The History of Sound (2025)

HÖREN, WAS UNS VERBINDET

5,5/10


© 2025 Fair Winter LLC. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2025

REGIE: OLIVER HERMANUS

DREHBUCH: BEN SHATTUCK, NACH SEINER KURZGESCHICHTE

KAMERA: ALEXANDER DYNAN

CAST: PAUL MESCAL, JOSH O’CONNOR, MOLLY PRICE, RAPHAEL SBARGE, HADLEY ROBINSON, ALESSANDRO BEDETTI, EMMA CANNING, BRIANA MIDDLETON, GARY RAYMOND, CHRIS COOPER U. A.

LÄNGE: 1 STD 7 MIN


Der neue Film von Oliver Hermanus erinnert unweigerlich an Brokeback Mountain, wie wahr ein Eckpfeiler des queeren Kinos, tragisch, sentimental und nicht davor zurückschreckend, den unantastbar scheinenden Mythos des maskulinen Westernhelden zu hinterfragen. Heath Ledger und Jake Gyllenhaal liebten sich, schmachteten sich an, vergossen Tränen und blickten so sehnsuchtsvoll wie wehmütig in die Landschaft. Und dennoch: So ganz genau wusste ich nicht, woran es lag, dass es den beiden nicht gelang, in ihren Figuren zu überzeugen. Lag es am Klischee des Westerns? Oder daran, dass Ledger und Gyllenhaal nur so tun mussten, als wären sie homosexuell? Vielleicht war Ang Lee als Regisseur auch nicht der richtige, vielleicht wäre Oliver Hermanus besser gewesen. Dieser hat schließlich das Thema auf eigene Weise variiert und die Tonalität eines Western außen vorgelassen, ohne aber auf die Historie eines Landes zu verzichten. Hermanus (sein letzter Film Living, nach einer Idee von Akira Kurosawa und mit einem sagenhaft guten Bill Nighy, lief ebenfalls auf der Viennale) taucht tatsächlich viel tiefer ein in das vergangene Amerika, glücklicherweise nicht nur im Sinne genrebedingter Parameter und Stereotypen, und findet seine unstillbare Sehnsucht zweier Männer im leisen Abenteuer des Suchens, Sammelns und Zuhörens.

Wie die Alten sungen

Dieses Zuhören zahlt sich aus, denn was Lionel und David miteinander verbindet, ist die Musik. Der eine, Lionel, besitzt schon von Klein auf die Fähigkeit, die akustische Welt anders zu empfinden als andere, er sieht und spürt sie in Farben, er kann sie fühlen und fast schon schmecken. Und er kann singen. Ein Talent, das ihn von der elterlichen Farm mit all seinen vom Vater zum Besten gegebenen Volksweisen nach Boston ans Musikkonservatorium bringt. Wo er natürlich David kennenlernt, einen Komponisten. Der eine singt, der andere spielt Klavier, so kommen sie, singend und spielend, zueinander und landen dann auch gemeinsam im Bett. Um später, nach dem ersten Weltkrieg, gemeinsam auf Wanderschaft zu gehen, amerikanische Volkslieder zu sammeln und auf Wachszylindern aufzuzeichnen.

Liebe und Distanz

In diesen Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts aber, während der Erste Weltkrieg tobt, ist Homosexualität ein Tabuthema, niemand redet darüber, doch die beiden akzeptieren sich und ihre Neigung – weit davon entfernt, sich zu outen. Der nach einer Kurzgeschichte von Ben Shattuck entstandene Liebes- und Lebensfilm macht aber gerade diese Art der sexuellen Orientierung nicht vorrangig zu einem Thema, sondern zieht, und das ist drängend genug, die Konsequenzen, die der Tatsache einer niemals realisierbaren Zukunft folgt. Paul Mescal und Josh O’Connor – beide gerade im Filmbiz sehr gefragt – spielen ihre Charaktere auf Distanz, sie bleiben verschlossen, agieren lakonisch, geben wenig von sich preis. Zwei introvertierte Außenseiter, auf der Suche nach dem Ort, wo sie hingehören könnten – The History of Sound nutzt das historische, in allen Brauntönen präsente Kolorit eines ruralen Amerikas und erweitert das Spektrum mit alten Liedern, die von der Schwere des Lebens und der Liebe erzählen. Natürlich der Liebe, das ist das, was auch die beiden jungen Männer bewegt, obwohl sie zumindest in Hermanus Narration zwar die Liebe zueinander darstellen sollen, jedoch stets so agieren, als würden sie auf Abstand bleiben wollen.

Wie klingen verpasste Chancen?

Mescal und O’Connor fehlt die Harmonie zueinander. Der ohnehin stets distanziert agierende O’Connor, der oft so wirkt, als hätte er ein sinniges Lächeln auf den Lippen und hinter dessen Fassade man schon in The Mastermind nicht blicken konnte, erhält durch seinen Filmpartner Paul Mescal, der sich ähnlich verschlossen zeigt, keinerlei Support, um Gefühle zu repräsentieren. Beide sind eine Insel für sich, beide streifen durchs herbstliche Amerika – die Lieder selbst, die man hört, füllen nur bedingt die emotionale Lücke, die der Film hinterlässt. Und man merkt auch: The History of Sound ist eine Kurzgeschichte. Ähnlich spartanisch fühlt sich diese Story an, die sich sichtlich bemüht ist, im Fluss zu bleiben, nicht aber daran interessiert ist, den Zuseher einzubinden.

Spärlich interessante Figuren also in einer prinzipiell interessanten, aber gehemmten Exkursion über die Verbundenheit durch Klang, Erbe und Gesang, die ihre eigene Romanze vernachlässigt, dafür aber in den letzten Minuten eine sentimentale, nostalgische Wehmut mit sich bringt. Schließlich artikuliert sich, was bisher die ganze Zeit gefehlt hat: Die Schmerzlichkeit einer Empfindung, die man hat, wenn man nicht weiß, wohin einen das Herz tragen soll. Manchmal weiß The History of Sound auch nicht, wohin mit sich. Diese Ratlosigkeit schafft eine kaum überbrückbare Distanz.

The History of Sound (2025)

Gladiator II (2024)

DIE HAIE DES ALTEN ROM

5/10


gladiator2© 2024 Paramount Pictures


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2024

REGIE: RIDLEY SCOTT

DREHBUCH: DAVID SCARPA

CAST: PAUL MESCAL, DENZEL WASHINGTON, CONNIE NIELSEN, PEDRO PASCAL, FRED HECHINGER, JOSEPH QUINN, TIM MCINNERNY, DEREK JACOBI, ALEXANDER KARIM, LIOR RAZ, RORY MCCANN U. A.

LÄNGE: 2 STD 28 MIN


Jetzt hatte ihm doch glatt dieser Deutsche namens Roland Emmerich den optimalen Drehort weggeschnappt – die Cinecittà-Studios in Rom. Als ob das nicht schon genug des Schlittenfahrens mit einem alteingesessenen Regie-Veteran wäre – die Rede ist von Ridley Scott – will der Master of Desaster, nämlich Emmerich, dem Meister der Massenszenen auch noch die Show stehlen. Der hatte zu dieser Zeit schließlich die auf amazon längst feilgebotene Sandalen-Serie Those About To Die gedreht: Hickhack im Kolosseum oder im Circus Maximus, alles vor den Kulissen antiken römischen Polit-Geplänkels. Ridley Scott wollte das gleiche machen, hat aber woandershin ausweichen müssen, eben nach Malta und nach Marokko, auch keine schlechten Drehorte, da gibt es schlimmeres. Sein Kolosseum kann Scott auch woanders fluten, teilweise auch am Rechner, von dort peitscht schließlich auch das Mittelmeer an die numidische Festung und bringt den Tod auf Schiffen mit sich. Die größte von ihm gedrehte Schlachtenszene, will Ridley Scott schließlich bemerken. Was Besseres hat er, so meint er, noch nicht hinbekommen. Damit hat der Meister seines Fachs schon genug die Werbetrommel gerührt, denn wenn Scott von sich schon so beeindruckt ist, wie beeindruckend kann das Ganze dann fürs Publikum sein, welches die spektakulären Bilder der Schlacht von Austerlitz aus Napoleon noch taufrisch im Oberstübchen weiß. Die hat es schließlich gegeben, als Dreikaiserschlacht steht sie als Gamechanger in den Geschichtsbüchern.

Die Invasion unter Feldherr Justus Acacius hingegen gab es nie. Ridley Scott ist das egal, uns soweit eigentlich auch. Man kann davon ausgehen, dass diese Seeschlachten und Belagerungen ungefähr alle so aussahen wie zu Beginn des Schinkens Gladiator II, dem Sequel des vor einem Vierteljahrhundert das Genre des Historienfilms wiederbelebten Klassikers mit Russel Crowe, der unter den berührenden Klängen von Hans Zimmer den Sand der Arena kosten musste. Er und Joaquin Phoenix als unberechenbarer, charismatischer Diktator lieferten sich ein Duell der Extraklasse. Was war das nicht für ein großes emotionales Schauspielkino, das man bei Gladiator II leider vermisst. Jeder tut hier, was er kann, doch stets für sich, ohne durch ein ausgefeiltes Teamplay Synergien zu entwickeln, die packendes Kino eben ausmachen. Ridley Scott und sein Drehbuch-Buddy David Scarpa, der schon die Filmbiografie des kleinen Korsen verfasste, schicken allerhand vom Schicksal gebeutelte gute und verrückt-sardonische Böse ins Rennen um die Macht, um Ansehen und die Freiheit in einem Weltreich, das damals womöglich in einer ähnlichen Krise festsaß wie heutzutage so manche Supermacht.

Zwei Narren namens Caracalla und Geta (ja, die hat es gegeben) vergnügen sich mit Spielen und wenig Brot für die Untertanen, der spätere Konsul und Gladiatorenmacher Macrinus (hat’s auch gegeben) intrigiert sich an die Spitze und instrumentalisiert dabei den Numider Hanno, in Wahrheit Lucillas und Maximus‘ Sohn Lucius, den es namentlich zwar auch gegeben hat, aber eine völlig andere Rolle spielt. Diese Figuren also schicken Scott und Scarpa auf die Spielwiese ins Zentrum der ewigen Stadt, die auf verblüffende Weise wieder aufersteht und ein authentisches Gefühl dafür vermittelt, wie es damals zugegangen sein muss. Es schieben sich die Massen über das Forum Romanum, es lebt das landwirtschaftlich genutzte Umland, es brennen die Fackeln über den Köpfen einer Menge an aufständischen Bürgern, die in der Düsternis der abendlichen Metropole gegen die Diktatoren demonstrieren. Hier liegen Scotts Stärken, die er egal in welchem Film mit geschichtlichem Kontext stets auf vollkommene Weise ausspielen kann. Wie er das macht, und vor allem, wie effizient (Drehtage gab es lediglich knapp 50), ist erstaunlich. Und ja, da gibt es keinen zweiten, der ihm da das Wasser reicht. Und wenn doch, dann ist es vielleicht eingangs erwähnter Emmerich, der die brachiale Opulenz des Leinwandspektakels zwar nicht ganz so auf Hochglanz poliert wie sein britischer Kollege, aber zumindest weiß, wie er die ausstattungsintensiven Settings wieder kaputtmacht.

Wie bei Gladiator aus dem Jahr 2000 beginnt Gladiator II mit einem Schlachtengemälde, gesteckt voll mit überzeugenden Kulissen und selbstredend ohne historische Akkuratesse. Am Ende sammelt Ridley Scott wieder die Massen, es raubt einem den Atem, wenn die römischen Heere aufmarschieren, auch dort ohne Gewährleistung wissenschaftlicher Genauigkeiten. Experten raufen sich sowieso schon längst die Haare, vorallem, weil Scott hier noch weniger Acht gibt als er es sonst tut. Er nimmt sich aus der Geschichte, was er brauchen kann, und nur anlehnend an Tatsachen setzt er diese Elemente so zusammen, als wäre sie die freie Interpretation irgendwelcher Legenden. Das kann er machen, das tun so manche Serien (Vikings, Last Kingdom) ebenso. Streiten lässt sich darüber angesichts der Fülle an Fehlern irgendwann gar nicht mehr.

Zwischen den bildgewaltigen Szenen dümpelt allerdings ein inspirationsloses Popcornkino dahin, das Talente wie Paul Mescal (u. a. Aftersun), Pedro Pascal und Denzel Washington maximal routiniert aufspielen lässt. Mescal ist dabei erfrischend kaltschnäuzig dank seiner Situation des Kriegsgefangenen, der seine bessere Hälfte von den Römern ermordet weiß. Warm wird man mit ihm nie, auch Pedro Pascal bringt niemanden zum Erzittern. Er ist Figur durch und durch, lebt sie aber nicht. Washington erzeugt die meisten Vibes, während Connie Nielsen mit ihrer ambivalenten Figur der Lucilla völlig überfordert scheint. Sie sucht die flucht im flachen Spiel kolportierter Emotionen. Es scheint, als hätte Emmerich die Regie übernommen, wofür auch Haie bei der nachgestellten Schlacht von Salamis und räudige Paviane blutdürstend Zeugnis ablegen.

Geschichtskino kann Ridley Scott deutlich besser. Warum es ihn nicht losgelassen hat, unbedingt den Gladiator fortzusetzen, der niemals auch nur einmal danach verlangt hätte, mag mir ein Rätsel bleiben. Vielleicht ist es wieder nur das Geld, doch Scott ist mit seiner eigenen Produktionsfirma sowieso der Gunst des Publikums längst erhaben. Man kann nur hoffen, dass das Feintuning bei ihm wieder zurückkehrt, auch die Lust am filmischen Standalone eines Monumentalfilms ohne Drang nach Fortsetzung. Mit dieser Art von Film schließlich tut sich Scott seltsam schwer.

Gladiator II (2024)

All of Us Strangers (2023)

JEDER LEBT FÜR SICH ALLEIN

8/10


allofusstrangers© 2023 20th Century Studios All Rights Reserved.


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2023

REGIE / DREHBUCH: ANDREW HAIGH

CAST: ANDREW SCOTT, PAUL MESCAL, JAMIE BELL, CLAIRE FOY, CARTER JOHN GROUT U. A.

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Wie einsam und allein ist der Mensch denn tatsächlich, Zeit seines Lebens und im manchmal schnell, manchmal langsam dahinfließenden Strom der Jahrzehnte? Was davon ist nur Fassade, was Imagination, und wie sehr braucht es andere, um sich geborgen zu fühlen? Diese Fragen zu beantworten, scheinen oft unbequem. Weil sie Tatsachen als Licht befördern, die keiner erkennen will. Diesen Fragen stellen sich unter anderem auch Filmemacher und erörtern auf höchst unterschiedliche Weise, wie Alleinsein sich anfühlen kann. Der Mensch kommt allein auf die Welt, interagiert während seines Lebens mit anderen, verlässt sich, wenn es gut geht, auf Mutter und Vater, später auf den Lebensmenschen, wenn sich einer finden lässt, um dann, allein, wieder diese Welt zu verlassen. Begegnungen und die Zugehörigkeit zu anderen schafft den nötigen Antrieb, um immer weiterzumachen. Fehlt diese Komponente, bleibt zumindest die Hoffnung, es könnte einmal so werden. In Uberto Pasolinis Mr. May oder das Flüstern der Ewigkeit wird die Einsamkeit des Menschen inmitten von Menschen als tieftrauriges, fast schon defätistisches Requiem inszeniert, das einem die Kehle zuschnürt. David Lowery schürt mit seiner metaphysischen Meditation A Ghost Story den Schmerz des Erinnerns und das Verlieren in den Erinnerungen eines vergangenen Lebens, sowohl der Lebenden als auch der Toten. Der Mensch wird in diesen Filmen dazu aufgefordert, sein Dasein – und auch den Tod – ertragen zu müssen, in dem Bewusstsein, mit seiner Tatsache der Existenz stets allein zu bleiben, weil man die eigene Existenz nicht teilen kann. Weil sie das ist, was man hat.

Diesen Existenzialismus im Film lässt Andrew Haigh einen Großstadttraum träumen, in der sich die Grenzen zwischen Realität und Imagination von Anbeginn an auflösen. Im Zentrum des Psychogramms steht, umgeben von sozialem Vakuum, ein Mann namens Adam, wohnhaft in einem über der Skyline von London schwebenden Appartmenthaus, das so gut wie leer steht. Adam ist somit ein einsamer Kosmonaut, der auf das Millionentreiben einer Großstadt hinunterblickt, ohne dazuzugehören. Er ist allein und einsam, antriebslos, gedankenverloren, zehrt an der Energie des Sonnenaufgangs, der, so kommt es vor, für ihn allein seine Show abzieht. Abgegrenzt und abgekoppelt von einem Leben im Miteinander ist auch Nachbar Harry (Paul Mescal), der eines Abends an seiner Tür läutet. Anfangs will Adam lieber keinen Kontakt, doch kurze Zeit später, nachdem klar ist, dass beide queer sind und füreinander Zuneigung empfinden, entsteht eine zaghafte Beziehung, die stets unterbrochen wird von einer wundersamen Tatsache, die Zeit und Raum neu konjugiert. Denn Adam, der in seinem zwölften Lebensjahr beide Elternteile bei einem Autounfall verloren hat, bekommt die Gelegenheit, Mutter und Vater wiederzusehen. Er muss dazu nur das Haus seiner Kindheit aufsuchen, und alles ist plötzlich wieder so wie früher, als wäre Adam wieder zwölf. Doch das ist er nicht, und das wissen auch seine Eltern, denen bewusst ist, längst gestorben zu sein.

Was würde man nicht dafür geben, geliebten, von uns gegangenen Menschen nochmal sagen zu können, was man immer schon sagen, nochmal fragen zu können, was man immer schon fragen wollte. Und einfach nicht mehr die Gelegenheit dazu hatte. Diese Möglichkeit wird Adam offenbart, und er nutzt sie. Er verabschiedet sich neu, kann seine Eltern nochmal umarmen, die Dinge ins Reine bringen und ihnen erzählen, wie es ihm seit damals ergangen war. Andrew Scott gibt dem einsamen Menschen, der den Verlustschmerz nicht überwinden kann und Angst davor hat, neuen zu erleiden, mit einer verletzlichen Intensität, dass man den Eindruck hat, man würde ihn schon lange kennen. Es wird fühlbar, was er empfindet, denn es sind Emotionen, die uns allen vertraut sind. All of Us Strangers wird zur immersiven Seelenreise an eine in farbiges Licht getauchte Urangst, geschützt vom Mantel der Verdrängung. Haigh reißt diesen herunter. Ecce homo, vermeint man ihn sagen zu hören. Und da ist er, dieser Adam, ein einsames menschliches Wesen, hin und hergerissen zwischen Sehnsucht, Abschied und von einer Reiselust ins Innere seines Selbst übermannt.

Vielleicht, so könnten manche vielleicht kritisieren, gibt sich All of Us Strangers einer überzeichneten Traurigkeit hin. Ich finde: Emotionen wie diese sind zu wahrhaftig, um als Kitsch bezeichnet zu werden. Leicht waren die Dreharbeiten womöglich nicht, Scott scheint sich dabei selbst an so manch schmerzliche Erfahrungen in seinem Lebens erinnert zu haben. Haighs Film ist an Intimität und Nähe kaum zu überbieten, ist surreal, voller Traumsequenzen und Erinnerungen, getaucht in Farbspektren und unterlegt mit hypnotisierendem Score, der Platz lässt für Klassiker wie The Power of Love von Frankie goes to Hollywood und diesen endlich von der Weihnachts-Playlist streicht. All of Us Strangers ist eine Naherfahrung und ein Psychotrip, vielleicht gar eine Geistergeschichte, aber ganz sicher keine leichte Kost und ein schweres, ich will nicht sagen sentimentales, aber wehmütiges Gefühl hinterlassend; einen Kloß im Hals, einen Druck auf der Brust. Befreiend ist Haighs Film nicht, dafür aber in seinem epischen Erspüren am Dasein, das aus Verlust und Suche besteht, berauschend und wunderschön. Hoffnung hat der Film keine, doch jede Menge Erkenntnis. Vor allem diese, dass Sehnsucht auch Geborgenheit bedeuten kann.

All of Us Strangers (2023)

Aftersun (2022)

DIE WEHMUT AM LETZTEN URLAUBSTAG

6,5/10


aftersun© 2022 MUBI


LAND / JAHR: USA, GROSSBRITANNIEN 2022

BUCH / REGIE: CHARLOTTE WELLS

CAST: PAUL MESCAL, FRANKIE CORIO, CELIA ROWLSON-HALL, BROOKLYN TOULSON U. A. 

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Mit Nominierungen und Preisen überhäuft, Kritikerlob da und Kritikerlob dort: Charlotte Wells, bisher maximal mit Kurzfilmen vertreten, die nur Insider kannten, hat mit ihrem allerersten Spielfilm bereits so viele Tore ins Filmbiz geöffnet, die andere sonst nur auf zähem Wege und vor allem mit Vitamin B aufbekämen. Keine Ahnung, wohin Wells es zukünftig verschlagen wird, oder ob man ihr, wie Chloë Zhao, ein Franchise unterjubelt, mit welchem sie nichts anfangen kann. Denn Aftersun ist ein Film, der nicht so danach aussieht, als würde seine Macherin dereinst mit Comic-Helden oder Aliens jonglieren wollen, sondern es lässt sich gut der Eindruck gewinnen, dass Künstlerinnen wie Wells sehr wohl schon ihren Themenkreis gefunden haben. Dessen Materie setzt sich zu Stimmungsbildern zusammen und eignet sich wohl weniger zur geradlinigen Story mit Twist und Showdown. Aftersun legt es aber mitnichten darauf an, sein Publikum zu verwirren oder auf falsche Fährten zu locken. Das wäre, wenn doch, lediglich des Effekts willen probiert. In diesem Film hier geht es um Erinnerungen und gemeinsam Erlebtes, auch wenn das Erlebte nicht aufgrund spektakulärer Begebenheiten unvergessen bleiben will. Die Wucht darin liegt in der familiären Wärme des Miteinanders, der vertrauten Dynamik zwischen Vater und Tochter, unter levantinischer Sommersonne und den gängigen Rhythmen eines Pauschalurlaubes, der nichts dem Zufall überlässt und in welchen sich Touristen wie Sophie (Frankie Corio in ihrer ersten Filmrolle) und Calum (Paul Mescal) fallen lassen können. Viel Schlaf, entspanntes Herumhängen und schickes, abendliches Dinieren. Dazwischen Sonnencreme, Müßiggang am Pool oder Baden im Meer kurz vor Sonnenuntergang. Wir alle wissen, wie sich sowas anfühlt. Wenn die Buchung des Hotels mal so stimmt, wie erwartet, sind Zeit und Alltag ausgehebelt, zählt nur noch das Jetzt ohne Tagescheck, und oft weiß man nicht, ob die Woche schon rum ist, so versunken scheint man zwischen Sand, Salz und Eiscreme. Und natürlich denken wir uns dann, dass wir irgendwann dortbleiben wollen. Aussteigen, auf diese Weise weiterleben. Daheim alles zurücklassend, weil die Ferne ruft. Tatsächlich lässt sich das auch von der All-inclusive-Bar denken und erträumen. Und nicht nur das. Die elfjährige Sophie und ihr Vater Calum wollen ebenfalls ewig in dieser Vater-Tochter-Konstellation verharren und in den heißen, angenehm ermüdenden Tag hineinleben. Doch irgendetwas, jenseits dieser idealen Kulisse, stimmt nicht.

Denn Vater Calum dürfte für Sophie irgendwann später nur noch Geschichte gewesen sein, verknüpft mit der Erinnerung einer kurzen und zugleich zeitlosen All-Inclusive-Buchung, die sich für ewig als das Bild einer Zweisamkeit ins Gedächtnis der nun schon erwachsenen Sophie gebrannt hat, die eines Tages das selbstgedrehte und kuriose Handycam-Video hervorkramt und in der bittersüßen Stimmung von damals schwelgt. In ihren Gedanken aber befindet sie sich immer wieder auf einer in Stroboskoplicht getauchten, dich bevölkerten Tanzfläche, inmitten das Gesicht ihres Vaters. Oder doch nicht? Wo ist sie hin, die Vergangenheit? Wo ist sie hin, die immer abstrakter werdende und verfremdete Figur von Dad?

Aftersun bietet auf den ersten Blick nicht mehr als aneinandergereihte, repetitive Momente eines Urlaubs. Auf den zweiten Blick versucht Charlotte Wells, das Narrativ einer mit Wehmut aufgeladenen Erinnerung in einem Alltagsfluchtort wie diesen festzumachen. Dabei bleibt sie vage und assoziativ, das Davor und das Danach verliert sich im Dunkeln eines Dancefloors. Was später passieren wird, soll durch seine Variabilität und Undefinierbarkeit dem Zuseher die Möglichkeit geben, sein eigenes Stück Familiengeschichte hineinzuinterpretieren. Aftersun ist ein subjektives Psychogramm, errichtet aus Beobachtungen innerhalb einer kurzen Zeitspanne der Eintracht. Natürlich wirkt das etwas dürftig, für Plot-Fetischisten womöglich zu wenig, die darauf warten, das etwas passiert. Passiert ist aber alles längst, nach der ersten Minute schon. Was wir hier haben, ist das rekapitulative Nachwehen von Vergangenem – intuitiv inszeniert, aber auch schwer erreichbar.

Was in Aftersun bleibt, ist das Eingestehen der Tatsache, Zeit seines Lebens die Leere ertragen zu müssen, die auf vergangenes Glück folgt. Würde sich die Zeit zurückdrehen lassen, würde Sophie den besten Urlaub ihres Lebens niemals anders erleben wollen. Immer und immer wieder.

Aftersun (2022)

Frau im Dunkeln

BEKENNTNISSE EINER RABENMUTTER

8/10


frauimdunkeln© 2021 Netflix


LAND / JAHR: GRIECHENLAND, USA, GROSSBRITANNIEN, ISRAEL 2020

BUCH / REGIE: MAGGIE GYLLENHAAL, NACH EINEM ROMAN VON ELENA FERRANTE

CAST: OLIVIA COLMAN, JESSIE BUCKLEY, DAKOTA JOHNSON, ED HARRIS, PETER SARSGAARD, PAUL MESCAL, ALBA ROHRWACHER, DAGMARA DOMIŃCZYK U. A.

LÄNGE: 2 STD 2 MIN


Am letzten Tag des alten Jahres hat Netflix für sein interessiertes Filmpublikum noch einen besonderen Leckerbissen aus dem Ärmel geschüttelt – das Spielfilmdebüt von Maggie Gyllenhaal, von welcher man ohnehin schon längere Zeit nichts mehr gehört hat, die sich aber mit der Verfilmung von Elena Ferrantes Roman The Lost Daughter umso wirkungsvoller zurückmeldet. Und beileibe ist der Stoff der italienischen Romanautorin keine gemähte Wiese. Nichts, was man so mir nichts dir nichts in Bilder packen und dazu noch ein ausgewogenes Skript verfassen kann. Frau im Dunkeln – so der deutsche Titel – lässt Oscarpreisträgerin Olivia Colman als Professorin während des Sommers Urlaub machen. Wie denn, das ist alles? Fast. Zumindest handlungstechnisch. Das meiste ist Selbstreflexion und Erinnerung, dazwischen die Konfrontation mit Menschen, die auf gewisse Weise begangene Fehler von Colmans Filmfigur aus der Verdrängung zurückführen. Das ist Urlaub, der nicht spur- und ereignislos vorübergeht. Das sind Ferien mit der längst überfälligen seelischen Reinigung.

Und so bezieht Leda Caruso ein großräumiges Appartement auf der griechischen Insel Spetses, und zwar ganz allein. Hausdiener Lyle (Ed Harris) sorgt manchmal für Abwechslung, auch dem Ferialjobber Will gefällt Ledas Gesellschaft. Weniger offenherzig ist allerdings die New Yorker Großfamilie rund um Jungmutter Nina (Dakota Johnson), die sich mit ihrer kleinen Tochter herumschlagen muss und die bereits unter Depressionen leidet, weil sie es dem Mädel einfach nicht recht machen kann. Da passiert es und das Kind verschwindet – Leda beteiligt sich an der Suche und findet sie. Doch damit nicht genug: dessen Lieblingspuppe verschwindet ebenfalls. Die hat sich Leda absichtlich unter den Nagel gerissen. Doch warum nur?

Warum nur? Das ist die große Frage in diesem Film. Und vor allem eine, die Leda selbst nicht beantworten kann. So sind nun mal Gefühlswelten, sie ordnen sich keinem rationalen Muster unter, sie generieren sich aus triggernden Momenten und Assoziationen, aus seltsamen Déjà-vus, die wie gerufen kommen und die Sache mit dem Zufall bemühen. In so einem Nebel aus Vergangenem und Gegenwärtigen lässt Colman als einsame Egoistin ihre Existenz als Mutter zweier Kinder Revue passieren – die Zeitebene wechselt, wir befinden uns rund zwei Jahrzehnte in der Vergangenheit, und Jessie Buckleys junge Leda könnte aufgrund ihres sprachlichen Talents und ihrer literarischen Abhandlungen alles erreichen. Einzig die Kinder nerven, später auch der eigene Ehemann, und so kehrt sie ihrer Familie den Rücken. Eine Rabenmutter, sagt sie selber von sich. Doch die Erkenntnis lässt auf sich warten, im Urlaub ist schließlich genug Zeit dafür, auch wenn sonst nichts zu tun ist.

Wer hätte gedacht, dass es Maggie Gyllenhaal dermaßen gelingt, so einem durchaus abstrakten und auch verschachtelten Stoff das richtige Tempo aufzuerlegen und ein ebensolches Team zusammenzustellen. Dazu gehört auch Kamerafrau Hélène Louvart, die aus dem dichten Stück Schauspielkino ein visuelles Erlebnis kreiert. Extreme Nahaufnahmen wechseln mit in sich ruhenden Arrangements aus Personen – diese Virtuosität erinnert nicht zufällig an den Film Glücklich wie Lazzarro. Dort bewies sich Louvart als Kreatorin einer mediterranen, impressionistischen Stimmung. Coleman und auch Dakota Johnson spiegeln diese mit Bravour. Nicht zu vergessen Jessie Buckley, die als junge Leda Caruso die Last des Mutterseins nicht mit ihrem Drang zur Selbstverwirklichung vereinbaren kann.

Frau im Dunkeln ist ein starker und hypnotisierender Film ohne Leerlauf und mit Bedacht gewählten Worten, die den Brocken an Drama nicht schwerer machen als er ist. Gyllenhaal schafft das Zusammenspiel gewissenhaft agierender Schauspielerinnen, die niemals, wie es scheint, unter den Druck einer egozentrischen Regie geraten, sondern den jeweils eigenen Subtext wirken lassen können. Was dabei rauskommt, ist packend – und auf unerwartete Weise schwerelos.

Frau im Dunkeln