Blue Moon (2025)

THOSE WERE THE DAYS, MY FRIEND

8,5/10


© 2025 Sony Pictures Classic


LAND / JAHR: USA, IRLAND 2025

REGIE: RICHARD LINKLATER

DREHBUCH: ROBERT KAPLOW

KAMERA: SHANE F. KELLY

CAST: ETHAN HAWKE, MARGARET QUALLEY, BOBBY CANNAVALE, ANDREW SCOTT, PATRICK KENNEDY, JONAH LEES, DIMON DELANEY, JOHN DORAN, CILLIAN SULLIVAN U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Aus der zweiten Reihe

Es ist der Anfang vom Ende eines glorreichen Höhenflugs, der allerdings schon seit geraumer Zeit mit gröberen Luftlöchern zu kämpfen hat: Die Rede ist vom schwindenden Ruhm eines kreativen Tausendsassas und Naturtalents namens Lorenz Hart, New Yorker Liedermacher und Songwriter, der sich wohl die Hände vors Gesicht schlagen würde, hätte er mitbekommen, dass Richard Linklater sein ihm gewidmetes biografisches Drama mit Blue Moon betitelt – so, als wäre seine ganze Karriere nur das Phänomen eines One Hit Wonders, und nicht einer beflügelten, ruhmreichen Schaffensperiode, die er mit seinem besten Freund und Komponisten Richard Rodgers über mehrere Jahrzehnte halten hat können. Doch dann die Sache mit dem Alkohol – die ließ ihn mehr oder weniger unzuverlässig und unberechenbar erscheinen, Rodgers muss sich letztlich von seinem Buddy abnabeln, muss sich woandershin wenden, und zwar in Richtung Oscar Hammerstein, seines Zeichens ebenfalls Liedermacher und ein Dorn im Auge des kleinen Mannes mit schütterem Haar und überspieltem Kummer, der ihn spätestens dann einholt, als Rodgers mit dem Musical Oklahoma! seinen größten Triumph feiert. Natürlich ohne ihn, ohne Lorenz Hart, der muss aus der zweiten Reihe zusehen, wie er übervorteilt, ausgebootet und letztlich, um es drastisch auszudrücken, verraten wird. Doch was hat er selbst dazu beigetragen, das diese ganze Niederlage so weit hat kommen müssen?

Linklaters Film beginnt mit den aus dem Off eingesprochenen Schlagzeilen über den Tod eines großen Künstlers, der nach einer kurzen Periode der Abstinenz letztlich wieder zur Flasche griff, in der Gosse landete und an einer Lungenentzündung starb, viel zu früh, mit 48 Jahren. Dann der Rückblick – wir sehen den kleinen, sensiblen, verzweifelten und sich selbst alles schönredenden Mann, wie er die Premiere dieses verhassten Singspiels verlässt, um im New Yorker Restaurant Sardi’s auf das Eintreffen des Premierenpublikums zu warten, mitsamt seines Freundes Rodgers und all der Blamage und Selbsterniedrigung, sollte er sich dazu überwinden können, jenen seinen Respekt zu zollen, die ihn links liegen ließen.

Lorenz Hart, der Wunderknabe

So sitzt er nun an der Bar, fast schon therapeutisch betreut von Barkeeper Bobby Cannavale, der, gläserschrubbend, wie es diese Sorte Zuhörer immer schon getan hat und bis in alle Ewigkeit tun wird, dem schwermütigen Vielredner ein offenes Ohr schenkt. Und viel reden, das kann er, dieser Lorenz Hart, und es wäre vielleicht gepflegte Langeweile, einem Mann zuzuhören, den man bislang überhaupt nicht am Schirm hatte und der einem auch gar nicht tangiert, wäre es eben nicht dieser zwar nicht mit den Maßen des Adonis gesegnete, aber mitreißende männliche Charakter gewesen, der, sehnlichst suchend nach Bestätigung, die Klasse von einst, die er hatte, als unaufgefordertes Da Capo wiedergibt. Dieser Lorenz Hart, ein Wunderknabe. Und ein Wunderknabe auch, der sich dazu entschlossen hat, diesem tief gefallenen Genius ein Gesicht, eine Stimme, seinen Manierismus zu geben. Wer hätte gedacht, dass Ethan Hawke diese Figur so meisterlich ins Leben zurückrufen kann, mit all seinem Charisma, seinen Illusionen und seiner eloquenten Erzählkunst? Zeit seines Lebens soll Hart mit seiner homosexuellen Neigung zu kämpfen gehabt haben, letztlich aber lässt ihn Linklater eine ganz bestimmte weibliche Person anschmachten, und zwar vielleicht weniger sexuell als viel mehr so hingebungsvoll, als würde es sich um ein sphärisches, engelsgleiches Kunstwerk handeln. Elizabeth Weiland heisst die bildschöne junge Dame, hinreißend dargeboten von Margaret Qualley, die den kleinen, genialen Lorenz Hart ins Herz geschlossen hat – allerdings auf eine Art, die diesen womöglich nicht erfüllt.

Späte Paraderolle für einen Star

Blue Moon wird zu einer Sternstunde der gegenwärtigen Schauspielkunst. Autor Robert Kaplow hat ein so geschliffenes Sprachstück aus dem Ärmel geschüttelt, ohne Zwang und Krampf und bemühter Virtuosität, dass man völlig die Zeit vergisst. Gesprochen und interpretiert wird dies von Hawke mit einer Leidenschaft und einer Hingabe, dass man gut und gerne auf die Knie fallen würde, fast so wie in der Kirche, schließlich ist diese später auch wieder trinkfreudige Predigt eines Unverbesserlichen die zu Herzen gehendste, die man jemals wohl gehört hat. Zwischen Hoffnung, Aufbruchsstimmung, Abgesang und wehmütigem Rückblick tischt Hawke die inbrünstig gefühlte Rekapitulation eines ganzen Lebens auf, reflektiert durch Menschen an seiner Seite wie den von Andrew Scott so liebevoll und doch distanziert verkörperten Richard Rodgers. Auch hier bricht ich das Gefühl einer enttäuschten Freundschaft Bahn, deren gemeinsamer Lebensabschnitt zwar sehr viel wiegt, die Zeiten aber nichts daran ändern können, das alles, und vorallem in der Kunst und im Showbiz, sein Ende finden muss.

So gehet hin und habt Erfolg

So steht er da, der kleine, gebrochene, aber stolze und niemals im Selbstmitleid versinkende Mann, und unsereins würde ihn umarmen wollen, mit ihm einen trinken gehen, auch wenn man gar nichts trinkt. Ihm Zuhören und seine Lieder spielen, sofern man die Klaviatur eines Tasteninstruments versteht. Man würde sogar anfangen, diese Kunst zu erlernen, nur um diesen Lorenz Hart noch länger reden und vielleicht gar singen zu hören. Währenddessen schrubbt Cannavale die Gläser, geben ihn Gefährten die Ehre, tun so, als wäre alles gut, und holen sich tatsächlich noch Inspiration für das eigene kreative Schaffen. Denn wenn man genau hinhört und hinsieht, ist die Sache mit Stuart, der Maus, eine, die ganz woanders weitere Kreise ziehen wird.

Linklaters Geniestreich eines Kammerspiels schreit nach einer Academy Award Trophäe für einen vielgestaltigen Schauspiel-Kapazunders wie Hawke längst einer ist. Mit dieser Rolle übertrumpft er alles, was er bisher geleistet hat. Und das ist nicht wenig.

Blue Moon (2025)

The History of Sound (2025)

HÖREN, WAS UNS VERBINDET

5,5/10


© 2025 Fair Winter LLC. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2025

REGIE: OLIVER HERMANUS

DREHBUCH: BEN SHATTUCK, NACH SEINER KURZGESCHICHTE

KAMERA: ALEXANDER DYNAN

CAST: PAUL MESCAL, JOSH O’CONNOR, MOLLY PRICE, RAPHAEL SBARGE, HADLEY ROBINSON, ALESSANDRO BEDETTI, EMMA CANNING, BRIANA MIDDLETON, GARY RAYMOND, CHRIS COOPER U. A.

LÄNGE: 1 STD 7 MIN


Der neue Film von Oliver Hermanus erinnert unweigerlich an Brokeback Mountain, wie wahr ein Eckpfeiler des queeren Kinos, tragisch, sentimental und nicht davor zurückschreckend, den unantastbar scheinenden Mythos des maskulinen Westernhelden zu hinterfragen. Heath Ledger und Jake Gyllenhaal liebten sich, schmachteten sich an, vergossen Tränen und blickten so sehnsuchtsvoll wie wehmütig in die Landschaft. Und dennoch: So ganz genau wusste ich nicht, woran es lag, dass es den beiden nicht gelang, in ihren Figuren zu überzeugen. Lag es am Klischee des Westerns? Oder daran, dass Ledger und Gyllenhaal nur so tun mussten, als wären sie homosexuell? Vielleicht war Ang Lee als Regisseur auch nicht der richtige, vielleicht wäre Oliver Hermanus besser gewesen. Dieser hat schließlich das Thema auf eigene Weise variiert und die Tonalität eines Western außen vorgelassen, ohne aber auf die Historie eines Landes zu verzichten. Hermanus (sein letzter Film Living, nach einer Idee von Akira Kurosawa und mit einem sagenhaft guten Bill Nighy, lief ebenfalls auf der Viennale) taucht tatsächlich viel tiefer ein in das vergangene Amerika, glücklicherweise nicht nur im Sinne genrebedingter Parameter und Stereotypen, und findet seine unstillbare Sehnsucht zweier Männer im leisen Abenteuer des Suchens, Sammelns und Zuhörens.

Wie die Alten sungen

Dieses Zuhören zahlt sich aus, denn was Lionel und David miteinander verbindet, ist die Musik. Der eine, Lionel, besitzt schon von Klein auf die Fähigkeit, die akustische Welt anders zu empfinden als andere, er sieht und spürt sie in Farben, er kann sie fühlen und fast schon schmecken. Und er kann singen. Ein Talent, das ihn von der elterlichen Farm mit all seinen vom Vater zum Besten gegebenen Volksweisen nach Boston ans Musikkonservatorium bringt. Wo er natürlich David kennenlernt, einen Komponisten. Der eine singt, der andere spielt Klavier, so kommen sie, singend und spielend, zueinander und landen dann auch gemeinsam im Bett. Um später, nach dem ersten Weltkrieg, gemeinsam auf Wanderschaft zu gehen, amerikanische Volkslieder zu sammeln und auf Wachszylindern aufzuzeichnen.

Liebe und Distanz

In diesen Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts aber, während der Erste Weltkrieg tobt, ist Homosexualität ein Tabuthema, niemand redet darüber, doch die beiden akzeptieren sich und ihre Neigung – weit davon entfernt, sich zu outen. Der nach einer Kurzgeschichte von Ben Shattuck entstandene Liebes- und Lebensfilm macht aber gerade diese Art der sexuellen Orientierung nicht vorrangig zu einem Thema, sondern zieht, und das ist drängend genug, die Konsequenzen, die der Tatsache einer niemals realisierbaren Zukunft folgt. Paul Mescal und Josh O’Connor – beide gerade im Filmbiz sehr gefragt – spielen ihre Charaktere auf Distanz, sie bleiben verschlossen, agieren lakonisch, geben wenig von sich preis. Zwei introvertierte Außenseiter, auf der Suche nach dem Ort, wo sie hingehören könnten – The History of Sound nutzt das historische, in allen Brauntönen präsente Kolorit eines ruralen Amerikas und erweitert das Spektrum mit alten Liedern, die von der Schwere des Lebens und der Liebe erzählen. Natürlich der Liebe, das ist das, was auch die beiden jungen Männer bewegt, obwohl sie zumindest in Hermanus Narration zwar die Liebe zueinander darstellen sollen, jedoch stets so agieren, als würden sie auf Abstand bleiben wollen.

Wie klingen verpasste Chancen?

Mescal und O’Connor fehlt die Harmonie zueinander. Der ohnehin stets distanziert agierende O’Connor, der oft so wirkt, als hätte er ein sinniges Lächeln auf den Lippen und hinter dessen Fassade man schon in The Mastermind nicht blicken konnte, erhält durch seinen Filmpartner Paul Mescal, der sich ähnlich verschlossen zeigt, keinerlei Support, um Gefühle zu repräsentieren. Beide sind eine Insel für sich, beide streifen durchs herbstliche Amerika – die Lieder selbst, die man hört, füllen nur bedingt die emotionale Lücke, die der Film hinterlässt. Und man merkt auch: The History of Sound ist eine Kurzgeschichte. Ähnlich spartanisch fühlt sich diese Story an, die sich sichtlich bemüht ist, im Fluss zu bleiben, nicht aber daran interessiert ist, den Zuseher einzubinden.

Spärlich interessante Figuren also in einer prinzipiell interessanten, aber gehemmten Exkursion über die Verbundenheit durch Klang, Erbe und Gesang, die ihre eigene Romanze vernachlässigt, dafür aber in den letzten Minuten eine sentimentale, nostalgische Wehmut mit sich bringt. Schließlich artikuliert sich, was bisher die ganze Zeit gefehlt hat: Die Schmerzlichkeit einer Empfindung, die man hat, wenn man nicht weiß, wohin einen das Herz tragen soll. Manchmal weiß The History of Sound auch nicht, wohin mit sich. Diese Ratlosigkeit schafft eine kaum überbrückbare Distanz.

The History of Sound (2025)

Better Man – Die Robbie Williams Story (2024)

DER AFFE IM ROCKSTAR

8,5/10


BETTER MAN© 2024 Tobis Film GmbH


LAND / JAHR: AUSTRALIEN, USA 2024

REGIE: MICHAEL GRACEY

DREHBUCH: OLIVER COLE, SIMON GLEESON, MICHAEL GRACEY

CAST: ROBBIE WILLIAMS, JONNO DAVIES, STEVE PEMBERTON, ALISON STEADMAN, DAMON HERRIMAN, KATE MULVANY, RAECHELLE BANNO, JAKE SIMMANCE, LIAM HEAD, JESSE HYDE, ANTHONY HAYES U. A.

LÄNGE: 2 STD 14 MIN


Echt jetzt? Jetzt schon ein Biopic über Robbie Williams? Um die Werbetrommel zu rühren für eine neue Scheibe, eine neue Tournee? Oder nur, um sich wichtigzumachen? Oder gar nur, um sich selbst zu bemitleiden? Und dann noch das: Der Sänger stellt sich selbst als Affe dar. Klingt nach Klamauk, nach mutwilliger Exzentrik. Muss ich nicht sehen, dachte ich mir, zu dem Zeitpunkt, als ich in den Film-News von einem Projekt gelesen hatte, das sich Better Man nennt. So eine Ankündigung muss aber erst mal sickern. Denn Musiker-Biopics gibt es mittlerweile zuhauf. So richtig begonnen hat das mit Bohemian Rhapsody, dann haben Studios Blut geleckt. Dann gab es Elton John, Amy Winehouse, Aretha Franklin, Miles Davis, Bob Marley, Whitney Houston und noch viele andere dazwischen. Muss sich einer wie Robbie Williams tatsächlich so derart in den Vordergrund rücken? Hat er denn das Format all dieser genannten Ikonen?

Meine Skepsis gegenüber Better Man und gegenüber Robbie Williams Idee, seine Memoiren auf eine Weise zu erzählen, die an Planet der Affen erinnert, sollen sich letzten Endes bis auf das letzte Molekül zerstreuen. Denn das Beste, was einem Filmfreund passieren kann, ist, im Kino überrascht zu werden. Überrumpelt, eines Besseren belehrt und von einem Experiment, das so noch nicht erprobt wurde, überzeugt. Better Man ist so ein Film, der das alles zusammenbringt. Und das liegt an diversen Parametern, die dafür sorgen, wie noch nie zuvor einer Berühmtheit aus dem Showbiz über das Medium Film so sehr nahezukommen wie in Michael Graceys fulminantem Geniestreich, der viel mehr psychologisches Drama als simple Biografie sein darf.

Robbie Williams erzählt in Better Man erstens, und das lässt schon mal einiges an Nähe zu, auf selbstkritische und ironische Weise über sich selbst. Das ist Autobiografie in seiner reinsten Form. Und nicht nur das: Williams hat den Mut, über sein Tun und sein Leben in einer Ehrlichkeit zu reflektieren, die fast schon zu intim, dadurch aber umso aufrichtiger erscheint. Er macht keinen Hehl daraus, sich als besten Entertainer überhaupt zu sehen. Das ist das, was er anstrebt und angestrebt hat. Er macht aber auch kein Hehl daraus, zuzugeben, mit einer ganzen Reihe psychischer Probleme zu hadern. Die da unter anderem wären, sich selbst als dismorph wahrzunehmen. Das führt dazu, dass sich Williams selbst als etwas sieht, das einem Menschenaffen gleicht. Als eine Außenseiterfigur, einen Nonkonformisten, als niederes Wesen voller Minderwertigkeitskomplexe und mangelndem Selbstwert. Michael Gracey (Greatest Showman) wagt daher den Clou des Jahres: Dem Star kein schauspielerisches Lookalike zu verpassen, sondern ihn vollends jedweder Identifikation zu berauben. Das Gesicht des Affen könnte eine Maske sein, ist aber das innewohnende, zerrissene und entfremdete Ich einer berühmten Persönlichkeit, die in den Momenten des Films nicht als solche gesehen werden will, sondern als rein abstrakte Impression eines Charakters, der sich offenbart.

Doch weder mit aufgesetztem Zynismus noch mit allürenhafter Wehleidigkeit will Williams sich selbst auf den Grund gehen. Seine Lebensgeschichte passiert zwar allerlei Stationen des Entertainment-Lebens, blickt aber genauso vehement zwischen den Ankerpunkten eines Curriculum Vitae, um begrifflich zu machen, wie wenig sich das Seelenleben einer Berühmtheit von jenen anderer Menschen, die in der urbanen Anonymität verschwinden, unterscheidet. Williams sieht und empfindet sich selbst als Affe. Mit frechem Charme und einer gewissen Erdung blickt der Einzelgänger, der er ist, zurück auf ein Schlachtfeld an Fehlentscheidungen, abgemurksten Dämonen und in Koks und Alkohol ertrunkener Zweifel. Gracey findet dafür grobkörnige, erdige Bilder, mal geschnitten in schnellem Stakkato, manchmal ruhend. Kongenial eingeflochten sind dabei Williams bekannteste Songs, dabei zeigt der Mann nicht nur, woran er scheitert, sondern auch, woran er wächst. Das Talent zum Entertainment, sein Gespür fürs Songwriting sind die Skills eines ambivalenten Helden, dem so vieles zu schaffen macht und der so vieles schafft.

Better Man ist großes, überwältigendes Kino. Eine Neuordnung des Biopic-Genres in Richtung Psycho-Allegorie. Ansatzweise war diese Methode bereits in Rocketman vorhanden, doch so vehement avantgardistisch und revolutionär wie in diesem Film gab es das noch nicht. Als spätes Filmhighlight des Jahres 2024 bleibt Better Man als WOW-Erlebnis so sehr in Erinnerung, als hätte man Robbie Williams tatsächlich nicht nur kennengelernt, sondern wäre auch sein Freund geworden.

Better Man – Die Robbie Williams Story (2024)

Rickerl – Musik is höchstens a Hobby (2023)

DIE HOHE KUNST DES DURCHWURSTELNS

9/10


rickerl© 2023 Filmladen FIlmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2023

REGIE / DREHBUCH: ADRIAN GOIGINGER

CAST: VOODOO JÜRGENS, BEN WINKLER, AGNES HAUSMANN, NICOLE BEUTLER, RUDI LARSEN, CLAUDIUS VON STOLZMANN, DER NINO AUS WIEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


In den Siebzigern und Achtzigern waren sie hierzulande groß im Kommen: die Wiener Liederpoeten, von Wolfgang Ambros und seiner Mörderballade Da Hofa über Georg Danzer bis zu Rainhard Fendrich, Peter Cornelius und Ludwig Hirsch, dem schwärzesten und melancholischsten unter den österreichischen Songwritern. All diese Könner wiederum blicken auf das Schaffen eines Helmut Qualtingers zurück, der mit der Aufarbeitung und Darstellung der Wiener Seele überhaupt erst begonnen hat. Einige Jahrzehnte später bekommt das Land neue Genies. Darunter einer, der so klingt, als hätte man sich verhört, obwohl doch der Name des Bademantel-Chansonniers fiel: Voodoo Jürgens. Mit Elementen aus Heurigenschrammeln, Hirschs Schwarzer Vogel-Mentalität und lokalkolorierter Häf’npoesie kreiert der Wiener David Öllerer vertonte Balladen, melodische Lyrik aus der Gosse, vom Friedhof, aus der Arbeiterschicht und dem Verlierertum. Aus den Rotlichtbuden am Gürtel und verrauchten Branntweinern – sogenannten Stammkunden-Kaschemmen, die eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegen und zur Einbrenn des Lebens vordringen. Die Songs kommen von ganz tief unten – dort, wo der Herr Karl seine Waren sortiert und wo Ulrich Seidl gerne hinblickt, ohne aber boshaft zu werden. Jürgens Lieder sind entpolitisiert, voller Schmerz, Erinnerungen und unstillbarer Melancholie. Die kleinen, kaputten, fast, aber noch nicht ganz gescheiterten Existenzen. Soziale Freaks und verzweifelte Aufraffer, die es manchmal schaffen, und auch wieder nicht. Der Traum vom Glück schwebt als Alkohol- und Zigarettendunst über allem. Voodoo Jürgens vertont genau das. Und trifft ins Mark. Einer wie Adrian Goiginger, der mit seinem autobiographischen Debüt Die beste aller Welten zeigen konnte, wie authentisch er soziale Gefüge beobachten kann, ohne sie zur Show zu machen, der hat das bemerkt. Den Musiker liebgewonnen und einen Film mit ihm gemacht. Rickerl heisst dieser – begleitet mit dem Untertitel: Musik is höchstens a Hobby.

Rickerl ist weit jenseits eines Musikers wie Alfred Dorfer ihn in Freispiel darstellt, als Mann in der Midlife-Crisis, der sich neu orientieren muss. Eher noch lässt sich Voodoo Jürgens‘ Verlierertyp mit Oscar Isaac gleichsetzen, der in Inside Llewyn Davis als ebensolches Potenzialbündel nichts auf die Reihe bekommt, ein Opfer seines auferlegten Determinismus darstellt und als Randexistenz aus dem Straucheln eine eigene Kunstform macht. Rickerl ist ein Songwriter, hat einen Hang zum Makabren, fühlt sich als Opfer seiner zerrütteten Kinderstube, ist Ex-Mann und Vater eines aufgeweckten sechsjährigen Jungen, der ihn alle Wochenenden besuchen darf. Was er ins Mikro schmettert, hat Tiefe, das weiß auch sein Manager – nur ohne Demo-Tracks und einer gewissen Ordnung in Rickerl Oeuvre kann dieser nichts ausrichten. Der lethargische, schlaksige Beisl-Poet muss sich zusammenreißen. Doch es hilft alles nichts, so lange ihm selbst nicht die Erkenntnis kommt, die ihn vielleicht dazu bewegt, sich endlich abzugrenzen vom selbst auferlegten Stigma eines Fast-Obdachlosen, der dem System entkommen muss.

Rickerl birgt keine komplexe Geschichte. Nimmt sich gar zurück, was den Plot betrifft. Und beobachtet, wie seinerzeit Elisabeth T. Spira in ihren fulminanten Alltagsgeschichten, das Milieu. Durch dieses Beobachten, ohne es ins Scheinwerferlicht zu zerren, was er beobachtet; durch dieses Zuhören und dem Mittrinken eines Spritzers am Stammtisch entsteht etwas völlig Berührendes und Großes. Ein ungemein ehrliches Portrait, eine feine Skizze der kleinen Leute, die im tiefsten, gar ordinären Wiener Slang, wie ihn einst der gute alte Edmund „Mundl“ Sackbauer sprach, durch die Gassen der Hauptstadt schlendert. Rickerl gelingen sogar einige kabarettistische Spitzen, doch um die geht es genauso wenig wie in Paul Harathers Filmjuwel Indien: Das altbekannte Stereotyp des glücklosen Künstlers erfindet sich neu, bedient sich dabei vertrauten Motiven und bringt das patscherte Leben mit Klampfen, Goldkette und Tschick in eine wenig verklärte Gegenwart, die für viele viel zu schnell kommt und all die in den Tag hineinlebenden Originale überrumpelt.

Goiginger kann in seiner musikalischen, wunderbar ausgewogenen Tragikomödie seine wahre Stärke ausspielen: Die wahrhaftige Interaktion in einem sozialen Biotop – fast dokumentarisch mutet sein Film manchmal an, ungemein echt agiert das Ensemble rund um Voodoo Jürgens, der einem in seiner schludrigen Art genauso wie dessen Filmsohn Dominik so richtig ans Herz wächst. Nichts ist gekünstelt, alles gemeint wie getan. So landet Rickerl direkt und ohne Umwege beim Publikum. Wie Goiginger es immer wieder gelingt, Kinderdarsteller so sehr ins Spiel zu integrieren, ist ein Wunder. Doch eigentlich ist nicht nur das, sondern das ganze bittersüße Drama, unterlegt mit Jürgens‘ verletzlichen, ungefälligen Songs, ein besonderes Mirakel, das Wien, seine Menschen und die Kunstform des Austropop umarmt.

Rickerl – Musik is höchstens a Hobby (2023)

Maestro (2023)

IM EIFER DER MUSIK

6/10


Maestro© 2023 Netflix Inc.


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: BRADLEY COOPER

DREHBUCH: BRADLEY COOPER, JOSH SINGER

CAST: BRADLEY COOPER, CAREY MULLIGAN, MAYA HAWKE, MATT BOMER, VINCENZO AMATO, MIRIAM SHOR, SARAH SILVERMAN, MICHAEL URIE, BRIAN KLUGMAN, NICK BLAEMIRE, GIDEON GLICK U. A.

LÄNGE: 2 STD 9 MIN


„Wie die Nase des Mannes, so ist sein…“ Ein selten dämlicher Spruch, doch den Eklat ums aufgepflanzte Riechorgan, um der Rolle des Leonard Bernstein auch optisch gerecht zu werden, wird der Film nicht mehr los. Wie bei Rami Maleks Freddy Mercury-Vorbiss, auf welchen manche nicht anders konnten, als diesen im Fokus zu haben, durchpflügt Bradley Coopers „Pfrnak“ den Film – mal mehr, mal weniger, je nach Licht und Perspektive der Kamera. Nun, tatsächlich ist diese angeblich diskriminierende Extension nur halb so dominant. Später, wenn Make Up-Artists immer mehr und mehr Maske anlegen müssen, stellt das Teil kein Problem mehr da. Das zunehmend zerfurchte und alternde Gesicht des Vollblutmusikers wird letztlich die Vorreiterrolle übernehmen. Es bleibt einem nur noch, ganz genau hinzusehen, um dahinter Bradley Cooper zu erkennen. Er verschwindet zwar nicht ganz so sehr wie Gary Oldman hinter Winston Churchill, aber dennoch: Gemeinsamkeiten mit seiner Rolle aus Hangover gibt es keine mehr.

Das Leben des New Yorker Dirigenten, Komponisten und Musik-Afficionados wird zu Coopers Herzensprojekt. Wichtigstes Ziel dabei: genauso auszusehen und sich zu geben wie Leonard Bernstein himself, ohne Abstriche, ohne freier Interpretation. Akribisch recherchiert, genauestens beobachtet und letztlich umgesetzt. Maestro nennt sich das auf Netflix erschienene Werk (das darüber hinaus auch in manchen Kinos lief, um dem Preisregen der Academy nicht zu entgehen) und begreift sich vor allem als filmgewordenes, teils jeweils in Schwarzweiß und in Farbe gedrehtes Denkmal, in welchem die Biographie selbst gar nicht mal so eine große Rolle spielt. Denn die ist, mit Ausnahme des tragischen Schicksals seiner Ehefrau Felicia Montealegre, im Grunde eine Aneinanderreihung ungestümer Kraftakte am Dirigentenpult, viele Stangen Zigaretten und ruhelosem Schaffen, dass den Musiker längst schon in ein Burnout hätte treiben können.

Bradley Coopers Bernstein legt eine fahrige Hyperaktivität an den Tag, die aufreibt. Dort eine Komposition, hier ein Auftritt, woanders wieder eine Lehrstunde an der Uni, dann ganz viel Society und wieder eine Komposition. In diesem Zyklus schraubt sich der Film von den Vierzigerjahren bis in die Achtzigerjahre. Lenny, wie er von Frau und Freunden genannt wird, sehen wir beim Älterwerden zu, bei seinem ersten Triumph bei den New Yorker Philharmonikern über seine Beziehung zur Schauspielerin Felicia bis hin zum schweißtreibenden Kraftakt in der britischen Kathedrale von Ely, in der Cooper all sein Können hineinlegt, um seinem Vorbild gerecht zu werden. Er schwingt den Taktstock zu Gustav Mahlers Auferstehungssymphonie, als gäbe es kein Morgen mehr, als würde in Kürze die Welt versinken. Er rudert mit den Armen, mit verzerrtem, schweißnassem Gesicht, längst schon in Ekstase. Der Zenit musikalischer Ausdrucksstärke ist erreicht, erschöpft sinkt unsereins wieder ins Sofa zurück – das war ein Moment, da kann sich Cate Blanchett als Tár noch so einiges abschauen.

Um diesen besonderen Auftritt herum weiß Cooper auch sonst ganz genau, wie er sich in Szene setzt. Niemand sollte ihm hierbei das Wasser reichen, nicht mal Carey Mulligan, die tut, was sie kann, um für das Bernstein-Lookalike stark genug zu sein. Ihre Leistung ist souverän, doch sie bleibt nur die zweite Reihe, auf irgendeinem Platz im Orchester, das Cooper dirigiert und dabei nur sich selbst filmt, unentwegt, in unterschiedlichstem Licht, in allen erdenklichen Posen, akkurat nachgestellt und herrlich selbstverliebt.

Zum Künstler und seinem bisexuellen Lebenswandel; zu seiner Familie und seiner ewigen Rastlosigkeit, fehlt dann doch der Zugang. Ein Mensch wie Bernstein, wie sehr muss er wohl das Dasein als von allen bewunderter Künstler genossen haben. Als einer, dem alles erlaubt schien, der alles durfte und so lebte, wonach ihm war. Als fleischgewordene Bereicherung für die Musikwelt darf einer wie er durchaus Tribute fordern, nur nicht an sich selbst. Das macht ihn nicht gerade sympathisch, doch das Staunen über so viel Obsession, deren Energie dahinter immer nur so viel verbrennt, wie gerade neue entsteht, übertüncht alles. Was bleibt, ist die One-Man-Show Coopers und die One-Man-Show Leonard Bernsteins. Zwischen diesen beiden Sichtweisen wechselt der Film, der außer der Darstellung einer Ikone zwar ein Leben erzählt, aber eines, dem man in seiner Hast und in seinen nur schwach ausgearbeiteten Stationen kaum folgen kann.

Maestro (2023)

Anna und die Apokalypse

ZUCKERSTANGEN FÜR ZOMBIES

6,5/10


annaapokalypse© 2018 Splendid Film


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2017

REGIE: JOHN MCPHAIL

BUCH: ALAN MCDONALD, RYAN MCHENRY

CAST: ELLA HUNT, MALCOLM CUMMING, MARK BENTON, PAUL KAYE, CHRISTOPHER LEVEAUX, MARLI SIU, SARAH SWIRE, BEN WIGGINS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


Wie sieht denn der Weltuntergang in einer schottischen Kleinstadt aus? Vielleicht genau so wie in diesem 2017 erschienenen Genremix, der sich gleich dreierlei Stilbrocken bedient, nämlich den Versatzstücken des Musicals, des Zombie- und zu guter Letzt des Weihnachtsfilms. Diese Zutaten fallen jedoch am schwächsten aus, und deswegen lässt sich Anna und die Apokalypse auch ganz bequem nach den Feiertagen genießen, wenn man auch schon ein bisschen genug hat von der ganzen Verwandtschaft, den Weihnachtsliedern und den vielen Keksen, die mittlerweile schon viel zu mürb geworden sind. Glockengeläut und Zimtstern-Folklore fehlt in diesem filmischen Wagnis so ziemlich ganz, dafür schneit es ab und an, aber der Schnee ist dann tags darauf, wenn alles den Bach runtergeht, sowieso schon wieder weg.

Mit Musicals kann man mich schwer hinter dem Ofen hervorholen, doch wenn einer wie John McPhail es drauf anlegt, einige Klischees konterzukarieren und etwas Neues daraus zu machen, noch dazu mit Gesangseinlagen, die tatsächlich mitreißen, so schenke ich Anna und die Apokalypse nicht nur einen Blick, sondern leihe ihr auch ein Ohr. Wer überdies Stranger Things mochte und vielleicht gar nicht will, dass die schönste Zeit des Jahres bald vorbeigeht, der kann der Weihnachtsaufführung an einer High School in New Haven entgegenfiebern, die am Tag vor Heiligabend über die Bühne gehen wird. Was alle zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Hier bahnt sich womöglich das letzte Weihnachten im Rahmen einer zivilisierten Menschheit an, denn ein Virus greift um sich, das aus allem, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, zu Zombies macht. Wie diese Kreaturen ticken, wissen wir natürlich zu Genüge. Sie schlurfen und torkeln durch die Gegend, und die schiere Menge an gehirnhungrigen Kreaturen macht es aus, dass die Sache schnell zum Problem wird. Anna, ihr bester Freund John und ein paar schräge Nerds der Schule sowie der Obermacho schlechthin müssen sich zusammentun, um zumindest Annas Vater, der vom tyrannischen Direktor Mr. Savage festgehalten wird, zu befreien, um endlich dem Schlamassel entfliehen zu können. An Christbaumkauf und Weihnachtsgans ist sowieso nicht mehr zu denken. Dieses Fest fällt heuer ins Wasser, und da kommen selbst grinchgrüne Kerzenscheinbanausen schadenfroh grinsend voll auf ihre Kosten, wenn die Harmonie zu den Feiertagen einfach nicht halten will.

Während das Escape-School-Szenario prinzipiell nichts Neues bietet, und auch die Charaktere mitunter etwas stereotyp erscheinen: die wirklichen Gewinner dieses blutigen Last Christmas-Spaßes im wahrsten Sinne des Wortes sind die ausgewogenen, enorm rhythmischen und daher auch eingängigen Gesangsnummern. Ella Hunt hat eine volle Stimme, und auch alle übrigen, bis hin zu Hunts Filmvaterfigur, entfachen die richtigen Vibes. Musikalisch dreht Anna und die Apokalypse geschickt am Regler. Was hier abgeht, hört man gern, und vielleicht auch immer wieder, wenn man den Soundtrack auf Spotify sucht. Die Nummern Hollywood Ending und Human Voice sind ganz besonders hier zu erwähnen, weil sie, verteilt auf diverse Rollen, Ensemblestücke abliefern, die mitreißende Dramatik besitzen. Dem Filmgott sei’s gedankt, dass die deutsche Snychro die Finger davon lässt, die Lyrics der einzelnen Lieder einzudeutschen, denn das ist stets ein No-Go, wie Socken zu Sandalen.

In gutem britischem Englisch singen also all die jungen Leute, die vielleicht noch irgendwo den Highway entlang eine Zukunft haben, von Vorhersehbarkeiten und Sehnsüchten, menschlicher Nähe und Selbstreflexion. Anna und die Apokalypse ist ein Weihnachtsfilm, der gut und gern als feiermüder Digestif genossen werden kann, der die Wende schafft vom Kitsch zum kleinen Kult, ganz so wie die siebte Folge aus der sechsten Staffel von Buffy – The Vampire Slayer, in welcher Sarah Michelle Gellar, James Marsters und Co plötzlich alle ihre Stimmlagen proben. Da treffen Zyniker, Musical-Muffel und Bühnenromantiker aufeinander, und alle bringt der Film an einen Tisch. Man möchte fast meinen: eine Art Weihnachtswunder, während es draußen finster wird.

Anna und die Apokalypse

Fragil (2022)

DAS SCHLUCHZEN DER MÄNNER

7/10


fragil© 2022 Flirrsinn


LAND / JAHR: FRANKREICH 2021

REGIE: EMMA BENESTAN

BUCH: EMMA BENESTAN, NOUR BEN SALEM

CAST: YASIN HOUICHA, OULAYA AMAMRA, TIPHAINE DAVIOT, RAPHAËL QUENARD, BILEL CHEGRANI, DIONG-KEBA TACU, GUILLERMO GUIZ, HOLY FATMA U. A.

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Der nächste Sommer kommt bestimmt – was man momentan vielleicht gar nicht mal so glauben kann, angesichts fast schon eisiger Temperaturen und kurzen Tagen, die den Nachtfrost einläuten. Da ist es manchmal nur willkommen, wenn sich die Hoffnung auf den nächsten Sommer zumindest in den Filmen manifestiert – und wir wieder Sehnsucht verspüren auf das zum Baden einladende Meer, lange Abende und leichter Bekleidung. Vor allem auch auf Meeresfrüchte aller Art, insbesondere Austern. Die gibt es so einige zum Verzehr, zumindest in der französischen Küsten- und Hafenstadt Sète. Diese Schalentiere sind richtig frisch – das garantiert uns der junge Austernfischer Az (Yasin Houicha), der seine Arbeit durchaus mit Leidenschaft betreibt, und auch leidenschaftlich genug sein will, wenn’s um Beziehungsangelegenheiten geht. Denn eines lauen Sommerabends will er seiner langjährige Geliebte Jess (Tiphaine Daviot) einen Heiratsantrag machen – er meint, der beste Ort dafür ist im Inneren einer Auster, die in der Taverne seiner Wahl serviert werden soll. Nur leider spielt das Leben eben nicht die romantischsten Melodien: Jess lehnt ab, will sich sogar eine Auszeit nehmen, steckt sie doch bis über beiden Ohren in einem Karrierehoch als Serienstar. Da bleibt keine Zeit für einen Austernfischer wie Az, der seiner Enttäuschung und seinem Liebeskummer durchaus auch mal die eine oder andere Träne dazugesellen lässt. Und ja: Männer dürfen weinen. Denn dieser Mann hier ist fragil genug, um seine Gefühle zu zeigen. Da muss man nicht auf tough tun und sich rational, wie Männer eben sein müssen, nach neuen Liebschaften umsehen.

Az ist ein unverbesserlicher Romantiker, der gerne in Rostands Klassiker Cyrano zwar nicht die Rolle des großnasigen Poeten, sondern dessen Freund einnehmen würde. Zum Glück hat er aber statt Cyrano einen ganzen Haufen anderer, wirklich guter Freunde, die schräger nicht sein können. Und eine Freundin, die, zurück aus Paris, den jungen Az dahingehend unter ihre Fittiche nimmt, dass er zumindest bei der nächsten großen Filmparty seiner Ex Jess mit Tanztechniken aus der algerischen Raï-Musik so richtig auftrumpfen kann.

Natürlich läuft in einem Film wie Fragil, dem Debüt der algerisch-französischen Filmemacherin Emma Benestan, nichts nach Plan. Der Plan dahinter ist nur, zu sich selbst und seinen Gefühlen zu stehen. Auch als Mann. Mit klassischen männlichen Stereotypen will Benestan aufräumen. Hier findet sich keiner, der Erfolg mit seinen Rollenklischees hätte, die aber bislang die „Herren der Schöpfung“ an ihr amouröses Ziel brachten. Nicht nur einmal erwähnt Az, er wäre im nächsten Leben gerne eine Frau, oder einfach so wie Freundin Lila, die bald schon mehr bedeutet als nur eine hemdsärmelige Vertraute aus Kindertagen. Die Frau im Manne ist etwas, wofür es sich lohnt, im Gefühlschaos Platz zu schaffen. Weinen gehört da ebenso dazu, und das nicht nur als schauspielerischer Kraftakt, wie ihn Konkurrent Giaccomo, ebenfalls Serienstar, als Sternstunde der Spontan-Improvisation demonstriert. Benestan findet ihre Männer hin und hergerissen zwischen kolportierten Idealen und wahren Emotionen. Dabei ist nicht wichtig, wie originell die Liebesgeschichte in Fragil wirklich erzählt werden will. Die ist nämlich erstaunlich vorhersehbar und folgt klassischen, vielleicht zu oft bemühten, aber immer noch funktionstüchtigen Formeln. Wert legt der Film vor allem auf die erfrischende Chemie zwischen den Darstellerinnen und Darstellern, zwischen Cesar-Preisträgerin Oulaya Amamra (Divines) und Yasin Houicha, die sich manchmal so anfühlt, als wäre man in einem mediterranen Dirty Dancing von Rhythmus-Regisseur Tony Gatlif, der mit Vengo oder Djam  – außerordentlich melodische Musikfilmstücke, verbunden mit dem Flair Südeuropas – das Filmschaffen des zweitkleinsten Kontinents längst bereichert hat. Wenn Lila und Az unter der Sonne des Mittelmeeres, zwischen Küste und Meer auf den steinernen Wellenbrechern ihre Bewegungen einstudieren, ist das gelebte Kultur und gelebte Romantik. Ohne Kitsch, sondern mit Gefühl für den Moment. Ja, das gilt auch für Männer.

Fragil (2022)

CODA

ZEICHEN SETZEN FÜR DIE ZUKUNFT

8/10


coda© 2021 Apple Studios


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: SIÂN HEDER

CAST: EMILIA JONES, MARLEE MATLIN, TROY KOTSUR, DANIEL DURANT, FERDIA WALSH-PEELO, EUGENIO DERBEZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 51 MIN


Verstehen sie die Béliers? Nein, natürlich nicht. Gebärdensprache habe ich nie gelernt – bislang gabs auch noch keine Notwendigkeit dafür. Die Béliers verstehen mich aber  auch nur, wenn sie Lippen lesen können und ich meine gewählten Wörter deutlich ausformuliere. Die Béliers sind allesamt gehörlos – Vater, Mutter, Sohn. Nur die Tochter nicht. Solche Kinder nennt man CODA – was so viel heißt wie Children Of Deaf Adults. Der Prozentsatz tauber Eltern, die hörende Kinder in die Welt setzen, ist erstaunlich hoch. Dem Kinderschutz München zufolge sind dies bis zu 90%, die anderen 10& sind dann Deaf CODAS. So viel also zum Titel des Remakes einer französischen Tragikomödie aus dem Jahr 2014 mit Francois Damiens in der Rolle des gehörlosen Vaters. In diesem Film hier ist die Ausgangslage etwas anders – der folgende Plot allerdings der gleiche. Prinzipiell habe ich mit Remakes so meine Probleme, da ich jene, die auf einem bereits vorzüglich gelungenen Original basieren, nicht mehr für notwendig erachte. CODA hätte ich mir in nächster Zeit womöglich nicht angesehen, wäre der auf Apple+ erschienene Film von Siân Heder (Tallulah – zu sehen auf Netflix) nicht für den Oscar als bester Film nominiert worden. Ich will natürlich nicht, dass Preise oder die Aussicht auf selbige meine Watchlist beeinflussen, aber das tun sie. Sehr sogar. Muss ich mich dagegen wehren? Sollte ich nicht. Denn jene, die nominieren und auszeichnen, wissen auch ganz genau, warum. Das erkennt man dann an den Filmen. An diesen ist meist was dran. Etwas ganz Besonderes, Ungewöhnliches. Manchmal auch nicht, aber da Filme oft subjektiv zu werten sind – was soll‘s. Bei CODA allerdings hat die Jury schon absolut richtig gelegen. Trotz meiner Voreingenommenheit hat mich die US-Version der europäischen Komödie tatsächlich noch mehr überzeugt als das Original. CODA ist ein Film, der alles andere als Trübsal bläst. Der mitreißt und positiv bewegt. Womöglich das beste Feel Good Movie der letzten Zeit, was auch an der Musik liegt.

Statt eines Bauernhofs in Frankreich hat Siân Heder ihre Version des Stoffes autobiografisch gefärbt und die Szenerie ins ostamerikanische Gloucester verlegt. Die durch und durch natürlich agierende Schauspielerin Emilia Jones (u. a. Locke & Key) spielt Ruby Rossi, jüngster und hörender Spross einer Fischerfamilie, die jeden Morgen auf den Atlantik rausfährt, und das nur tun kann, weil Ruby mit von der Partie ist, denn irgendwer muss schließlich den Funk überwachen und auf akustische Signale der Küstenwache reagieren. Doch Ruby schwebt für ihr Leben was ganz anderes vor. Sie will singen. Zum Glück gibt’s an der Schule das Freifach Chor. Gesanglehrer Mr. V ist von Rubys Stimme angetan, schlägt ihr gar die Bewerbung an der Musikschule Berkelee in Boston vor. Die Eltern, vorrangig Mama Marlee Matlin (erster Oscar an eine gehörlose Schauspielerin für Gottes vergessene Kinder), halten nicht viel davon. Einfach, weil sie davon auch nicht viel mitnehmen können. Gesang, Musik – was ist das? Ruby ist jedoch nicht auf der Welt, um das Leben ihrer Eltern zu leben, sondern ihr eigenes. Mit Liebe, Sehnsucht und Leidenschaft. Selbstbestimmung ist das Wort. Das muss auch ihre Familie hinbekommen, ohne dabei andere, die vielleicht etwas anderes wollen, zu vereinnahmen.

Ganz ehrlich – ob Béliers oder CODA – die entworfene Coming of Age-Story über Freiheit, Erwachsenwerden und jugendlicher Verantwortung ist ein großartiges Stück Familiensache. Womöglich lässt sich der Stoff gar ein drittes Mal verfilmen, so viel Potenzial hat der Konflikt zwischen familiärer Abhängigkeit und Flüggewerden. Die Frage nach der Schuldigkeit des Nachwuchses den Eltern gegenüber wird durch das Handicap der Gehörlosigkeit fast schon auf ein metaphorisches Gleichnis gehoben, während die Behinderung selbst gar nicht mal so den inhaltlichen Kern der Geschichte ausmacht. Ungewohnt für Außenstehende ist es aber allemal, einem Alltag wie diesen über die Schulter zu sehen. Wenn Ruby dann versucht, den Song für ihre Bewerbung auch in Zeichensprache zu untertiteln, dann ist das Beweis genug für eine nachhaltige Zuneigung für jene, die schweren Herzens, aber doch, ihren Sonnenschein von Tochter freigeben müssen. Wenn Papa Troy Kotzur (nominiert für den Oscar als bester Nebendarsteller) wiederum versucht, den Gesang seiner Tochter wahrzunehmen, indem er die Vibrationen an ihrem Hals erspürt, ist das die Liebe, die Eltern ihren Kindern – ungeachtet ihrer Wünsche – entgegenbringen sollten.

CODA

Tick, Tick… Boom!

VOM DASEIN ALS KÜNSTLER

7,5/10


ticktickboom© 2021 Netflix


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: LIN-MANUEL MIRANDA

CAST: ANDREW GARFIELD, ALEXANDRA SHIPP, ROBIN DE JESÚS, VANESSA HUDGENS, BRADLEY WHITFORD, JUDITH LIGHT U. A.

LÄNGE: 2 STD 1 MIN


Kunst kann niemals nur sich selbst und dem, der sie erschaffen hat, genügen – vorausgesetzt, man will damit erfolgreich sein. Sobald Kunst zum Brotjob werden soll, sind es die anderen, die darüber entscheiden. Das Werk muss gefallen. Und es müssen sich genug Leute finden, die es zu schätzen wissen. Kunst ist dann plötzlich nichts eigenes mehr, sondern etwas Gefälliges. Um als Künstler für so etwas die Basis zu schaffen, braucht es Druck von allen Seiten, angeführt von den eigenen Hummeln im Hintern, die einen niemals zur Ruhe kommen lassen. Und dann sitzt man vor dem Bildschirm, die Finger schwebend über der Tastatur – und nichts geht. Kreativ zu sein ist anstrengend, macht müde, es ist fast wie Leistungssport. Und die Zeit läuft davon. Es ist wie das Ticken einer Zeitbombe. Und irgendwann macht es Boom, und alles ist zu spät.

Diesem kraftraubenden Umstand hat Jonathan Larson sogar ein Musical gewidmet – Tick, Tick… Boom!, basierend auf eigenen autobiographischen Erlebnissen. Von diesem Komponisten, der knapp vor seinem großen Durchbruch verstarb, hätte ich allerdings nie etwas erfahren, hätte nicht Andrew Garfield den Künstler auf den Screen geholt. Belohnt wurde dieses Engagement eben erst mit dem Golden Globe für den besten Hauptdarsteller. Kann sein, dass auch die Academy dem Ex-Spiderman Respekt zollen wird, man weiß es nicht. Wäre er aber nicht gewesen, wäre mir ein bemerkenswerter Musikfilm entgangen, der anfänglich nicht danach ausgesehen hat, mich auch nur irgendwie längerfristig zu interessieren. Mit Musicals, das wisst ihr vielleicht, hab ich’s nicht so. Gut, die Klassiker wie West Side Story müssen auch in ihrer Neuauflage begutachtet werden, und ja – La La Land war eine Sensation. Einige Ausnahmen bestätigen also die Regel meiner eher skeptischen Haltung gegenüber choreographiertem Gruppentanz und der melodiösen Beschreibung alltäglicher Zustände. Auch war mir nicht klar, dass sich Tick, Tick… Boom! tatsächlich zu einem astreinen Singspiel hin bequemt. Doch das tut es. Und nach 30 Minuten war ich versucht, den Film sein zu lassen. Irgendetwas oder irgendwer – eben Andrew Garfield, und ganz sicher nicht die Musik – haben mich daran gehindert. Und gut war’s.

Aus Tick,Tick… Boom!, Larsons vorletztem Musical, hat Schauspieler und Komponist Lin-Manuel Miranda (bekannt auch als Ballonfahrer Lee Scoresby aus der Serie His Dark Materials) die bewegende Biografie eines kreativen Tausendsassas extrahiert, und zwar geschieht dies auf zwei Ebenen. Rahmenhandlung ist dabei eine Aufführung des titelgebenden Musicals mit Garfield als Larsons Musical-Alter Ego Jon, der vom Leben, Lieben und Schaffen erzählt – Szenen, die wiederum in dessen Biografie stattfinden. Knotenpunkt ist da zum Beispiel der American Diner, in welchem der noch erfolglose Künstler Brötchen ausgibt und verdient. Oder eben auch die etwas heruntergekommene Wohngemeinschaft mit Freund Michael (Robin de Jesús), der als Künstler erfolglos bleibt. An allen Ecken und Enden von Larsons Leben: ein Gedränge aus Erwartung, Motivation und Fleiß, dazwischen der Alltag aus Beziehung, Freundschaft und sonstigen Bedürfnissen. Das Musical Superbia ist seit 5 Jahren in Arbeit, und Larson will dieses den Theatern New Yorks präsentieren, um vielleicht sogar am Broadway zu landen. Dafür braucht es Selbstdisziplin und die Fähigkeit, es allen recht zu machen, während das eigentliche Leben gnadenlos vorbeizieht.

Andrew Garfield macht dabei keine halben Sachen und entdeckt dabei gemeinsam mit seinem Publikum ein beachtliches Talent für gesangliche Performance. Der junge Mann mit der fülligen Haarpracht scheint mit Jonathan Larson einiges gemeinsam zu haben, vor allem ist da wie dort ganz viel Herzblut mit dabei. Durch ihn versprüht die tragikomische Ode aufs Künstlerdasein genug zündende Energie, um all die Originalnummern aus dem Musical so sehr mit der stimmigen Biografie eines Künstlers zu verknüpfen, als könnte man meinen, in dessen Leben sei tatsächlich immer wieder mal und einfach so gesungen worden.

Tick, Tick… Boom!

Encanto

DAS MÄDCHEN OHNE EIGENSCHAFTEN

6,5/10


encanto© 2021 Disney. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: BYRON HOWARD & JARED BUSH

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): STEPHANIE BEATRIZ, JOHN LEGUIZAMO, MARIA CECILIA BOTERO, DIANE GUERRERO, JESSICA DARROW, ANGIE CEPEDA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Blut ist bei Disney immer dicker als Wasser. Kein Film, der nicht die eingeschworene Glückseligkeit der Familie zum Ziel hat, und wäre sie auch nur zu zweit. Es geht immer und rund um die Uhr um Familie, um dessen Wert, dessen Bedeutung, dessen Herrlichkeit. Dafür ist Disney gemacht – für Familien und dem Wunsch der Kleinen, mit der Elternschaft bald wieder ins Kino zu hirschen. Seit es Disney+ gibt, braucht es aber nicht mal mehr einen gemeinsamen Ausflug. Es reicht die häusliche Couch und ein ausreichend großes Fernsehgerät, um keines der liebevoll arrangierten Details aus der Animationsschmiede Disney (nicht Pixar!) zu verpassen. Mit Encanto, dem richtigen Familienfilm zur richtigen Familienzeit, präsentiert der Mauskonzern wieder in aller Farbenpracht ein metaphysisches Abenteuer, dass sich aber viel stärker an psychosoziale Inhalte der Pixar-Macher orientiert. Diesmal ist es keine Reise, keine Queste, kein Bestehen von Gefahren, währenddessen man ganz fest an sich selber glauben muss und schon haut alles hin. Encanto ist ein Film, der inhaltlich mitunter schwer greifbar ist, und der die ganz jungen wohl nicht tangieren wird, hätten die doch lieber wieder so einen knuffigen Pelzdrachen, der coole Sprüche schiebt.

Das gibt es heuer nicht, stattdessen eine Villa Kunterbunt in Kolumbien, zwischen Dörfern und grünen Bergen. Dieser magische Ort verdankt seine Exklusivität einer wundersamen Kerze, die seinerzeit der auf der Flucht befindlichen Familie Madrigal von wem auch immer zum Geschenk gemacht wurde. Alle Nachkommen haben von nun an außergewöhnliche Gaben, ganz so wie Die Unglaublichen, nur lokal verortet und ohne Superheldendress. Das reicht von Bärenstarke bis zum Blumenregen, und jedes der Kinder hat ihr eigenes Reich, in dem es tun und lassen kann, was es will. Nur Mirabel nicht. Die hat kein paradiesisches Zimmer, und auch keine Fähigkeit. Niemand weiß warum. Man könnte meinen: das hässliche Entlein. Doch hässlich ist sie auch nicht, sondern recht knuffig und klug und etwas nerdig. Sympathisch, ganz einfach. Und mit Erschaffung dieser natürlichen, burschikosen Figur haben die Character-Designer wieder ganze Arbeit geleistet. Mirabel dämmert bald, dass diese Superfähigkeiten ihren Preis haben. Und dass der Haussegen eigentlich schiefer hängt als gedacht, wobei sie selbst, wie andere behaupten, nicht unbedingt schuld dran sein muss. Sie forscht also nach – und stößt auf beunruhigende Geheimnisse, deren Ursprünge zwei Generationen zurückliegt.

Ein Familienfilm? Wohl eher eine therapeutische Familienaufstellung. Da ist Oma, ihre Kinder (eines davon verstoßen) und die Enkelinnen. Gemäß der heutigen Zeit ist ein Kind wohl nichts, wenn es nicht in ihren Begabungen gefördert wird. Da wollen die Eltern nichts verpassen und dem Nachwuchs das ermöglichen, was sie womöglich selber nie hatten. Das ist ein Leistungsdruck, der nach hinten losgehen kann. Ungefähr so wie in Encanto. Magie hin oder her – diesmal können die Esel, Tapire und Capybaras noch so witzig dreinschauen; diesmal kann das kunterbunte Häuschen noch so mit den Kacheln klappern – was Encanto anstrebt, ist die Suche nach dem Besonderen im Charakter des einzelnen, und die Abkehr von dem, was man leisten muss, nur weil man es vielleicht gut kann. Ein Ansatz, der überraschend ernsthaft und ehrlich daherkommt, den die zum besten gegebenen Musiknummern auch gebührend unterstreichen, ohne zum Selbstzweck zu verkommen. Disney schaut also von Pixar ab? Natürlich, warum nicht. Ein bisschen mehr Konsequenz vor allem in der finalen Szene hätte aber nicht geschadet, doch da hat Disney dann doch nicht weniger als mehr gelten lassen. Die Magie hat wie immer das letzte Wort. Wäre das aber nicht passiert, hätten wir ein kleines Meisterwerk gehabt.

Encanto