Bird (2024)

GEFIEDERTE FREUNDE

8/10


© 2024 House Bird Limited


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA, FRANKREICH, DEUTSCHLAND 2024

REGIE / DREHBUCH: ANDREA ARNOLD

CAST: NYKIYA ADAMS, FRANZ ROGOWSKI, BARRY KEOGHAN, JASON BUDA, JAMES NELSON-JOYCE, JASMINE JOBSON, FRANKIE BOX, RHYS YATES, JOANNE MATTHEWS U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Sie singen alle gemeinsam Coldplays Love Song Yellow nach, damit die vermaledeite Kröte endlich ihren halluzinogenen Schleim spuckt. Barry Keoghan als viel zu junger Vater Bug, verziert mit allerlei Tattoos aus Brehms Tierleben, Band Insekten und Gliederfüßer, hält das Amphib dicht vor seinem entblößten Oberkörper, ein anderer hält dem Tier eine Glasscheibe vor. Mit diesem animalischen Auswurf, so Bug, will er sich und seine Familie finanziell sanieren. Und im Übrigen seine kurz bevorstehende Hochzeit ausrichten. Dieser Figur eines völlig aus dem Leben geworfenen und allmählich wieder zurückfindenden Menschen gibt Keoghan (oscarnominiert für The Banshees of Inisherin, Saltburn) Leben, schenkt ihm Liebe und Echtheit. Obwohl der Mann vieles nicht auf die Reihe bekommt. Schon gar nicht die Erziehung seines Nachwuchses. Das sind Hunter (Jason Buda), der in die Fußstapfen seines kumpelhaften Vaters tritt und seiner Freundin ein Kind macht – und Bailey (Nykiya Adams), ein zwölfjähriges Mädchen, das sich ihrer sexuellen Identität noch nicht ganz bewusst ist oder aber diesen Geschlechterrollen bis dato keine Beachtung geschenkt hat, da es dafür wirklich keinerlei Zeit und Raum gab, um sich selbst zu definieren.

Bailey ist die zentrale Protagonistin des Films, Andrea Arnold folgt ihr auf Schritt und Tritt, ohne sie zu bedrängen, allerdings auch, ohne sie loszulassen. Dieser soziale Käfig aber, oft als abstrakte Gitterstruktur im Bild, ist wieder ein anderer: Bird schildert schließlich die niederschmetternde soziale Tristesse in der Hafenstadt Gravesend nahe London. Von allerlei Graffiti beschmierte Wände sind die Schmuckstücke dieser Gegend, wohl auch, weil mitunter so manche Weisheiten zu lesen sind, die das Leben bejahen und seine womöglich sozial benachteiligten Leser dazu auffordern, nicht aufzugeben. Immer wieder streut Arnold gesprayte Oneliner ins Bild, ob auf dem Fenster des Linienbusses, in Baileys Zimmer oder am Bahnhof der Stadt. Diese Worte schnappt das Mädchen immer wieder auf. Und noch etwas: Es sind die Vögel dieser Stadt, die ihm wohlgesonnen sind. Ob Möwe, Krähe oder anderes: Baileys ungerufene gefiederte Begleiter scheinen Hoffnungs- und Freiheitsträger zu sein – diese Metapher setzt Arnold nicht nur ins Verhältnis zu des Vaters Affinität für niedere Tiere, die seinen sozialen Status determinieren. Bailey will und kann mehr. Und da setzt das soziale Märchen ein, die Poesie sickert in diese entbehrungsreiche Verwahrlosung aus allerlei Defiziten, die längst das Jugendamt hätten alarmieren sollen. Diese Welt ist aber frei von Regeln, es ist der sich selbst überlassene Untergrund, den die gutsituierte Gesellschaft neben die Mülltonne stellt.

Da erscheint Franz Rogowski, einzigartiger Schauspielexport aus Deutschland, eine schillernde, nonkonforme Person, in all seinen Rollen, konstant ausgestattet mit einer charakterlichen Metaebene, von der man meinen könnte, sie sei nicht von dieser Welt. Hier ist er titelgebender Bird, ein heimatloser Vagabund ohne Zugehörigkeit. Entkoppelt, entrückt, melancholisch. Bailey gewinnt ihn als Freund, der seinen Vater sucht. Bald scheint es, Bird ist mehr als das. Bird hat eine Aufgabe, eine Bedeutung. Ist er vielleicht nur Illusion? Nicht nur für Bailey selbst, sondern auch für alle anderen, die Hoffnung suchen oder Grenzen brauchen?

Andrea Arnolds analoger Filmstil ist die richtige Klaviatur in einem metaphysischen Sozialdrama, das niemanden kalt- oder seinem Schicksal überlässt. Hier ist das Gute am Werk, menschliche Werte, Wärme und überhaupt: Die Geborgenheit. Wie Bailey ihren Weg durch all diese Widrigkeiten findet, an ihrer Seite der seltsame Vogelmensch, der stets auf den Dächern sitzt und über seinen Schützling wacht, mag an Wim Wenders Der Himmel über Berlin erinnern. Und anders als das Betroffenheitskino des Ken Loach zaubert Arnold eine urbane Ballade der Heimatsuchenden und Heimatlosen auf die Leinwand, die imstande sind, ihr Leben umzugestalten. Bailey bekommt vieles in die Hand gegeben, zwar nicht durch ihre Familie, aber durch sich selbst – und durch die Obhut höhere Mächte.

Bird (2024)

Saltburn (2023)

YOUR HOME IS MY CASTLE

7/10


Saltburn© 2023 Amazon Content Services LLC


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE / DREHBUCH: EMERALD FENNELL

CAST: BARRY KEOGHAN, JACOB ELORDI, ROSAMUNDE PIKE, RICHARD E. GRANT, ARCHIE MADEKWE, ALISON OLIVER, CAREY MULLIGAN, PAUL RHYS, EWAN MITCHELL U. A.

LÄNGE: 2 STD 7 MIN


Es gibt Schauspieler, die, egal wie klar definiert ihre zu spielenden Charaktere auch sein mögen, stets einen gewissen Zweifel in Anbetracht ihrer Ambitionen hegen. Weil man Unterschwelliges, Durchtriebenes vermutet. Eine psychopathische Komponente, ein unaufgearbeitetes Trauma – schlicht etwas Verstörendes, das irgendwann ans Licht will. Zu diesen Darstellern zählen durchaus Joaquin Phoenix, ganz besonders Joel Edgerton (zuletzt in Master Gardener) und Barry Keoghan, der für seine Rolle des mit schlichtem Gemüt ausgestatteten Dominic Kearney aus The Banshees of Inisherin für den Oscar nominiert wurde. Diese Ehrung verschaffte dem sonst aus Giorgos Lanthimos Thriller The Killing of A Sacred Deer bekannten Iren auch eine Rolle in Emerald Fennells neuen, längst heiss diskutierten Film, der eben auf der Streaming-Plattform amazon prime seine Premiere erlebt: Saltburn.

Das klingt ein bisschen nach Sommer, Sonne und Salzwasser – ist es aber nicht. Saltburn ist das feudale, gigantische Anwesen der Familie Catton – so residieren müsste man mal! Das sind andere Zustände, die wohl kaum jemand von uns Normalbürgern jemals erlebt hat, außer man bucht eine Führung durch die Gemächer irgendeines der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Schlosses und kann sich an den edel ausgestatteten und mit sündteuren Wandgemälden behangenen Prunkräumen einfach nicht sattsehen. So ein herrschaftliches Paradies steht und fällt mit einer Entourage an Dienern und Lakaien, anders lässt sich Saltburn schließlich nicht erhalten. In diese Blase platzt Barry Keoghan. Diesmal ist er ein schlichter Student aus Oxford, muss auf eine entbehrungsreiche Kindheit zurückblicken und leidet unter dem höchst problematischen, asozialen Lebenswandel seiner Eltern, die nichts auf die Reihe bekommen, außer ihren Sohnemann Oliver auf die Universität zu schicken. Dort ist der junge Mann ein Außenseiter – bis er durch Zufall den allseits beliebten Felix trifft. Was eine Fahrradpanne so alles bewirken kann – man glaubt es kaum. Das Glück des einen scheint auf das des anderen abzufärben. Bald sind beide gute Freunde, Oliver im Kreise der Elite aufgenommen. Und da das Schicksal diesem Oliver nach wie vor eher bescheiden mitspielt, verstirbt auch noch dessen Vater. Um seinen neuen, vielleicht manchmal etwas nervigen Freund zu trösten, lädt er ihn über die Sommerferien auf besagtes Anwesen ein – nach Saltburn. Dort lernt Oliver Felix‘ Familie kennen: die dem Reichtum und der Langeweile unterworfenen, etwas dekadenten Eltern (realitätsverloren: Rosamunde Pike und Richard E. Grant), die promiskuitive Schwester und andere Nutznießern wie Oliver – dem ein Leben in Saus und Braus und im fast schon blaublütigen Wohlstand plötzlich offen steht. Alles ist möglich, alles ist zu haben. Man muss nur wissen, wie.

Dass während dieses Sommers alles eitel Wonne bleibt und der in den Tag hineinlebenden Gesellschaft bis zum Herbst hin die Sonne aus dem Allerwertesten scheint – davon kann man mal getrost ausgehen, dass dieser Zustand nicht von Dauer sein kann. Schließlich hat Emerald Fennell in Promising Young Woman Carey Mulligan als emanzipatorischen Racheengel auf die Männerwelt losgelassen. Man darf erwarten, dass Saltburn in eine Richtung geht, die in die Dunkelheit führt – in der Intrigen, Manipulation und gute Miene zu bösem Spiel bald zur Tagesordnung gehören. In diesen zwielichtigen Dunstkreis passt Barry Keoghan wie die Made im Speck. Sein Counterpart auf Augenhöhe: Jacob Elordi, der eben als Elvis Presley in Sofia Coppolas Priscilla so richtig brilliert.

Es scheint fast so, als wäre Saltburn die Geschichte einer verbotenen Liebe – in die Richtung gehend, die etwa Guadagninos Call Me By Your Name einschlägt. Weit gefehlt. Fennell zelebriert, obwohl ihr Film in den Nuller Jahren spielt, den modernen Zeitgeist, die perfide Methodik egomanischer Ich-Gesellschaften, die, permanent um sich selbst rotierend, das höchste Gut darin sehen, aller sozialer Interaktion entledigt, das Elysium einzig im erstickenden Reichtum zu erfahren. Materialismus und Soziopathie, obsessive Liebe für den eigenen Zweck. Das gegenseitige Ausspielen aller Figuren in diesem Reigen gibt sich der Zentrifugalkraft einer Eskalationsspirale hin, und je weiter Saltburn voranschreitet, umso mehr lässt der Film eine präzise durchdachte Realität zurück, um sich einer tiefschwarzen, geradezu galligen Groteske hinzugeben, die wir zuletzt ungefähr ähnlich scharf gewetzt in Bong Joon-hos Parasite gesehen haben. Von der Immer-mehr- und Noch-besser-Gesellschaft erzählt Fennell, von den Talenten eines Mr. Ripley, der in Patricia Highsmiths Büchern alle und jeden so weit abrichten konnte, um auf den Schultern jener emporzusteigen. Die Symbolik ist bei Saltburn aber noch intensiver. Das Parasitäre, das In-Sich-Einverleiben der beneideten Elite findet seinen Ausdruck im Vampirismus, im sexuellen Fetisch. Die Blicke Barry Keoghans, meistens wie die eines Unschuldslamms, lassen ganz plötzlich das Blut in den Adern gefrieren. Seine Performance ist so unberechenbar wie subversiv – und doch weiß man bald, sehr bald schon, und zwar ganz genau, wie der Hase wohl weiterlaufen wird.

Vielleicht gerät Saltburn letzten Endes zu plakativ, wird die feine Klinge dann doch noch schartig und arbeitet den humorigen, fiesen Thriller entsprechend ab, ohne sich und andere noch überraschen zu wollen. So homogen alles begonnen hat, so derb endet es. Filme wie diese, die sich immer mehr steigern, müssen mit diesem Manko klarkommen. Saltburn gelingt es trotzdem, als verfluchte Immobilie, als vom Unglück heimgesuchtes Gemäuer, zum verlockenden Verweilen einzuladen. Solange, bis es zu spät ist. Denn den Absprung verpasst man garantiert.

Saltburn (2023)

The Banshees of Inisherin

FREUNDSCHAFT IST EIN VOGERL

7,5/10


bansheesofinisherin© 2022 20th Century Studios All Rights Reserved.


LAND / JAHR: IRLAND, GROSSBRITANNIEN, USA 2022

BUCH / REGIE: MARTIN MCDONAGH

CAST: COLIN FARRELL, BRENDAN GLEESON, KERRY CONDON, BARRY KEOGHAN, SHEILA FLITTON, PAT SHORTT, JON KENNY U. A. 

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Von Juni 1922 bis in den Mai des Folgejahres tobte auf Irland ein verlustreicher Bürgerkrieg zwischen jenen, die den Irischen Freistaat befürworteten, und jenen, die natürlich dagegen waren. Das hieß auch, dass ein Teil Nordirlands immer noch unter britischer Hoheit blieb. Ein Kompromiss, den viele nicht eingehen wollten. Diesen entbrannten Bruderkrieg konnte man von den vorgelagerten Inseln Irlands manchmal beobachten – und auch hören. Explosionen, donnernde Salven. Auf Inisherin, einer der irischen Küste vorgelagerte, fiktive Insel in der Galwaybucht, hat laut Martin McDonagh (Three Billboards outside Ebbing, Missouri) der Krieg scheinbar wenig Einfluss. Das Leben nimmt dort seinen Lauf, ein Tag folgt dem anderen und endet im Pub an der Steilküste. Es wird musiziert, dann, nächsten Morgen, wird das Nutzvieh versorgt, und pünktlich um 14 Uhr am Nachmittag holt einer wie Padraic seinen besten Freund von zuhause ab, um gemeinsam ein oder mehrere Guinness zu heben. Viel mehr passiert hier nicht. Langweilige Menschen tun langweilige Dinge. Aber das ist schön so. Und vertraut. Und jeden Tag aufs Neue Grund genug, dafür aus den Federn zu kommen. Doch eines Tages, es ist der erste April des Jahres 1923 – der Krieg am Festland liegt in den letzten Zügen – ist alles anders. Padraics Freund Colm kündigt die Freundschaft. Einfach so. Das dumme Gerede des einen, so meint er, stehle ihm viel zu viel Zeit für die wesentlichen Dinge des Lebens. Für Kunst. Und Musik. Padraic versteht das nicht, da er nichts getan hat, was sein Gegenüber so harsch und gemein werden lässt. Doch für Nettigkeit ist noch niemand in die Geschichte eingegangen, so Colm. Padraic lässt jedoch nicht locker. Will wissen, was da vorgeht und kann es nicht akzeptieren, dass der brummige Geigenspieler einfach nur seine Ruhe haben will. Wer nicht locker lässt, provoziert. Und der Krieg jenseits des Meeres scheint auf die Gemüter der beiden Sturköpfe abzufärben.

Mit The Banshees of Inisherin (Banshees sind weibliche Geister aus der irischen Mythologie) hat McDonagh wohl einen der ungewöhnlichsten Filme über Freundschaft geschaffen, die man sich nur vorstellen kann. Und obendrein gleich noch eine Allegorie gesetzt, die das Wesen des Krieges widerspiegeln soll, wie Schatten auf einer Höhlenwand. In Wahrheit gibt es keinen Grund für Konflikte, es sind lediglich die Folgen von Ignoranz, Kränkung und fehlender Weitsicht. Von krankhafter Sturheit und fehlendem Respekt. Dabei wird klar: Die Absenz der Nettigkeit hat vieles verursacht, was sich locker hätte vermeiden lassen. Sowohl im Kleinen als auch in der Weltpolitik. McDonagh sucht die Wurzel des Übels im Kleinen und zaubert daraus einen zutiefst komischen, aber auch so richtig makabren Schwank, der in herzhaften Dialoggefechten und dann wieder lakonischen Szenen seine Vollendung findet. The Banshees of Inisherin ist so urtümlich irisch wie der St. Patricks Day, suhlt sich in grünen Landschaften, irischer Volksmusik und jeder Menge Schwarzbier. Lässt die Brandung an die Felsen brechen und das Vieh ins Haus. Blut wird fließen, grimmige Konsequenzen durchgezogen, als wäre Verbohrtheit ein hehres Ziel. Und bei diesem Duell zwischen dem Harten und dem Zarten laufen nach Brügge sehen… und sterben die beiden Vollblütakteure Brendan Gleeson und Colin Farrell zur Höchstform auf. Bei Gleeson war mir ohnehin längst klar: dieser Mann war nicht nur als Harry Potter-Einauge Mad Eye Moody eine Offenbarung, sondern viele seiner Filme – vorrangig das Priesterdrama Am Sonntag bist du tot – wurden erst durch die Wucht seines Schauspiels nachhaltige Werke. Bei Colin Farrell ist nach dieser Performance nun auch jeder ZWeifel ausgeräumt: der diesjährig bei den Filmfestspielen von Venedig ausgezeichnete Brite setzt uns seine bislang beste und eingängigste Leistung vor. Der verstörte, ungläubige Blick, als Padraic erfährt, dass ihn Colm nicht mehr mag, zählt jetzt schon für mich zu den stärksten Interpretationen eines emotionalen Zustands. Und dann dreht er nochmals auf – ist wütend, resignierend, in seiner Einfältigkeit liebevoll charmant und dann wieder herausfordernd. Bis alle Stricke reißen. Wenn das passiert, ist der Bürgerkrieg einfach so auch in dieser beschaulichen Idylle angekommen. Und über allen Absurditäten wandelt eine Banshee die Wege und Hügel entlang, wie eine der Hexen aus Shakespeares Macbeth, die in die Zukunft sehen können.

The Banshees of Inisherin ist ein Buddy-Movie der besonderen Art. Nicht nur kauzig, schräg und so schwarz wie der tägliche Ausschank, sondern auch auf mehreren Ebenen eine zu Herzen genommene Zurschaustellung einer Menschenwelt, die ohne Respekt und Achtsamkeit nicht funktioniert.

The Banshees of Inisherin

Eternals

MARVELS JAGD AUF MENSCHHEITSMYTHEN

6,5/10


eternals© 2021 Marvel Studios / The Walt Disney Company


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: CHLOÉ ZHAO

CAST: GEMMA CHAN, RICHARD MADDEN, LIA MCHUGH, SALMA HAYEK, ANGELINA JOLIE, KUMAIL NANJIANI, BARRY KEOGHAN, BRIAN TYREE HENRY, LAUREN RIDLOFF, MA DONG-SEOK, KIT HARINGTON U. A.

LÄNGE: 2 STD 37 MIN


Kevin Feige hat mit seiner Marvel-Schmiede deshalb so viel Erfolg, weil er offen dafür ist, Neues auszuprobieren. Damit sind nicht die uns wohlbekannten Geschichten rund um mittlerweile unzählige Superhelden, Gefahren aus dem Weltall und dergleichen gemeint, sondern das Neue hinter der Kamera. Immer wieder lässt Feige Regisseure ran, die man nicht gerade mit fantastischem Mainstreamkino verbindet. Manchmal sind es Neulinge, frischer Wind. Und dann sind es Autorenfilmerinnen und -filmer, die ihr Können längst bewiesen, vielleicht auch noch einen Oscar gewonnen haben – und sich selbst nach Neuem umsehen wollen. Wie zum Beispiel Chloé Zhao. Wir erinnern uns: der Oscar an den besten Film und an die beste Regie ging heuer an den semidokumentarischen Neowestern Nomadland. Zuvor wurde Zhao bekannt für ihren ebenfalls sehr authentischen Streifen The Rider. Beides zeitgenössische Heimatfilme, die das uramerikanische Bewusstsein sorgfältig sezieren. Marvel hat die gebürtige Chinesin mit Sinn für elegische Landschaftsszenarien nun rekrutiert. Entstanden ist der nächste Schritt tief hinein ins neue MCU (Marvel Cinematic Universe). Entstanden ist auch ein neuer Stil, ein neuer Rhythmus. Ganz neue Figuren, ohne Bezug zum bisherigen Kanon. Man fragt sich, ob Zhao die richtige Wahl dafür war. Man fragt sich auch, wie denn Eternals nun in das bisherige Ganze mit all seinen lose herumwirbelnden roten Fäden, die alle noch weiter und zu Ende geführt werden wollen, hineinpassen will. Kein einziger dieser Erzählstränge wird aufgegriffen, stattdessen werden gleich noch eine Handvoll neue geschaffen.

Und doch ist es so, dass Chloé Zhaos womöglich einziger Ausflug in das Superheldenkino mit einer Humanistin wie ihr grundsätzlich gut beraten war. Eternals widmet sich antiker Mythologie und will anhand eines sehr klassisch-abenteuerlichen Ensemblestücks am besten gleich für alle uns umgebenden Legenden aus der Bronzezeit bis ins Mittelalter deren wahren Kerne postulieren. Die Götter der Griechen sind wieder im Spiel, auch Helden aus einer Zeit, in der Babylons blaues Ishtar-Tor der Hingucker schlechthin war. Bei all diesen Mythen standen die Eternals dahinter, über Jahrtausende hinweg. Ikarus, Athena, Gilgamesch… nun gibt’s ein Come Together, nach 7000 Jahren des Zusehens und Raushaltens (es sei denn, man hat es mit den Deviants zu tun gehabt), um ein verheerendes Schicksal Marke Roland Emmerich von unserer lieben runden Erde abzuwenden, für das die ebenfalls aus den Mythen entstiegenen Giganten – die Celestials – verantwortlich wären, würde es soweit kommen. Nicht mit uns, meinen die glorreichen Zehn, da sie die Erde selbst und ihre Bewohner über alles lieben. Das sind zutiefst altruistische Gedanken, und ziemlich selbstlos, wenn so Kolosse wie der Celestial Arishem ob dieses Ungehorsams durchaus genervt sein könnten.

Creature Designer hatten grünes Licht, sich wieder mal vollends auszutoben, denn die bösen, anfangs noch mit tierischen Instinkten ausgestatteten Deviants sind eine Augenweide für Monsterfans mit Sinn für Ästhetik. Auch Chloé Zhao durfte so manche Freiheit genießen – man erkennt klar ihren Stil: Landschaften und Menschen in natürlichem Licht ohne viel üppigem Firlefanz. Wohldosiert fährt Eternals seine Effekte hoch – feine, goldene Linien, die sich an menschlichen Körpern entlangräkeln wie Efeu, hat was von Jugendstil und ist das High Tech in dieser – man möchte fast meinen – alternativen Zeitlinie zum übrigen Marvel-Universum. Aber das ist es nicht, der Infinity War hat stattgefunden. Woran man allerdings erkennt, dass Zhao so, wie sie es hier getan hat, lieber nicht weitermachen sollte, ist der Fokus auf ein Charakterdrama aus pathetischen Dialogen und Liebesbekundungen, die sich andauernd wiederholen und dem ohnehin schon gedehnten Abenteuer immer wieder seinen Schwung nehmen. Verlorene Blicke im Gegenlicht, die hatte schon Francis McDormand ausgiebigst innegehabt. Hier ist dasselbe mal zehn. Obendrein will jeder noch seine Biographie. Da wird das Publikum dann doch, so nach der Halbzeit, immer öfters ungeduldig. Seltsam auch, dass vollkommene Wesen wie die Eternals körperliche Defizite wie Mutismus aufweisen oder einer davon immer ein Kind bleiben muss. Hinterfragen darf man nicht zu viel, und ausgeschlafen sollte man ebenfalls sein, sonst wird der viel zu lange, aber anspruchsvolle und anmutig designte Mythologieparcour zu einer verschwurbelten Meditation des Wegnickens.

Übrigens: Die Post Credit Scenes (derlei zwei) sind womöglich nur für sehr eingefleischte Comicfans zu verstehen, die die ganze Bandbreite der Marvel-Bibliothek kennen. Für Kevin Feige zum Beispiel – für mich leider nicht.

Eternals

The Green Knight

DEN KOPF HINHALTEN

6,5/10


thegreenknight© 2021 24 Bilder


LAND / JAHR: USA, IRLAND 2020

BUCH / REGIE: DAVID LOWERY

CAST: DEV PATEL, ALICIA VIKANDER, JOEL EDGERTON, SEAN HARRIS, SARITA CHOUDHURY, KATE DICKIE, ERIN KELLYMAN, RALPH INESON, BARRY KEOGHAN U. A.

LÄNGE: 2 STD 10 MIN


Fantasy ist trotz des Erfolgs mit Game of Thrones und Herr der Ringe immer noch rar gesät, natürlich aufgrund der Kosten, die so ein Projekt verschlingt. Ausflüge ins Mittelalter sind fast ausschließlich in der Hand eines Ridley Scott (demnächst mit The Last Duel im Kino), wenn nicht gerade Michael Hirst seine Vikings auf die Welt loslässt. Endlich gibt’s hier Nachschub, und endlich mal dreht sich alles wieder um König Artus und die Ritter der Tafelrunde. Von Guy Ritchies Haudrauf-Interpretation des illustren Helden ist nämlich auch nur noch eine vage Erinnerung geblieben. Das könnte sich mit dem Spin-Off eines ganz anderen Recken durchaus ändern, denn die Verfilmung einer mittelalterlichen Romanze rund um Gawain entlockt den Themen unter der Regie eines sehr bemerkenswerten Filmemachers ganz andere Töne. Die Rede ist von David Lowery, ein Feingeist und cineastischer Umdenker. Einer, der Disneys Elliot – Der Drache zur emotional intensiven Familien-Fantasy mit Öko-Botschaft emanzipiert hat. Der Robert Redford Banken ausrauben ließ und in A Ghost Story auf innovative Weise über die Zeit und den Tod philosophiert hat. Es lässt sich erahnen, in welche Richtung Lowery diesmal abdriften wird, ist doch das Genre des Ritterfilms gänzlich neu in seinem Oeuvre. Das Ergebnis ist in Sachen Grünstich dem Fell des Walddrachen Elliot ganz ähnlich, taucht allerdings ganz tief ein in die Sphären von mit Chorklängen erfüllten, steinernen Gewölben, um längst gewohntem Trend den Rücken zu kehren. Hier, in der Finsternis des Mittelalters, trifft „Slumdog Millionaire“ Dev Patel auf den oder das große Unbekannte: auf den magischen, grünen Ritter.

Dabei ist anfangs noch alles so, wie es in einem Film über die Tafelrunde sein zu hat. Es ist Weihnachtstag, alles versammelt sich um den obligaten runden Tisch, der bereits recht alternde Artus spricht zu seinem Gefolge, als sich plötzlich die Tore öffnen und eine berittene Gestalt die traute Runde stört, um einen der Anwesenden zu einem Schlagabtausch herauszufordern. Der Mutige soll seinen Hieb ausführen, in einem Jahr gibt’s dann die Antwort des grünen Ritters auf die gleiche Weise. Noch Nicht-Tafelrundler Gawain, ein trinkfreudiger Taugenichts, zeigt dennoch Mut und schlägt dem Fremden den Kopf ab. Pech für den Jüngling, denn das berüstete Baumwesen zeigt sich unsterblich und zieht sich enthauptet zurück. Was also tun? Gawain will die Abmachung nicht erfüllen, wohl wissend, dass dies seinen Tod bedeutet. Doch das Volk, darunter auch Artus, feiert ihn schon jetzt als mutigen Helden.

Es ist ja nicht so, dass die Legende rund um Gawain noch nie verfilmt wurde. Sean Connery hat sogar mal die Rolle des martialischen Waldschrats übernommen. Nur so, wie die Mythen hier zu neuem Leben erwachen, gab‘s das noch nicht. The Green Knight ist Ritterkino für Intellektuelle und Kunstgenießer, für Museumsbesucher und Minnesang-Afficionados. Lowery schwelgt in nebelverhangenen, herbstlichen Landschaften, das Mystische ist allgegenwärtig – der Sinn manchmal jedoch nicht. Gawains Queste wird zu einer Rittergenese über Schlachtfelder und an ziellos umherwandernden Riesen vorbei. Das Phantastische bleibt vage, die Magie hingegen scheint alles zu durchdringen, erscheint aber auch nie konkret als solche. Vielmehr hängt sie mit Gawains Wahrnehmung und Seelenwelt zusammen, die sichtbar wird. Das gerät manchmal zum Durcheinander aus rätselhaften Andeutungen und aufgeräumten, recht formelhaften Dialogen, die aber sehr darauf bedacht sind, eine altertümliche Sprache zu sprechen, knapp an der Versform vorbei. Vieles geschieht wortlos, kippt in malerisch überhöhten Realismus, wobei die streng komponierte, farblich durchdachte Bildsprache am meisten fasziniert. Lowerys Film erinnert stark an die surrealen Welten des Italieners Matteo Garrone. Seine Filme Pinocchio (2019) oder Das Märchen der Märchen, eine Anthologie barocker Erzählungen, finden einen ähnlichen Stil. Sie sind diffus, transzendent, lakonisch und durchzogen von erdigem Naturalismus. Das ist wunderschön und sinnlich. Aber auch sehr artifiziell, weniger spontan und unnahbar.

The Green Knight lässt etwas ratlos zurück, ist aber unterm Strich sicherlich bemerkenswert. Ein exzentrischer Genuss fürs Auge und fürs Ohr und so theatralisch wie John Boormans Excalibur, nur ohne Carmina Burana. Die Artusepik bleibt hier spartanischer und den Geistern einer moralischen, erzieherischen Natur unterworfen.

The Green Knight