Gesicht des Affen könnte eine Maske sein, ist aber das innewohnende, zerrissene und entfremdete Ich einer berühmten Persönlichkeit, die in den Momenten des Films nicht als solche gesehen werden will, sondern als rein abstrakte Impression eines Charakters, der sich offenbart.

Doch weder mit aufgesetztem Zynismus noch mit allürenhafter Wehleidigkeit will Williams sich selbst auf den Grund gehen. Seine Lebensgeschichte passiert zwar allerlei Stationen des Entertainment-Lebens, blickt aber genauso vehement zwischen den Ankerpunkten eines Curriculum Vitae, um begrifflich zu machen, wie wenig sich das Seelenleben einer Berühmtheit von jenen anderer Menschen, die in der urbanen Anonymität verschwinden, unterscheidet. Williams sieht und empfindet sich selbst als Affe. Mit frechem Charme und einer gewissen Erdung blickt der Einzelgänger, der er ist, zurück auf ein Schlachtfeld an Fehlentscheidungen, abgemurksten Dämonen und in Koks und Alkohol ertrunkener Zweifel. Gracey findet dafür grobkörnige, erdige Bilder, mal geschnitten in schnellem Stakkato, manchmal ruhend. Kongenial eingeflochten sind dabei Williams bekannteste Songs, dabei zeigt der Mann nicht nur, woran er scheitert, sondern auch, woran er wächst. Das Talent zum Entertainment, sein Gespür fürs Songwriting sind die Skills eines ambivalenten Helden, dem so vieles zu schaffen macht und der so vieles schafft.

Better Man ist großes, überwältigendes Kino. Eine Neuordnung des Biopic-Genres in Richtung Psycho-Allegorie. Ansatzweise war diese Methode bereits in Rocketman vorhanden, doch so vehement avantgardistisch und revolutionär wie in diesem Film gab es das noch nicht. Als spätes Filmhighlight des Jahres 2024 bleibt Better Man als WOW-Erlebnis so sehr in Erinnerung, als hätte man Robbie Williams tatsächlich nicht nur kennengelernt, sondern wäre auch sein Freund geworden.

Better Man – Die Robbie Williams Story (2024)

Bob Marley: One Love (2024)

REGGAE ALS KATALYSATOR DER ZUVERSICHT

6/10


bobmarley© 2024 Constantin Filmverleih


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: REINALDO MARCUS GREEN

DREHBUCH: REINALDO MARCUS GREEN, TERENCE WINTER, FRANK E. FLOWERS & ZACH BAYLIN

CAST: KINGSLEY BEN-ADIR, LASHANA LYNCH, JAMES NORTON, ANTHONY WELSH, ASTON BARRETT JR., TOSIN COLE, HECTOR DONALD LEWIS, DAVID MARVIN KERR JR., STEFAN WADE, SEVANA, NAOMI COWAN U. A.

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Ich hätte schwören können, über Reggae-Gott Bob Marley gäbe es bereits ein Biopic, doch der Eindruck täuschte mich. Was mir so vorkam wie Marley, war womöglich Miles Davis oder James Brown – jedenfalls wundert es mich doch ein bisschen, dass Bob Marley: One Love zum allerersten Mal den Rastafari aus Jamaika auf die große Leinwand bringt. Rastafari – wer sind diese Leute überhaupt? Man kennt Dreadlocks, die gestrickten Mützen in den Nationalfarben Jamaikas, man kennt Haile Selassie, den äthiopischen Monarchen, man kennt den Löwen als Symbol und jede Menge Cannabis, das natürlich geraucht werden muss. Doch was genau hinter dieser Glaubensrichtung steht, spart Reinaldo Marcus Green, seines Zeichens Regisseur von King Richard, insofern aus, da er sein Publikum dazu motiviert, sich selbst auf Recherche zu begeben. Macht aber nichts, wozu gibt es Wikipedia, denn dort lässt sich herausfinden, dass dieser Haile Selassie als prophezeiter schwarzer Kaiser die Reinkarnation des Messias darstellt und die Befreiung Afrikas und all seine Kinder, die über den Erdball verstreut sind, bringen wird. Jah heisst deren Gott, und Bob Marley wird des Öfteren zu ihm beten und ihm huldigen, auch in seinen Liedern.

Rastafari sind friedliebend, vorwiegend gechillt und äußerst rhythmisch veranlagt. Nicht umsonst ist Reggae deren Musik, und dieser Reggae, der schafft es, auch all jene mitzureißen, die noch nie auf Jamaika waren und einen Joint geraucht haben. Reggae, das ist wie guter Stoff in Musikform, da fällt der Stress ab, da entspannt sich der ganze Körper, da bewegt man sich mit dem Flow der prägnanten Klänge, der Trommeln und der Gitarren. Es ist, als wäre man irgendwo am Strand am Meer und könnte die Seele baumeln lassen. Man bräuchte nur die Augen zu schließen und da ist er: Bob Marley, wild gestikulierend und dabei hüpfend wie ein Häschen, seine unverkennbare, einmalige Stimme ins Mikro jaulend und der dabei positiv, beschwichtigend und die Wogen glättend in die Zukunft blickt. Every little thing gonna be alright. Oh ja, so fühlt es sich an, wenn man Marley hört. Mit den Songs, angefangen von No Woman No Cry bis zu seinem Hit-Album Exodus, ist Reinaldo Greens Film ein Best of des Feelgood.

Dabei erweckt ihn Kingsley Ben-Adir tatsächlich zum Leben. Unter der Rasta-Mähne und dem Dreitagebart, mit den richtigen Moves und dem ganzen, womöglich akribisch abgeguckten Gehabe, vermag Adir zu überzeugen. An der Darstellung des VIPs gibt es nichts zu meckern, allerdings gibt es auch keinerlei Versuche, den Künstler umzuinterpretieren. Adir ist Bob Marley – dieser wäre glücklich darüber. Er wäre auch glücklich darüber, wie sorgfältig trapiert seine Hits einer nach dem anderen in diesem Biopic verteilt sind, als hätten wir ein One-Performer-Musical wie Rocketman, das die Kassen dank zahlreicher Evergreens, ausschließlich gesungen von Taron Egerton als Elton John, klingen lassen konnte. Bob Marley: One Love hätte etwas ähnliches werden können, ein Bob Marley-Musical, in welchem der Skipper höchstselbst anhand seiner Nummern über sein Leben sinniert. Da der Glamour eines Elton John einer eingerauchten, wohlwollenden Erdung weichen muss, ist die Form eines Musikfilms wie dieser immer noch am geeignetsten, verknüpft mit biographischen Eckpunkten, die rund um das legendäre Friedenskonzert 1978 in Jamaika angesiedelt sind.

Lässt sich da eine verdichtete Chronik eines Ruhms im Abendrot spinnen? Seltsamerweise wäre Bob Marley: One Love, hätte es all die wunderbaren Lieder nicht, die der mit 36 Jahren an Krebs verstorbene Künstler als ewiges Vermächtnis hinterlassen hat, eine müde Angelegenheit. Weniger straff, dafür etwas unentschlossen, geben szenische Einsprengseln manches aus der Jugend Marleys preis, manches beschäftigt sich wiederum mit der Entstehung des Albums Exodus und manches mit Jamaikas wüster Politik. Doch all diese Facetten wollen sich nur schwer bis gar nicht miteinander verbinden. Das dramaturgische Grundgerüst fällt auseinander, hat aber immer noch Ben-Adir in petto, der stets aufs Neue unbedingt zeigen muss, wie verblüffend gut er das Vorbild imitieren kann. Jedes Mal aufs Neue hängt man an seinen Lippen, wenn er so klingt, wie er klingen soll. Wenn er singt, was er singen soll und wir hören wollen. Die Musik ist letztlich der eigentliche Superkleber in diesem Film, der das Stückwerk notgedrungen zusammenhalten muss. Das ist kein Fehler, dafür gibt’s schließlich jede Menge Benefit: Die gechillten Rhythmen zeitlosen Reggae-Sounds, den richtigen Ohrenschmaus als Antidepressiva.

Bob Marley: One Love (2024)

Rickerl – Musik is höchstens a Hobby (2023)

DIE HOHE KUNST DES DURCHWURSTELNS

9/10


rickerl© 2023 Filmladen FIlmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2023

REGIE / DREHBUCH: ADRIAN GOIGINGER

CAST: VOODOO JÜRGENS, BEN WINKLER, AGNES HAUSMANN, NICOLE BEUTLER, RUDI LARSEN, CLAUDIUS VON STOLZMANN, DER NINO AUS WIEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


In den Siebzigern und Achtzigern waren sie hierzulande groß im Kommen: die Wiener Liederpoeten, von Wolfgang Ambros und seiner Mörderballade Da Hofa über Georg Danzer bis zu Rainhard Fendrich, Peter Cornelius und Ludwig Hirsch, dem schwärzesten und melancholischsten unter den österreichischen Songwritern. All diese Könner wiederum blicken auf das Schaffen eines Helmut Qualtingers zurück, der mit der Aufarbeitung und Darstellung der Wiener Seele überhaupt erst begonnen hat. Einige Jahrzehnte später bekommt das Land neue Genies. Darunter einer, der so klingt, als hätte man sich verhört, obwohl doch der Name des Bademantel-Chansonniers fiel: Voodoo Jürgens. Mit Elementen aus Heurigenschrammeln, Hirschs Schwarzer Vogel-Mentalität und lokalkolorierter Häf’npoesie kreiert der Wiener David Öllerer vertonte Balladen, melodische Lyrik aus der Gosse, vom Friedhof, aus der Arbeiterschicht und dem Verlierertum. Aus den Rotlichtbuden am Gürtel und verrauchten Branntweinern – sogenannten Stammkunden-Kaschemmen, die eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegen und zur Einbrenn des Lebens vordringen. Die Songs kommen von ganz tief unten – dort, wo der Herr Karl seine Waren sortiert und wo Ulrich Seidl gerne hinblickt, ohne aber boshaft zu werden. Jürgens Lieder sind entpolitisiert, voller Schmerz, Erinnerungen und unstillbarer Melancholie. Die kleinen, kaputten, fast, aber noch nicht ganz gescheiterten Existenzen. Soziale Freaks und verzweifelte Aufraffer, die es manchmal schaffen, und auch wieder nicht. Der Traum vom Glück schwebt als Alkohol- und Zigarettendunst über allem. Voodoo Jürgens vertont genau das. Und trifft ins Mark. Einer wie Adrian Goiginger, der mit seinem autobiographischen Debüt Die beste aller Welten zeigen konnte, wie authentisch er soziale Gefüge beobachten kann, ohne sie zur Show zu machen, der hat das bemerkt. Den Musiker liebgewonnen und einen Film mit ihm gemacht. Rickerl heisst dieser – begleitet mit dem Untertitel: Musik is höchstens a Hobby.

Rickerl ist weit jenseits eines Musikers wie Alfred Dorfer ihn in Freispiel darstellt, als Mann in der Midlife-Crisis, der sich neu orientieren muss. Eher noch lässt sich Voodoo Jürgens‘ Verlierertyp mit Oscar Isaac gleichsetzen, der in Inside Llewyn Davis als ebensolches Potenzialbündel nichts auf die Reihe bekommt, ein Opfer seines auferlegten Determinismus darstellt und als Randexistenz aus dem Straucheln eine eigene Kunstform macht. Rickerl ist ein Songwriter, hat einen Hang zum Makabren, fühlt sich als Opfer seiner zerrütteten Kinderstube, ist Ex-Mann und Vater eines aufgeweckten sechsjährigen Jungen, der ihn alle Wochenenden besuchen darf. Was er ins Mikro schmettert, hat Tiefe, das weiß auch sein Manager – nur ohne Demo-Tracks und einer gewissen Ordnung in Rickerl Oeuvre kann dieser nichts ausrichten. Der lethargische, schlaksige Beisl-Poet muss sich zusammenreißen. Doch es hilft alles nichts, so lange ihm selbst nicht die Erkenntnis kommt, die ihn vielleicht dazu bewegt, sich endlich abzugrenzen vom selbst auferlegten Stigma eines Fast-Obdachlosen, der dem System entkommen muss.

Rickerl birgt keine komplexe Geschichte. Nimmt sich gar zurück, was den Plot betrifft. Und beobachtet, wie seinerzeit Elisabeth T. Spira in ihren fulminanten Alltagsgeschichten, das Milieu. Durch dieses Beobachten, ohne es ins Scheinwerferlicht zu zerren, was er beobachtet; durch dieses Zuhören und dem Mittrinken eines Spritzers am Stammtisch entsteht etwas völlig Berührendes und Großes. Ein ungemein ehrliches Portrait, eine feine Skizze der kleinen Leute, die im tiefsten, gar ordinären Wiener Slang, wie ihn einst der gute alte Edmund „Mundl“ Sackbauer sprach, durch die Gassen der Hauptstadt schlendert. Rickerl gelingen sogar einige kabarettistische Spitzen, doch um die geht es genauso wenig wie in Paul Harathers Filmjuwel Indien: Das altbekannte Stereotyp des glücklosen Künstlers erfindet sich neu, bedient sich dabei vertrauten Motiven und bringt das patscherte Leben mit Klampfen, Goldkette und Tschick in eine wenig verklärte Gegenwart, die für viele viel zu schnell kommt und all die in den Tag hineinlebenden Originale überrumpelt.

Goiginger kann in seiner musikalischen, wunderbar ausgewogenen Tragikomödie seine wahre Stärke ausspielen: Die wahrhaftige Interaktion in einem sozialen Biotop – fast dokumentarisch mutet sein Film manchmal an, ungemein echt agiert das Ensemble rund um Voodoo Jürgens, der einem in seiner schludrigen Art genauso wie dessen Filmsohn Dominik so richtig ans Herz wächst. Nichts ist gekünstelt, alles gemeint wie getan. So landet Rickerl direkt und ohne Umwege beim Publikum. Wie Goiginger es immer wieder gelingt, Kinderdarsteller so sehr ins Spiel zu integrieren, ist ein Wunder. Doch eigentlich ist nicht nur das, sondern das ganze bittersüße Drama, unterlegt mit Jürgens‘ verletzlichen, ungefälligen Songs, ein besonderes Mirakel, das Wien, seine Menschen und die Kunstform des Austropop umarmt.

Rickerl – Musik is höchstens a Hobby (2023)

Maestro (2023)

IM EIFER DER MUSIK

6/10


Maestro© 2023 Netflix Inc.


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: BRADLEY COOPER

DREHBUCH: BRADLEY COOPER, JOSH SINGER

CAST: BRADLEY COOPER, CAREY MULLIGAN, MAYA HAWKE, MATT BOMER, VINCENZO AMATO, MIRIAM SHOR, SARAH SILVERMAN, MICHAEL URIE, BRIAN KLUGMAN, NICK BLAEMIRE, GIDEON GLICK U. A.

LÄNGE: 2 STD 9 MIN


„Wie die Nase des Mannes, so ist sein…“ Ein selten dämlicher Spruch, doch den Eklat ums aufgepflanzte Riechorgan, um der Rolle des Leonard Bernstein auch optisch gerecht zu werden, wird der Film nicht mehr los. Wie bei Rami Maleks Freddy Mercury-Vorbiss, auf welchen manche nicht anders konnten, als diesen im Fokus zu haben, durchpflügt Bradley Coopers „Pfrnak“ den Film – mal mehr, mal weniger, je nach Licht und Perspektive der Kamera. Nun, tatsächlich ist diese angeblich diskriminierende Extension nur halb so dominant. Später, wenn Make Up-Artists immer mehr und mehr Maske anlegen müssen, stellt das Teil kein Problem mehr da. Das zunehmend zerfurchte und alternde Gesicht des Vollblutmusikers wird letztlich die Vorreiterrolle übernehmen. Es bleibt einem nur noch, ganz genau hinzusehen, um dahinter Bradley Cooper zu erkennen. Er verschwindet zwar nicht ganz so sehr wie Gary Oldman hinter Winston Churchill, aber dennoch: Gemeinsamkeiten mit seiner Rolle aus Hangover gibt es keine mehr.

Das Leben des New Yorker Dirigenten, Komponisten und Musik-Afficionados wird zu Coopers Herzensprojekt. Wichtigstes Ziel dabei: genauso auszusehen und sich zu geben wie Leonard Bernstein himself, ohne Abstriche, ohne freier Interpretation. Akribisch recherchiert, genauestens beobachtet und letztlich umgesetzt. Maestro nennt sich das auf Netflix erschienene Werk (das darüber hinaus auch in manchen Kinos lief, um dem Preisregen der Academy nicht zu entgehen) und begreift sich vor allem als filmgewordenes, teils jeweils in Schwarzweiß und in Farbe gedrehtes Denkmal, in welchem die Biographie selbst gar nicht mal so eine große Rolle spielt. Denn die ist, mit Ausnahme des tragischen Schicksals seiner Ehefrau Felicia Montealegre, im Grunde eine Aneinanderreihung ungestümer Kraftakte am Dirigentenpult, viele Stangen Zigaretten und ruhelosem Schaffen, dass den Musiker längst schon in ein Burnout hätte treiben können.

Bradley Coopers Bernstein legt eine fahrige Hyperaktivität an den Tag, die aufreibt. Dort eine Komposition, hier ein Auftritt, woanders wieder eine Lehrstunde an der Uni, dann ganz viel Society und wieder eine Komposition. In diesem Zyklus schraubt sich der Film von den Vierzigerjahren bis in die Achtzigerjahre. Lenny, wie er von Frau und Freunden genannt wird, sehen wir beim Älterwerden zu, bei seinem ersten Triumph bei den New Yorker Philharmonikern über seine Beziehung zur Schauspielerin Felicia bis hin zum schweißtreibenden Kraftakt in der britischen Kathedrale von Ely, in der Cooper all sein Können hineinlegt, um seinem Vorbild gerecht zu werden. Er schwingt den Taktstock zu Gustav Mahlers Auferstehungssymphonie, als gäbe es kein Morgen mehr, als würde in Kürze die Welt versinken. Er rudert mit den Armen, mit verzerrtem, schweißnassem Gesicht, längst schon in Ekstase. Der Zenit musikalischer Ausdrucksstärke ist erreicht, erschöpft sinkt unsereins wieder ins Sofa zurück – das war ein Moment, da kann sich Cate Blanchett als Tár noch so einiges abschauen.

Um diesen besonderen Auftritt herum weiß Cooper auch sonst ganz genau, wie er sich in Szene setzt. Niemand sollte ihm hierbei das Wasser reichen, nicht mal Carey Mulligan, die tut, was sie kann, um für das Bernstein-Lookalike stark genug zu sein. Ihre Leistung ist souverän, doch sie bleibt nur die zweite Reihe, auf irgendeinem Platz im Orchester, das Cooper dirigiert und dabei nur sich selbst filmt, unentwegt, in unterschiedlichstem Licht, in allen erdenklichen Posen, akkurat nachgestellt und herrlich selbstverliebt.

Zum Künstler und seinem bisexuellen Lebenswandel; zu seiner Familie und seiner ewigen Rastlosigkeit, fehlt dann doch der Zugang. Ein Mensch wie Bernstein, wie sehr muss er wohl das Dasein als von allen bewunderter Künstler genossen haben. Als einer, dem alles erlaubt schien, der alles durfte und so lebte, wonach ihm war. Als fleischgewordene Bereicherung für die Musikwelt darf einer wie er durchaus Tribute fordern, nur nicht an sich selbst. Das macht ihn nicht gerade sympathisch, doch das Staunen über so viel Obsession, deren Energie dahinter immer nur so viel verbrennt, wie gerade neue entsteht, übertüncht alles. Was bleibt, ist die One-Man-Show Coopers und die One-Man-Show Leonard Bernsteins. Zwischen diesen beiden Sichtweisen wechselt der Film, der außer der Darstellung einer Ikone zwar ein Leben erzählt, aber eines, dem man in seiner Hast und in seinen nur schwach ausgearbeiteten Stationen kaum folgen kann.

Maestro (2023)

Weird: The Al Yankovic Story (2022)

GIGS MIT GAGS

6/10


weird-the-al-yankovic© 2022 The Roku Channel


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: ERIC APPEL

DREHBUCH: ERIC APPEL, WEIRD AL YANKOVIC

CAST: DANIEL RADCLIFFE, EVAN RACHEL WOOD, RAINN WILSON, JULIANNE NICHOLSON, TOBY HUSS, WILL FORTE, SPENCER TREAT CLARK, WEIRD AL YANKOVIC, JACK BLACK U. A.

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Seit Curly Sue gab es keinen Lockenkopf mehr, der so sehr für Wirbel gesorgt hat. Und nein, es ist nicht Bob Ross, der entspannte Landschaftsmaler, der so viel Freude am Klecksen hat und bald durch Owen Wilson in einem Biopic verkörpert wird. Es ist Weird Al Yankovic, dem die Kräuselmähne zu Berge steht und dem Oberlippenbart gar zu einem Comeback verhilft. Bei Eric Appels biographischem Drama stellt sich natürlich die Frage: Wie sehr ist das Ganze hier überhaupt True Story und wie sehr auch nicht? Und wen juckt das eigentlich?

Madonna im Drogendschungel. Beat it von Michael Jackson scheint eine billige Kopie von Eat it zu sein. Wenn, wie der Film sagt, Alfred Matthew Yankovic alias Weird Al wirklich so berühmt war wie kaum ein zweiter Musiker in den Achtzigern – weshalb kannte ihn dann niemand in Übersee? Weil nur die Hälfte wahr ist von dem, was hier aufgetischt wird. Weil das Kino längst nicht mehr nur dem Anspruch gerecht werden muss, zu hundert Prozent wahrheitsgehaltvolle Geschichten zu erzählen. Tarantino hat hier längst das Tabu gebrochen – die biographischen Fakten über Sharon Tate, die ja tatsächlich der Manson-Family zum Opfer fiel, schlagen in seiner Hollywood-Märchenstunde eine wohlwollende Richtung ein. Weird Al Yankovic, immer noch unter den Atmenden, hat nicht so viel Glück. Aber schön der Reihe nach.

Der Mann, den der wunderbare und von mir sehr geschätzte Daniel Radcliffe mit einer Inbrunst verkörpert, als würde seine Kreditfähigkeit davon abhängen, hat in den Jahren seines Durchbruchs wohl auch nicht viel anderes getan als Otto Waalkes, der gerade wieder mit seinem Friesenjungen in den Charts steht: nämlich, Lieder zu parodieren. So wird My Sharona von The Knack zur Wurst-Hymne My Bologna, Queens Another One Bites the Dust zum Stegreif-Schmunzler Another One Rides the Bus. Und Eat it, der Song zum Gusto auf alles Verzehrbare, wird erst unter Michael Jackson zum Knüller. Klingt nach Satire, nach waschechter Satire. Ist es aber nicht. Also nur zum Teil. Dass Madonna (permanent kaugummikauend: Evan Rachel Wood) den impulsiv-naiven Al Yankovic als Sprungbrett für ihre eigene Karriere benutzt hat, muss erfunden sein. Aber was weiß man als unbedarfter Zuseher überhaupt schon genau. Allein schon die Art und Weise, wie Weird Al als Kind des glücklichen Zufalls plötzlich entdeckt wird, will man nicht glauben. Noch dazu von jemandem namens Dr. Demento, der ja an sich schon so was von erfunden und fiktiv wirkt, als würde man niemals vermuten, eine reale Person stünde dahinter.

Eric Appel, der gemeinsam mit Weird Al Yankovic diese Realsatire vom Stapel hat lassen, nimmt natürlich allerhand Klischees aufs Korn, die so einige Berühmtheiten vor allem in den USA für sich beanspruchen können. Plötzlich entdeckt zu werden ist eines dieser Dinge (doch wie viele davon sind wahr?). Der Ruhm, der sich auf Magazincover und Eskapaden auf der Bühne reduziert, ebenso. Die Linie zwischen Realität und Fiktion lässt sich nicht mehr ziehen, da die Versatzstücke einer Weltkarriere vor lauter Abgedroschenheit auf einen kuriosen Drogentrip wandern, der sie auch direkt in den kolumbianischen Dschungel bringt. War schon Forrest Gump eine fiktive Chronik der amerikanischen Geschichte, so ist Weird: The Al Yankovic Story das Blättern durch ein Klassenbuch der Allstars von damals, die in lockeren Parodien wie die Puppen eines Kasperletheaters wirken. Doch dieses Verschwimmen von Wahrheit, Lüge und Witzkiste; dieser krude, nicht sehr feinsinnige Mix aus alledem findet dadurch auch keinen eigenen Stil. So seltsam die Begebenheiten hier auch sind, so routiniert und uninspiriert bleibt die Umsetzung. Radcliffe ist natürlich eine Nummer für sich, der Underdog-Charme einer akkordeonklimpernden Rampensau für die Kleinbühne sitzt. Doch sobald das Ganze ausufert, findet der Film selbst, so wie seine von sich selbst sehr überzeugte Kunstfigur, keinen Halt mehr. Und fällt vom Hocker. Im Gegensatz zu mir.

Weird: The Al Yankovic Story (2022)

Tár (2022)

AUS DEM TAKT GERATEN

5/10


tar© 2022 Focus Features, LLC.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE / PRODUKTION: TODD FIELD

CAST: CATE BLANCHETT, NINA HOSS, NOÉMIE MERLANT, JULIAN GLOVER, MARK STRONG, SOPHIE KAUER, ALLAN CORDUNER, MILA BOGOJEVIC, ADAM GOPNIK U. A.

LÄNGE: 2 STD 38 MIN


Wann geht’s denn endlich los? Eine Frage, die sich nach einer gefühlten halben Stunde Podiumsdiskussion mit Cate Blanchett als Dirigentin Lydia Tár durchaus stellen lässt. Wir haben das nach Abspann aussehende Intro gesehen und folgen nun fachkundigen Fragen, die mit Sicherheit das musikaffine Publikum, insbesondere für Klassik, interessieren wird. Mahler hin, Mahler her, es fallen diverse Namen wie Claudio Abbado, Karajan, Bernstein und Furtwängler. Die Virtuosin zeigt sich gesprächsbereit und engagiert. Ist freundlich, aber bestimmt. Ein Star der Musikszene eben. Ganz oben am Zenit des Schaffens, inklusive Autobiographie und allen wichtigen Preisen, die man nur so abräumen kann – so jemand nennt sich EGOT. Tár ist ein Mensch, der sich dadurch definiert, für die Kunst zu leben und Teil der Kunst zu sein. Über eine halbe Existenz hinweg errichtet sie ihr eigenes strenges, prinzipientreues, fast schon dogmatisches Königreich. Genau so geht klassischer Ruhm.

Nach dem Abarbeiten von Társ künstlerischem Lebenslauf und Verweisen zu möglichen Vorbildern geht Todd Fields Beobachtung ihres Alltags weiter. Und langsam formt sich der Charakter einer selbstbewussten Größe, die ihrem streng durchgetakteten Terminkalender folgt, den ihre persönliche Assistentin Francesca (Noémie Merlant, grandios in Portrait einer jungen Frau in Flammen) schon im Schlaf herunterrasseln kann. Ohne Francesca wäre Tár selbstredend aufgeschmissen, doch im Idealfall soll sich ein Künstler nur auf seine Kunst konzentrieren. Vergessen darf er dabei nicht, auch sozial integer zu bleiben. Tár versucht es, was sich manchmal besser, manchmal schwieriger gestaltet. Es sind die Opfer, die eine Weltberühmtheit bringen muss – es ist der Fokus auf das Perfektionieren schwieriger Stücke vorzugsweise von Mahler oder Beethoven. Das Ensemble des Orchesters ist da nur Werkzeug. Ein liebgewonnenes Werkzeug. Und Tár tut, was sie kann. Vermeidet eklige Arroganz, vergisst manchmal, die ihr zu Diensten Stehenden entsprechend zu würdigen, hat nur das Ziel der Vollendung ihres Schaffens im Blick. Wer sich darauf einlässt, muss scheinbar wissen, wie so jemand tickt.

Und dann passiert das, was Promis manchmal passiert: Tár gerät in Misskredit. Zu Recht oder nicht, wen juckt das schon. Jedenfalls gerät ihre Welt aus den Fugen, nachdem Tár beschuldigt wird, mit dem Suizid einer ehemaligen Musikerin aus ihrem Mentoring-Programm Accordion Fellowships etwas zu tun zu haben. Sexuelle Ausbeutung? Machtmissbrauch? Alles nur Vermutungen, Andeutungen und vage What if-Konstrukte, denen sich Tár nun ausgesetzt sieht. Mit diesem Dilemma unterliegt bald auch ihre Wahrnehmung einer Verzerrung, die Wirklichkeit hat kaum mehr gute Erklärungen parat. Ihr soziales Umfeld zeigt ihr die kalte Schulter, Mentoren und Kollegen üben sich im Schuldspruch aufgrund eines Verdachts, der sich niemals erhärtet. Klar ist der Stern Társ daraufhin auf Sinkflug. Doch eine, die schon alles gehabt hat, muss sich nicht zwingend an einen Zustand klammern, der längst in einen Erfolgstrott verfallen ist.

Der für 6 Oscars nominierte Streifen und nach Little Children Todd Fields erste Regiearbeit nach 16 Jahren ist Arthouse-Kino, welches sich in seiner eigenen Themenwolke – nämlich in der Welt der Klassik und jener, die sie interpretieren – zu sehr bequem macht, um heraustreten zu wollen. Der Schritt in ein anderes Genre als das des Künstlerdramas ist zu zögerlich, um ihn letztendlich getan zu haben. Das Schauspiel von Cate Blanchett hätte es wohl nicht verändert, denn sie genügt sich und dem Publikum vollkommen. Es gelingt ihr, eine Figur mit Biografie zu erschaffen, und noch dazu eine, die man weder verurteilen noch anhimmeln kann – bewundern vielleicht schon, ob ihres Könnens und ihrer Tatkraft. Zu so einer Figur gehören Manierismen und Verhaltensweisen, die aber nichts Pathologisches an sich haben und später auch nicht haben werden. Nehmen wir mal Natalie Portman in Black Swan. Darren Aronofsky hat da viel energischer mit anderen Genres kokettiert, sein Ballettthriller wurde zum polanski’schen Horror, Portman zur Furie. Tár mag zwar auch manchmal austicken, doch richtig manisch wird sie nie. Insofern bleibt Todd mit seiner Halbgöttin im Hosenanzug auf dem Boden, schickt sie vielleicht manchmal durch entrische Gänge, die im Dunklen liegen, will sie aber letztendlich nirgendwo einordnen. Weder als Soziopathin noch als Opfer des Ruhms. Was zur Folge hat, dass bis auf Blanchetts Figur alle anderen Charaktere schemenhaft herumspuken. Genauso vage bleibt die mysteriöse Vergangenheit einer Dreiecksbeziehung und der Stein des Anstoßes, der Problemfall selbst, um welchen sich Társ Schicksal rankt. Reduziert auf Erwähnungen im Gespräch, die man leicht überhören kann, bleibt der Kern des Plots zu volatil, um jene Gewichtigkeit zu erlangen, die er hätte haben sollen. Tár als Film gefällt sich zu sehr in seiner Fachsimpelei und verlässt sich fast ausschließlich auf den Inhalt seiner Dialoge. Todd widersteht dem Versuch, Társ Charakter aus ihrer Reaktion auf die Umstände zu zeichnen, sondern formt sie bereits außerhalb der Geschichte, was dieser viel zu viel Zeit abringt. Das, was interessant ist, kommt als beiläufige Andeutung eines möglichen Skandals zu kurz. Obwohl überall hoch gelobt, empfinde ich Tár als ein Werk, das sich in seinen Prioritäten verpeilt.

Tár (2022)

Elvis

DER KÖNIG KOMMT BIS VEGAS

7,5/10


elvis© 2021 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: BAZ LUHRMANN

CAST: AUSTIN BUTLER, TOM HANKS, HELEN THOMSON, RICHARD ROXBURGH, OLIVIA DEJONGE, LUKE BRACEY, DAVID WENHAM, KELVIN HARRISON JR., KODI SMIT-MCPHEE U. A.

LÄNGE: 2 STD 39 MIN


Der Zeitpunkt scheint gekommen, an dem alle Elvis-Imitatoren rund um den Globus ihre Fake-Koteletten abziehen und ihre Glockenhosenoutfits zusammenpacken können – denn jetzt gibt es einen, der schlägt sie alle. Da gibt es nichts mehr über ihm, außer Elvis selbst, doch der ist leider schon seit 45 Jahren tot, wobei er sein eigenes Alter bereits um 3 Jahre überschritten hat. Elvis ist also länger schon Geschichte, als er überhaupt gelebt hat. Das Gerücht, das Elvis noch lebt, könnte mit Baz Luhrmanns tiefer Verbeugung vor einem Musik- und Showgenie neue Nahrung erhalten.

Denn Austin Butler, bislang vorwiegend in Nebenrollen und in einzelnen Fernsehserien zu sehen, schenkt dem King of Rock ’n‘ Roll ein neues, doch vertrautes Antlitz – er macht ihn nicht nur insofern lebendig, weil er dem Mann aus Memphis, Tennessee, so verblüffend ähnlich sieht. Sondern weil er weiß, wie er geht, steht, sich bewegt und vor allem – wie er lächelt. Sein charmantes Kokettieren mit dem weiblichen Publikum hat nebst den markanten Hüftbewegungen, die später Michael Jackson uminterpretieren wird, die eigentliche Hysterie ausgelöst und eine fast schon beängstigende Fankultur begründet. Austin Butler bekommt das genauso hin – vereint mit Outfit, Frisur und den richtigen Rhythmen wird eine Ikone lebendig, die man maximal in stadthallenfüllenden Tributshows aus sicherer Entfernung bewundern konnte – mit Lookalikes, Evergreens und einer damit einhergehenden Reisebegleitung in die Jugendjahre der Elterngeneration.

In Elvis wird nämliche Person hautnah erlebbar und somit zu einem Erlebnis, das in seiner kultischen Verehrung sogar jene Performance, die Rami Malek als Freddy Mercury hingelegt hat, in den Schatten stellt. Natürlich, auch er hat den Preis für die Rückholung des Queen-Leaders verdient, wenngleich die optischen Anpassungen manchmal etwas überzeichnet wirken. Butler hingegen spielt Elvis so, als wäre er niemals jemand anderer gewesen. Er muss sich mit der Biografie dieses Mannes akribisch auseinandergesetzt haben. Und nicht nur er. Auch Baz Luhrmann, dem der Stoff sicher schon lange in den Fingern gejuckt haben muss, erweist sich als profunder Kenner eines Teils der modernen Musikgeschichte. Natürlich, wie von Luhrmann zu erwarten, errichtet dieser seinen sakralen Triptychon-Altar aus funkelnden Devotionalien, manchmal zu braver biographischer Chronik und dem Blick hinter dem Bühnenvorhang, wo Drogen, Intrigen und Panik herrschen. Luhrmann feiert dabei das Zeitkolorit der Nachkriegsdekaden bis ins kleinste Detail und liebt das Konterfei seines Stars, weil er selbst kaum glauben kann, wen er da gecastet hat. Andererseits aber nimmt dieser seine Aufgabe ernst genug, nicht nur eine Elvis-Tribute-Show zu liefern, sondern auch den Menschen und sein Umfeld ganz ohne Getöse zu analysieren.

Diese Dreifaltigkeit gereicht dem Film zum Erfolg. Denn es bleibt nicht nur beim routinierten Abbild der Lebensgeschichte einer Kultfigur. Das mächtige Mittelstück von Luhrmanns Altar ist der Versuch einer Reise in eine gebrochene, gegängelte und verschreckte Seele. In die finsteren Winkel des Showbiz, das den Goldesel so oft bemüht, bis dieser zusammenbricht. Die Gier ist hierbei der Hounddog, die Bereicherung anderer am zum Objekt verkommenen Rampensau erweckt Suspicious Minds. Diese verdächtigen zu Recht einen gewissen Colonel Parker – Elvis Mentor, Mutterersatz und Mädchen für alles. Sein Marketing-Genie, sein Manager. Einer, der mit freier Hand über den „King“ verfügen wird. Plötzlich wird die Bühne zum Thronsaal, und der Monarch zur Marionette, die nach der Pfeife des Kanzlers tanzt. Tom Hanks hat sich hierfür eine Latex-Wamme sowie Wampe anlegen lassen, die ein bisschen aufgesetzt wirkt und den guten Mann von Hollywood in seinen schauspielerischen Möglichkeiten bremst, da man stets darauf konzentriert ist, nicht Hanks selbst, sondern einen alten, geldgeilen „Felix Krull“ darin zu entdecken, der gar nicht ist, wer er zu sein scheint. Diesem Löwen hat sich Elvis zum Fraß vorgeworfen, nichtsahnend und darauf vertrauend, dass es andere gut meinen könnten.

In diesem Gefüge aus Macht und Missbrauch, erinnernd an Pinocchios Schicksal unter den Fängen von Kater und Fuchs, erscheint Elvis‘ Lebens- und Erfolgsgeschichte wie eine Passion, wie ein Lehr- und Mahnbeispiel über Ausbeutung und Manipulation talentierter Geister. Damit verknüpft, überzeugen Butler und Luhrmann auch damit, Elvis als einen ehrgeizigen, wenngleich auch naiven Perfektionisten darzustellen, der außer dem Besten sonst nichts geben will. Am Ende bleiben Wehmut und Mitgefühl für einen Pionier. Erscheinen Bilder vom echten Elvis, die von den inszenierten kaum mehr zu unterscheiden sind. Elvis Erfolgsgeschichte ist eine, die niemand jemals haben will. Und Vegas? Wird zum Vorhof der Hölle, aus dem es kein Entkommen gibt.

Elvis