Plastic Guns (2024)

DIE FALSCHE FÄHRTE DES KILLERS

4,5/10


Plastic Guns© 2024 A-One


LAND / JAHR: FRANKREICH 2024

REGIE / DREHBUCH: JEAN-CHRISTOPHE MEURISSE

CAST: ANTHONY PALIOTTI, LAURENT STOCKER, GAÉTAN PEAU, CHARLOTTE LAEMMEL, DELPHINE BARIL, VINCENT DEDIENNE, ANNE-LISE HEIMBURGER, JUANA ACOSTA U. A.

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Nicht nur Quentin Tarantino hat versucht, einen der wohl berüchtigsten True Crime-Fälle aller Zeiten so zu lösen, damit der Schaden die Schuldigen trifft. Der Sektenmord an Sharon Tate durch die Manson-Familie hat in Once Upon a Time … in Hollywood weniger fatale Folgen für Roman Polanskis Ehefrau als in der tatsächlichen Kriminalgeschichte. Schön wäre es gewesen, wäre es tatsächlich so ausgegangen. Doch im Kino ist es immerhin möglich, die Realität neu zu erfinden.

Genau das versucht auch der Filmemacher Jean-Christophe Meurisse (u. a. Blutige Orangen) mit seiner grotesk-humorigen Psychopathen-Hommage Plastic Guns, die nicht nur auf dem diesjährigen Fantasy Filmfest, sondern auch beim Slash Filmfestival in Wien auf der großen Leinwand zu sehen war. Meurisse lässt sich darin von einer sogenannten Unsolved Mystery inspirieren – vom Fall des Familienmörder Xavier Pierre Marie Dupont de Ligonnès, dessen Verbrechen man auf Netflix im Rahmen eines True Crime-Formats nachsehen kann. Nur soviel: Im April 2011 fand man im Garten eines Hauses im französischen Nantes die vergrabenen Leichen einer Frau, vier Kindern und zwei Hunden. Auf dem Gewissen hat Dupont de Ligonnès sie allesamt. Das Ernüchternde und daher auch Unbefriedigende im Rahmen der Ermittlungen: der Mörder, einige Tage später untergetaucht, wurde bis heute nicht gefunden.

Ein ähnlicher Fall trägt sich in Plastic Guns zu. Detektiv Zavatta allerdings scheint dem Verbrecher Paul Bernardin (Laurent Stocker) auf den Fersen zu sein und weiß genau, dass dieser einen Flug nach Kopenhagen nehmen wird, um seine Spuren zu verwischen. Die dänische Exekutive wird in Alarmbereitschaft versetzt – und prompt wird besagter Passagier beim Verlassen des Flugzeuges aufgegriffen, während sich der siegessichere Kommissar gleich mal einen Urlaub in Argentinien gönnt. Der Mann allerdings, der verhaftet wird und überhaupt nicht Paul Bernardin heisst, muss sich qualvollen Verhören unterziehen. Dass dieser nur nach Kopenhagen kam, um seinem Showbiz nachzugehen, glaubt niemand. Psychopathen aus der Reserve zu locken – dafür braucht es Psychopathen. Und so hat selbst die französische und dänische Polizei Individuen am Start, mit denen man sich tunlichst nicht anlegen will. Dasselbe gilt für zwei Investigativjournalistinnen, die aus Spaß an der Freude an den Tatort zurückkehren, um etwaige Hinweise dafür zu finden, wo der Mörder abgeblieben sein kann. Dass es sich um den in Kopenhagen Verhafteten nicht um Bernardin handeln könnte – das wollen die beiden, die sich zusehends in ihren Recherchen verpeilen, genauso wenig wahrhaben wie alle anderen.

Als phantastischer oder Horrorfilm geht Plastic Guns – der Titel sinnbildlich für die Uneinschätzbarkeit des Gefährlichen – nur bedingt bis gar nicht durch. Anfangs gelingt Meurisse das Kunststück, einen Film um eine schreckliche Bluttat und der darauffolgenden Killerhatz so komödiantisch wie möglich zu gestalten, ohne dabei in Geschmacklosigkeiten abzugleiten. Dass dieser Hybrid aus Thriller, Situationskomik und galliger Satire so gut funktioniert, liegt an den kernigen Dialogen und dem wilden Spiel so manchen Charakters – insbesondere an Schauspieler Gaétan Peau, der das zum Handkuss kommende Unschuldslamm in einer Mischung aus peinlicher Verzweiflung, Wut und Rechtschaffenheit stilsicher verkörpert. Auch so manch andere Nebenrolle steigert sich in ein Crescendo, das sich an bühnentauglicher Kleinkunst orientiert. Skurrile Momente sichern sich die Stärken der französischen Burleske, was beinahe schon in Richtung der Filme von Claude Zidi oder Jean Girault geht, in denen Louis de Funès den cholerischen Bohemien oder moralinsauren Polizisten gibt. Und dann ist da aber noch etwas anderes – eine Komponente, die nicht ins System passt. Mit denen Meurisse zu viel wagt und dabei nicht gewinnt.

Die Frage ist: Darf man sich auf Kosten eines derartigen Mordfalls amüsieren? Vielleicht eine Zeit lang, doch nicht bis zum Ende. Denn dann will Plastic Guns den Zuseher aus seiner Komfortzone holen. Er tut dies scheinbar mutwillig und ohne Notwendigkeit. Dass in jeder der Figuren etwas Psychopathisches steckt, lässt Meurisse sein Publikum auf derart derbe Art wissen, dass er dabei die Chancen für einen smarten Schlussakt verspielt. Das groteske Spektakel einer mit politischen Seitenhieben ausgestatteten Verwechslungskomödie nicht mit einem dramaturgischen Shootout zu beenden, scheint beinahe fahrlässig. Stattdessen verpufft das Werk nach einigen Gewaltspitzen in ungerechtfertigtem Nichtssagen. Das mag zwar niemand erwartet haben, doch der Faktor des Unerwarteten hat in Plastic Guns ordentlich Ladehemmung.  Schade drum.

Plastic Guns (2024)

Deadpool & Wolverine (2024)

MEIN PARTNER MIT DER FRECHEN SCHNAUZE

7/10


DEADPOOL & WOLVERINE© 2024 20th Century Studios / © and ™ 2024 MARVEL.


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: SHAWN LEVY

DREHBUCH: RHETT REESE, PAUL WERNICK, ZEB WELLS, RYAN REYNOLDS, SHAWN LEVY

CAST: RYAN REYNOLDS, HUGH JACKMAN, MATTHEW MACFAYDEN, EMMA CORRIN, AARON STANFORD, MORENA BACCARIN, ROB DELANEY, LESLIE UGGAMS, DAFNE KEEN, JENNIFER GARNER, WESLEY SNIPES, CHANNING TATUM, JON FAVREAU, CHRIS EVANS U. A.

LÄNGE: 2 STD 8 MIN


Wade Wilson, der unkaputtbare Ex-Söldner und Superkiller, hat längst das Nirvana des gesamten filmischen Comic-Kosmos erreicht. Deadpool hat den Überblick, ganz so wie der am Zenit der Erkenntnis angekomme Siddharta, der später als Buddha in die Religionsgeschichte eingegangen sein wird. Denn alles, so weiß Deadpool, ist nur Kino. Alles nur ein Film, er selbst eine erfundene Figur in einem erfundenen Universum. Schließlich ist er der einzige, der begriffen hat, der zu sein, der er ist: Ein von Ryan Reynolds bislang unter Twentieth Century Fox auf die Leinwand gebrachter Charakter, der nun darauf hoffen darf, auf den kunterbunt-süßen Schoß von Disney zu krabbeln. Wenn Deadpool die vierte Wand durchbricht und über sein Dasein in einer völlig zerfahrenen Multiversum-Timeline schwadroniert – wenn er zurückgreift auf andere Filme, in dessen Sets er herumfuhrwerkt (in diesem Fall James Mangold‘s Wolverine-Abgesang Logan), hat uns der rotgekleidete Berserker längst in sein Allerheiligstes eingeladen, um als Teil seines überschaubaren Freundeskreises dem Eskapismus zu frönen, fern jedweder Betroffenheit, jeder noch so unschönen Realität oder ernsten Angelegenheit. Diese Extra-Lizenz, keiner von Marvel sonst wie aufgestellten Benimmregel folgen zu müssen, verleiht dem jovialen Vielredner und Possenreißer den Status eines Hofnarren, der selbst den König einen Dolm nennen darf. Diese lausbübische Freiheit verlangt es, dass Deadpool gar das Problemkind des von Kevin Feige etwas zerfahrenen MCU beim Namen nennt – und die Kurve deswegen kriegt, weil er weniger das Multiversum-Dilemma nochmal aufkochen, sondern viel lieber mit einer stiefkindlich betrachteten Nebenschiene des Marvel-Kosmos kokettieren will: Den X-Men.

Ufert das Ganze dann nicht noch mehr aus, wenn die Avengers und die X-Men synergieren sollen? Jedenfalls ist diese Fusion wohl besser, als sich in multiplen Realitäten noch mehr zu verlieren. So sehr diese Prämisse anfangs auch vielversprechend schien – so wenig ist sie zu gebrauchen. Weil sie sich totläuft. Einmal allerdings noch, lässt sich auch Deadpool den Ritt auf dem Zeitstrahl nicht nehmen, und wer die souveräne Serie Loki gesehen hat, weiß längst Bescheid, was es mit der TVA – der Time Variance Authority – auf sich hat. Auch Wade gerät in die Mühlen dieser Bürokratie, weiß aber, dass er sein eigenes Universum nur dann vor der behördlichen Vernichtung retten kann, wenn er den in seiner Welt verstorbenen Wolverine von woanders klaut. Nach einigen Versuchen findet er ihn: einen in Selbstmitleid, Alkohol und Gram ertrunkenen Superhelden, der alles vermasselt hat. Man kann sich denken, wie sich die beiden wohl vertragen werden. Ob sie gemeinsame Sache machen oder nicht: letztlich landen Sie an einem Ort, den wir ebenfalls aus Loki kennen und an welchem Kooperation besser ist als gegenseitiges Aufschlitzen.

Ja, sie sind das Dreamteam des MCU. Besser noch als der Falcon und der Winter-Soldier. Besser noch als Hulk und Thor. Oder Wanda und Vision. Die beiden sind wie Jack Lemmon und Walter Matthau, wie Bud Spencer und Terence Hill. Wie Shawn Levy (Stranger Things, Free Guy) diese Bromance auf Spur bringt, ist weder konfus noch ausufernd noch an den Haaren herbeigezogen, sondern lebt von dieser auch privaten innigen Freundschaft zwischen Ryan Reynolds und Hugh Jackman. Diese Spielfreude und die Bereitschaft, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen, ist das Fundament für ein heillos überzeichnetes, aber niemals zuviel wollendes Abenteuer, dass zwar nie die groteske Häme der Boys erreicht, dafür aber die blutrünstige, in ihrer Gewaltdarstellung hyperrealistisch karikierte Optik übernimmt. Literweise Kunstblut fließen schon in den ersten Minuten des Films, in welchen Deadpool unter den Klängen der Backstreet Boys die Exekutive der TVA zerschnetzelt. Wenn Wolverine dann auch noch seine Klingen ausfährt, wird es richtig schön deftig. Und fast schon sinnlich.

Angereichert mit Seitenhieben auf Franchises, Medien und längst eingestampften Ex-Superhelden, die ihre Gastauftritte genießen, liefert Deadpool & Wolverine vergnügliche zwei Stunden reinsten Schabernacks. Die mit Ernst angehauchte Realitätskrise Wolverines steht ganz im Gegensatz zu Reynolds permanentem Sarkasmus, zusammen stemmen sie eine gottseidank heruntersimplifizierte Story, deren Antagonistin in ihrer Grimmigkeit zwar fehl am Platz wirkt, von den beiden Kapazundern, die wirklich jeden Quadratzentimeter des Films leidenschaftlich einnehmen, aber mitgerissen wird.

War schon der letzte Deadpool ein Schenkelklopfer schlechthin, entgeht der dritte Teil dank Wolverines brachialer und comicgetreuer Rückkehr einer vielleicht nervtötenden Redundanz. Seine Bühnenpräsenz zu teilen, tut Deadpool äußerst gut. Und auch umgekehrt. Beide gemeinsam haben eine Zukunft, wobei Jackman wohl nicht mehr seinen Adamantium-Arsch vor die Kamera schieben wird. Doch warten wir mal ab. Reynolds ist schließlich beharrlich.

Deadpool & Wolverine (2024)

Wir könnten genauso gut tot sein (2022)

DAS SYSTEM HAT PANIK

4/10


wirkoenntengenausoguttotsein© 2022 eksystent filmverleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, RUMÄNIEN 2022

REGIE: NATALIA SINELNIKOVA

DREHBUCH: NATALIA SINELNIKOVA, VIKTOR GALLANDI

CAST: IOANA IACOB, POLA GEIGER, SIIR ELOGLU, JÖRG SCHÜTTAUF, MINA SAGDIÇ, JASMIN KRAZE, MORITZ JAHN, SUSANNE WUEST, KNUT BERGER, FELIX JORDAN U. A.

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Die Begeisterung kann ich nicht teilen. Denn jener Film, der sich darum bemüht, die Eigendynamik gesellschaftlicher, isolierter Biotope zu sezieren, bewegt sich insofern deutlich von der Materie weg, da er sein Ensemble auf bühnenhafte Weise, und so, als wäre das alles eine zeitgenössische Theateraufführung voller abstrahierter Menschenformen, darzustellen gedenkt. Wir könnten genauso gut tot sein von Natalia Silnenikowa hat allerlei Ambitionen und will erkennen, wie leicht sich etablierte Ordnungen verzerren lassen, wenn nur kleinste Details aus der konformen Zone tanzen. Am Ende führt die Studie menschlichen Verhaltens sehr wohl zu einer Conclusio, die aber wenige Erkenntnisse bringt – vor allem nicht solche, die die Wahrnehmung der Gesellschaft im Rahmen der Covid-Pandemie ohnehin schon definiert hat. Als Pandemie-Film lässt sich Wir könnten genauso gut tot sein dann tatsächlich auch betrachten, sogar der Titel passt perfekt zu den Überlegungen, die wir alle hatten, als wir hinter Schloss und Riegel verbringen mussten, um nicht uns selbst oder andere zu gefährden. Diese eigentümliche Welt, die Silnenikowa da errichtet, ist wie die letzte Bastion des harmonischen Friedens inmitten eines womöglich völlig aus den Fugen geratenen urbanen Systems. Aus einer vielleicht postapokalyptischen Landschaft ragt der Wohnturm einer obskuren Anlage, in welcher Hausparteien in völliger Isolation ihrem Tagesgeschäft nachgehen, ohne auch nur irgendwie ihre Brötchen zu verdienen.

Eine Bewohnerin tut sich dabei deutlich hervor. Es ist die Rumänin Anna, die mit ihrer Tochter bereits sechs Jahre lang das Privileg genießt, Teil dieser seltsamen Gemeinschaft zu sein, in der Achtsamkeit, Nachhaltigkeit und gepflegte soziale Harmonie die Dogmen sind, nach denen gelebt werden soll. Als Sicherheitsbeauftragte hat sie alle Hände voll zu tun und wird erst so richtig in ihrer Mission gefordert, nachdem der Hund des Hausmeisters verschwindet. Töchterchen Iris nimmt diesen Vorfall auf sich, sie meint, den bösen Blick zu haben, und das in Erfüllung geht, was sie anderen wünscht. Aus diesem Grund, und um keine Gefahr für andere zu sein, sperrt sie sich ins Badezimmer. Mit diesem Pensum an Aberglauben und einer Verwechslung, die ungeahnte Konsequenzen nach sich zieht, gerät die Community ins Wanken, die Ordnung bröckelt, schnell werden manche zur Persona non grata. Und der Hund ist immer noch weg.

Von Anfang an lässt einen das Gefühl ohnehin nicht los, dass hier manches faul ist. Und dass eine Welt wie diese, die auf begrenztem Raum das Ideal des Kommunismus praktiziert, einfach und auf längere Sicht nicht funktionieren kann. Denn Kommunismus birgt horrende Intoleranz, Fehltritte werden drakonisch bestraft, und mögen sie auch noch so klein sein. Dass ein Leben unter diesen Umständen so heiß begehrt ist, mag eine nicht ganz nachvollziehbare Prämisse sein. Aufbauend auf diesem Unbehagen entwickelt das teils unübersichtliche, flüchtig skizzierte Figurenensemble weltfremdes formelhaftes Verhalten, mit Vernunft lässt sich diesen Leuten nicht mehr begegnen und am meisten provoziert der engstirnige Teenager Iris (Pola Geiger), der sich in verbohrter Sturheit seinem magischen Denken hingibt. Provokation wäre ja für einen Film nun mal kein schlechte Eigenschaft, doch vielleicht eignet sich das Attribut der Entnervtheit doch viel besser. Auch wenn Ioana Iacob als Alltagsheldin Anna um ihre mühsam errungene Existenz kämpfen muss und dabei auch Opfer bringt – ihre reflektierte Sicht auf die Dinge lässt sich mit der Sehnsucht nach einem Alltag wie diesen schwer vereinbaren. Auch ist die offensichtliche Selbsterniedrigung mancher Figuren in Anbetracht eines angeblichen sozialen Mehrwerts, der anfangs schon keiner ist, einfach nur unnötig und irgendwie dumm.

Wir könnten genauso gut tot sein (2022)

The Palace (2023)

ES LEBE DIE SKALPELLGESELLSCHAFT

4,5/10


thepalace© 2023 Weltkino Filmverleih


LAND / JAHR: ITALIEN, SCHWEIZ, POLEN, FRANKREICH 2023

REGIE: ROMAN POLANSKI

DREHBUCH: EWA PIASKOWSKA, ROMAN POLANSKI, JERZY SKOLOMOWSKI

CAST: OLIVER MASUCCI, MICKEY ROURKE, JOHN CLEESE, JOAQUIM DE ALMEIDA, FANNY ARDANT, MILAN PESCHEL, LUCA BARBARESCHI, IRINA KASTRINIDIS, DANNY EXNAR, SYDNE ROME, ALEXANDER PETROW, BRONWYN JAMES U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Von wegen reich und schön. Roman Polanski hat fast alles dafür getan, um seinen winterlichen Perchtenlauf missglückter Schönheits-OPs zu perfektionieren. Doch leider hat er Harald Glööckler vergessen. Er hätte in diesen Reigen der Monstrositäten gut hineingepasst, stattdessen aber lässt der Regie-Veteran den ehemaligen Sexiest Man Alive, nämlich Mickey Rourke, über den großen Teich fliegen, nur um ihm mitzuteilen, er hätte vergessen, seine Suite zu reservieren. Diese traurige Mitteilung muss ihm einer wie Oliver Masucci machen. Dieser Herr übrigens darf sich am Silvesterabend des Jahres 1999 als Hotelmanager Hansueli Kopf den Bedürfnissen seiner zahlungsfreudigen Gäste annehmen, die von überallher hineinschneien. Alle sind sie hier versammelt, die Janine Schillers dieser Welt, die aufgrund einer dismorphen Eigenwahrnehmung immer noch von sich behaupten, schöner zu sein als je zuvor. Hat man sich mal mit Erschrecken von diversen derben Konterfeis abgewandt, tanzt der urinblonde Mickey Rourke mit Trump-Teint und ebensolcher Frisur durch die noblen Räumlichkeiten des Palace, während anderswo Fanny Ardant unter groteskem Make Up den Duftwolken einer Notdurft erliegt, die ihr kleiner Vierbeiner auf den schneeweißen Bettlaken hinterlassen hat.

Anekdoten wie diese und noch viel mehr geben sich in Polanskis Groteske um schnöselige Begehrlichkeiten die goldene Türklinke in die Hand. Sogar ein Pinguin hat seinen Auftritt – ein Geschenk des milliardenschweren Tattergreises Arthur William Dallas III (John Cleese) an seine um Generationen jüngere Gemahlin. Auch Milan Peschel taucht auf, und der Portugiese Joaquin de Almeida (Warrior Nun), der die meisten der entsetzlichen Visagen auf dieser Party zu verantworten hat. Polanski gestaltet die abendfüllende „Extended Version“ einer Hotellerie-Soap wie Ein Schloss am Wörthersee, nur ohne Roy Black, Peter Alexander und Telly Savalas. Im Grunde aber ist The Palace das gleiche. Grotesker als bereits zu Anfang wird es niemals werden, die einzelnen kleinen Episoden, die, ineinander verflochten, zumindest den Anspruch haben, sich selbst auszuerzählen, verlieren den Drang, entsprechend zu eskalieren. Mit der Furcht vor dem Millennium-Bug weiß Polanski diesmal nicht viel anzufangen, der Jahreswechsel behält seine chaotische Routine, und wirklich brandaktuell bleibt nur die im Fernsehen ausgestrahlte Machtübergabe von Boris Jelzin an den guten alten Putin, der mittlerweile schon ein Vierteljahrhundert regiert. Ein Seitenhieb auf eine verkappte Diktatur? Natürlich ist es das. Doch auch nicht mehr. Seitenhiebe lassen sich an einem Abend wie diesen gut verteilen, doch das Problem an der Wurzel packen ist lieber eine Herausforderung für einen wie Ruben Östlund, der in Triangle of Sadness eine ähnlich arrogante Entourage vorführt, auffliegen lässt und entlarvt. Polanski tut das nicht. Er lässt sein neureiches Völkchen in ihrem Glauben, das Richtige zu tun. Er nimmt ihnen nicht die Gewissheit, so schön und begehrlich zu sein wie nie zuvor. So reich und souverän und wohlgebildet. Womöglich hat sich Polanski dieser Klientel immer verbunden gefühlt, womöglich sieht er sich selbst als einen der Gäste in diesem Parkour aus Herzinfarkten, Geldkoffern und einer Überdosis Kaviar. The Palace schreckt auch nicht davor zurück, in grellen Bildern den farbenfrohen Irrsinn in klinischer Genauigkeit zu betrachten. Manchmal möchte es einen ekeln, manchmal kann man gar nicht wegsehen, wenn so entstellte Gesichter alles Erdenkliche bekommen, was sie verlangen.

Wes Anderson hat in seiner Hotelkomödie The Grand Budapest Hotel ganz andere, viel kauzigere und eremitischere Geschichten erzählt. Sein Werk birgt die Virtuosität eines Thomas Mann’schen Zauberbergs, während The Palace als klamottige Momentaufnahme in marktschreierischer Optik allerlei Kurioses betrachtet, ohne näher darauf einzugehen. Was uns Polanski sagen will? Nichts, außer Guten Rutsch.

The Palace (2023)

Krazy House (2024)

DER TRITT INS ALLERHEILIGSTE

6/10


Krazy-House© 2024 Splendid Films

LAND / JAHR: NIEDERLANDE 2024

REGIE / DREHBUCH: STEFFEN HAARS & FLIP VAN DER KUIL

CAST: NICK FROST, ALICIA SILVERSTONE, KEVIN CONNOLLY, GAITE JANSEN, WALT KLINK, JAN BIJVOET, CHRIS PETERS, MATTI STOOKER U. A.

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Vom Stilmittel der Sitcom, um den American Way of Life zu demaskieren, war schon Oliver Stone überzeugt. In Natural Born Killers turtelten Juliette Lewis und Woody Harrelson unter dem Gelächter eines gebuchten Konserven-Auditoriums in generischen Einfamilienhaus-Kulissen herum, um dann eine blutige, aber medientaugliche Spur durchs Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu ziehen, ganz im Sinne eines Donald Trump, den man trotzdem wählen würde, hätte er auf offener Straße einen Menschen erschossen. Statt den beiden damaligen Jungstars wuchtet sich diesmal ein gottergebener, erzkatholischer Biblebelt-Hausmann namens Nick Frost (diesmal ohne seinen Partner Simon Pegg) von der Palmsonntags-Zeremonie ins traute Eigenheim zurück, mitsamt der nahe am Burnout nagenden Business-Ehefrau Alicia Silverstone und den beiden Kindern, die zwar Papas christliche Affinität mittragen, mittlerweile aber auf den selbstgestrickten Jesus-Pulli verzichten. Der Patriarch sieht das gar nicht gern, und er wundert sich obendrein, was Sohnemann Adam in seinem Zimmer chemischen Experimenten unterzieht. Die klare Sicht auf die Dinge, die die (allem Anschein nach) amerikanische Familie so umtreibt, wovor sie sich fürchtet und was sie niemals hinterfragt, bleibt Nick Frost alias der gutmütig brummige Bernie, verwehrt. Der konservative Glaube ist alles, und gerade in der Karwoche wird dieser blinde sakrale Gehorsam alles wieder ins richtige Lot bringen. Es sei denn, das Schreckgespenst einer russischen Invasion steht ins Haus. Diese wird verkörpert von drei Pfuschern aus dem weit entfernten, kommunistischen Osten – der Vater samt Nachwuchs. Anstatt den Wasserschaden in der Küche zu beheben, zerstören sie nach und nach die gesamten geheiligten vier Wände. Das alles eskaliert, die Gattin versinkt im Burnout und in der Tablettensucht, Adam frönt dem Crystal Meth und Tochter Sarah lässt sich schwängern. Kein Stein bleibt auf dem anderen, und selbst Holy Fucking Jesus, der Bernie immer mal wieder erscheint, um ihn an seine Demut im Glauben zu erinnern, trägt letztlich nichts dazu bei, die Vorstadt-Apokalypse auch nur ein klein wenig zu vereiteln.

Das niederländische Regie-Duo Steffen Haars und Flip van der Kuil klotzen einen farbenfrohen, derben Gewalt-Exzess vor die Kamera, stets Nick Frost im Fokus bewahrend, der eine Wandlung in drei Etappen durchmacht, die durch ein jeweils anderes Bildformat zumindest den Anschein einer Struktur bewahrt. Blickt man hinter das so bluttriefende wie blasphemische Stakkato grotesker Zustände, erkennt man zwei Autorenfilmer, die durchaus bereit sind, die vom bigotten Westen so stolz gelebten Dogmen und geduldeten Laster von Grund auf zu hinterfragen. Warum der fanatische, evangelikale Gottesglaube, warum die Lust an der Droge, die Sucht nach Tabletten, die Heiligkeit des familiären Vierbeiners, das Feindbild aus dem Osten. Krazy House geht sogar so weit, um Verhaltensmanierismen wie das Kaugummikauen, den Putzfimmel und die heuchlerische Allwetter-Freundlichkeit zu verlachen und auf den gebohnerten Boden zu schmettern. Mit Nick Frost, dessen Zahn- und Zahnlosprothese herrlich irritiert, hat Krazy House gerade aufgrund all der befremdenden Polemik eine Identifikationsfigur zwischen biblischem Hiob und amoklaufendem Normalo gefunden, der in die Fußstapfen eines untätigen Versager-Christus stapft, um all das Übel dieser Welt aus der Bequemlichkeitsblase zu treiben.

In diesem satirischen Enthusiasmus treiben es Haars und van der Kuil so sehr und so unbedingt auf die Spitze, dass am Ende das Chaos zu gewollt erscheint, zu erzwungen verrückt und häretisch – es ist die Inflation bizarrer Einfälle, die sich gegenseitig ihre Wirkung nehmen, die dann nur noch als dauerfeuernde Destruktionsorgie zwar die Hartgesottenen unterhält, die aufgrund ihrer selbstbewussten Gelassenheit gut damit leben können, dass dem Haushund die Birne weggeschossen wird oder der Sohn Gottes dem Hirntod erliegt, letztlich aber weder wirklich aufregt oder vor den Kopf stößt. Ein Schmunzeln ob des reuelosen Rundumschlags mag Krazy House sicher sein. Doch viel mehr als lautstark herumzutrampeln steht dem pseudohämischen Streifen gar nicht im Sinn.

Krazy House (2024)

Yannick (2023)

KUNSTGENUSS ALS GEISEL-WORKSHOP

6,5/10


Yannick© 2023 MUBI


LAND / JAHR: FRANKREICH 2023

REGIE / DREHBUCH: QUENTIN DUPIEUX

CAST: RAPHAËL QUENARD, PIO MARMAÏ, BLANCHE GARDIN, SÉBASTIEN CHASSAGNE, FÉLIX BOSSUET U. A.

LÄNGE: 1 STD 7 MIN


Es kann der Frömmste nicht in Frieden den Theaterabend genießen, wenn’s dem Nörgler aus der zehnten Reihe nicht gefällt. Was also tun, wenn sich so mancher Soziopath, der sich unters Publikum gemischt hat, dazu erdreistet, allen anderen im Saal die eigene Auffassung von gutem Geschmack aufzuzwingen? Oder, anders – und etwas kulturphilosophischer formuliert: Befindet sich das zahlende Publikum eines Bühnenabends denn eigentlich in Geiselhaft des Stücks und seiner darstellenden Künstler? Sieht sich dieses vielleicht nicht doch dazu gezwungen, einen ganzen Abend, der schlimmstenfalls nicht mal gefällt, einfach abzusitzen, denn sonst verlöre es ja den Wert dessen, was gegen Bezahlung aufgewogen wurde? Es braucht schon ein gewisses autorevolutionäres Durchsetzungsvermögen, dem eigenen inneren Schweinehund, der andauernd der Meinung ist, dass nichts umsonst sein darf, Paroli zu bieten und während der Vorstellung das Auditorium um die eigene Wenigkeit zu erleichtern. Richtig radikal wird’s dann, wenn das nicht heimlich passiert. Und zu absurdem Theater wird’s dann, wenn Surrealist Quentin Dupieux, die dem großen Salvador Dali verwandte Seele, einen völlig verpeilten Klugscheißer namens Yannick aus seinem Sitz erheben lässt, um allen durch die Parade zu fahren. Denn an diesem gerade mal etwas über eine Stunde laufenden Abend gibt man in einem kleinen Pariser Stadttheater den klassisch-frivol-witzigen Content einer Boulevardkomödie, die sich natürlich um Liebeleien, Liebschaften und Beziehungen dreht. Es ist ein verbales Hickhack, vollgepackt mit leidlich treffsicherem Humor, doch im Wesentlichen Routine. Diese an der Laune Yannicks nagende Langeweile findet sein Ventil darin, den Fortgang eines womöglich lauen Bühnenevents gründlich zu stören. Und da steht er nun, mitten am Parkett und schwadroniert über seine Sicht der Dinge, über seine Meinung, die plötzlich die gewichtigste der ganzen Welt ist, während ihn das Schauspieltrio nur verdutzt anblickt. Als es dann zumindest gelingt, den Störenfried aus dem Saal zu treiben, ist das erst der Anfang. Yannick wird zurückkehren, doch diesmal bewaffnet.

Als Abschlussfilm der letztjährigen Viennale ist Dupieux‘ geradezu harmlose Fingerübung der ideale Digestiv nach allerlei anspruchsvollen Happen. Nicht hochprozentig, die Verdauung anregend, doch im Vergleich zu anderen Filmen, die Dupieux im Alleingang vom Stapel lässt, so einlullend wie ein flauschiges Kissen. Yannick macht keinerlei Anstalten, die erschaffene Realität seiner Geschichte zu stören, wie einst in seinem surrealen Polizeifilm Die Wache. Ernüchternd konstant bleibt die boulevardeske Geiselkomödie dramaturgischen Konventionen treu, und einzig die bizarre Situation, die allerlei Fragen zu Kunst- und Kulturakzeptanz aufwirft, nähert sich eher zaghaft der wilden Experimentierfreudigkeit des Franzosen, der bereits killende Autoreifen und Lederjacken auf die Menschheit losgelassen hat. Yannick ist da trotz Herumfuchtelns mit einer Waffe keine Nemesis, allerdings aber eine im Kosmos des Theaters mächtige Instanz, die die Freiheit der Kunst der eigenen Gefälligkeit opfert. Übertragen lässt sich dieses Spiel mit Zensur, Gehorsam und willkürlichem Regelterror auch auf eine gesellschaftspolitische Ebene. Die Freiheit der Kunst kann nur mittragen, wer ganz gut damit leben kann, dass diese auch nicht gefällt. Sie deshalb abzuschaffen oder gar umzuändern, wird zur Diktatur des Volkes. Doch was heisst des Volkes: Des einzelnen, denn nur ein einzelner, nämlich Yannick, hat einen Abend lang die Macht, alles zu verändern. Da ist es egal, wie intellektuell, dumm oder sonst wie er auch sein mag. Es ist die Überschätzung der eigenen Wichtigkeit.

Am Wortwitz, der Liebe zum Absurden Theater eines Eugene Ionesco und an den straff gesetzten Dialogen lässt Quentin Dupieux nichts zu wünschen übrig. Seine Freude daran, Chaos zu stiften und aus der überschwappenden Anarchie auf viel zu selten hinterfragte Theaterdogmen erwächst ein ganz eigenes Bühnenexperiment, dem man mit einer ähnlich verstört-belustigten Vorsicht folgt, als wäre man selbst einer der Zuschauer, und wüsste nicht, ob, das, was da abgeht, nicht Teil des Stückes selbst ist. Mit diesen Dimensionen legt sich Dupieux aber nicht an. Vielleicht hat er das schon zu oft getan, um nochmal darauf zurückzugreifen. Viel lieber ist ihm diesmal die Extremsituation eines verheerenden Ex temporae, hervorgerufen durch den Ungehorsam eines Einzelnen.

Ist es also unerhört, die eigene Meinung zu sagen? Ganz richtig – vor allem dann, wenn sie keiner hören will. Yannick dient dabei als kurze, knappe, fix auf einer Metaebene befindliche Aufforderung, die wahre Not der eigenen Befindlichkeit zu reflektieren. Wo gelingt das besser als dort, wo subjektive Wahrnehmung alles ist.

Yannick (2023)

The Kill Room (2023)

KUNST KOMMT VON KILLEN

5,5/10


thekillroom© 2024 Universal Pictures


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: NICOL PAONE

DREHBUCH: JONATHAN JACOBSON

CAST: UMA THURMAN, JOE MANGANIELLO, SAMUEL L. JACKSON, MAYA HAWKE, DEBI MAZAR, DREE HEMINGWAY, JENNIFER KIM, LARRY PINE, MIKE DOYLE, MATTHEW MAHER, MARIANNE RENDÓN U. A.

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Ganz ehrlich. Filme, die sich mit Kunst als soziologisches Phänomen, dem Kunstverständnis und dem Kunstmarkt beschäftigen, schmecken mir. Filme, die Kunstkennern und solchen, die es gerne sein möchten, die Hosen runterziehen, unterhalten mich prächtig. Es sind Filme, die es zustande bringen, Begriffe von Kunst, Können und den Wert von Dingen, der von gesellschaftlichen Faktoren abhängig ist, zu hinterfragen und dem neureichen Establishment, dass sich gerne in den Mittelpunkt drängt, ohne einen driftigen Grund dafür zu haben, einen Spiegel vorhält. Jene, die sich darin sehen, erkennen wie der Kaiser ohne Kleider viel zu spät, dass hinter all diesem Scharwenzeln nichts steht außer leere Luft, die teuer verkauft werden kann, wenn es das Prestige verlangt.

Bestes Beispiel sind NFTs. Da frage ich mich natürlich, ob das Ganze nicht als Realsatire konzipiert gewesen war – als Vorführvehikel für sinnlos reiche Nimmersatte, die alles besitzen wollen, was Wert hat. Auch wenn es nur kopierte Pixel sind. Marcel Duchamp – ein Künstler, den ich gerne zitiere und der das Kunstverständnis so richtig persifliert hat – erklärte diverse Alltagsgegenstände in Form von Ready-mades zu Kunstwerken. Warum auch nicht. Es kommt immer drauf an, wer daran glaubt. Oder anders gefragt: Wer ist der größere Tor? Der Tor oder der der ihm folgt?

Solcherlei Widersprüchlichkeiten aufzubrezeln, macht einen Heidenspaß. Yasmina Reza hat mit ihrem Theaterstück Kunst die kritische Betrachtung auf diese erst so richtig salonfähig gemacht. The Burnt Orange Heresy mit Donald Sutherland als fintenlegenden Künstler, der die Gesellschaft manipuliert, ist ein unter dem Radar laufender, aber phänomenaler Geheimtipp zu diesem Thema. Ruben Östlund mit seinem Cannes-Sieger The Square ging sogar noch weiter und bezog in seiner Abhandlung über Kunst und Schickimicki noch den Sozialfaktor mit ein. In Die Kunst des toten Mannes quälen sich Kunstkenner, Kunstkritiker und Galeristen mit dem Verbotenen, wobei The Kill Room gerade zu letzterem gewisse Analogien aufweist. Hier kommt Kunst nicht von Können, sondern von Killen – denn Joe Manganiello, sonst eher bekannt dafür, in Magic Mike die Hüllen fallenzulassen, ist in dieser wortreichen Thrillerkomödie einer namens Reggie Pitt, der fürs Syndikat andere über die Klinge springen lässt. Das wissen natürlich die Wenigsten, doch am ehesten weiß das der jüdische Bäcker Gordon Davis, selbstredend verkörpert vom Vielfilmer Samuel L. Jackson, den man immer wieder gerne sieht, egal, welche noch so verschwindende Rolle diese coole Socke gerade vor den Latz geknallt bekommt. Dieser Gordon Davis also, der verdient sich sein Geld nicht in erster Linie mit Backwaren, sondern mit gut bezahlten Kills, die er vermittelt. Was macht man mit so viel Geld, wenn man wie Walter White aus Breaking Bad gerade mal keinen Car wash-Tempel am Radar hat? Man wählt den Kunstmarkt, denn dort können Bilder ja astronomisch viel kosten, ohne das irgendwer die Sache hinterfragen würde.

Gesagt getan – und Patrice Capullo (Uma Thurman), ein bislang eher erfolgloses Mauerblümchen in der Branche, trumpft ganz plötzlich mit den Bildern eines gewissen Bagman auf, die sich über Nacht für Unsummen verkaufen. Das macht die gesamte Kunst-Entourage natürlich hellhörig. Und so bestimmt der Preis den Wert von Kunst, und nicht die Kunst an sich. Dieser Bagman aber, das ist Reggie Pitt, der seine Mordwerkzeuge – billige Plastiksäckchen – als Ready-mades der Haute Volée unter die Nase reibt.

Der Versuch, den schwarzen Witz eines Quentin Tarantino anhand einer makabren Anekdote im Stile der Pulp Fiction-Episoden aufleben zu lassen, noch dazu mit zwei Stars aus eben diesem Film – da fehlt es an Verve und Feinschliff in den Dialogen. The Kill Room genügt sich bis zu einem gewissen Grad selbst, bleibt aber recht beschaulich, was seinen Handlungsradius betrifft. und kommt auch über ein gewisses Maß an Ehrgeiz nicht hinaus. Regisseurin und Komikerin Nicol Paone verknüpft Geldwäsche-Gaunereien mit eingangs erwähnter Kunstsatire, hat aber viel zu viel Faible für genau diese Art von Gesellschaft, die sie geflissentlich und etwas zahnlos an der Nase herumführen will. Es scheint, als würde in dieser Welt des Kill Room ohnehin jeder ahnen, dass hinter all dem nichts steckt, und dass Kunstwerke als Faksimile, ja Platzhalter für ganze Bündel an Geldscheinen fungieren, die man natürlich schlecht an die Wand hängen kann. Diesen Kapitalismus nutzen Jackson, Manganiello und Thurman für ein verzwickt-halbwitziges Täuschungsmanöver, das am Ende des Films dessen Titel natürlich auch noch miteinbezieht.

Uma Thurman sieht man an, dass sie schon länger nicht mehr vor der Kamera gestanden hat. Ihr Comeback ist jedenfalls übertrieben gekünstelt, gegen die knautschige Routine von Jackson hat sie keine Chance, dafür aber bei Manganiello, der als Figur des psychopathischen Langeweilers, der tatsächlich gar nicht mal so schlechte Kunst macht (obwohl er keine Ahnung davon hat), Schwierigkeiten dabei hat, seinen darzustellenden Charakter auch zu empfinden. Letzten Endes wünscht man sich Vincent „John Travolta“ Vega her, der wohl einen Narren daran gefressen hätte, selbst Künstler zu sein. Und Killer gleichermaßen.

The Kill Room (2023)

American Fiction (2023)

SCHWARZ AUF WEISS GESCHRIEBEN

6,5/10


americanfiction© 2023 ORION RELEASING LLC. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: CORD JEFFERSON

DREHBUCH: CORD JEFFERSON, NACH DEM ROMAN „ERASURE“ VON PERCIVAL EVERETT

CAST: JEFFREY WRIGHT, TRACEE ELLIS ROSS, ISSA RAE, STERLING K. BROWN, JOHN ORTIZ, ERIKA ALEXANDER, LESLIE UGGAMS, ADAM BRODY, KEITH DAVID U. A.

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Versteckt auf Amazon Prime und maximal zum Oscar-Vorabend von Sonntag auf Montag im Wiener Gartenbau-Kino als einmalige Screentime unter des Filmgottes Gnaden einem breiteren Publikum zugänglich, muss American Fiction für eine pflichterfüllende Diversitäts-Agenda herhalten und hatte sich letztes Jahr wohl am ehesten aus herkömmlichen künstlerischen Sichtweisen genauso herausmanövriert wie einst Jordan Peeles Get Out, um nun doch noch ganz vorne mitzuzmischen. American Fiction ist ungewöhnlich, soviel muss man dem Film lassen. Jedoch nichts, was seinen Anspruch rechtfertigen würde, mit neun weiteren Mitstreitern zum vielleicht besten Film des Jahres gekürt zu werden. Der kleine Independetfilm rund um einen Uni-Professor und Schriftsteller, der nicht so schreibt, als wäre er schwarz, dieses Soll aber bringen muss, um Erfolg zu haben, hat es selbst auf Amazon Prime schwer, in die Wohnzimmer von potenziell interessierten Zerstreuungs-Sehern zu gelangen, ist er doch nur im Original mit Untertiteln zu beziehen und somit drauf und dran, abgesehen von den ohnehin im städtischen Kleinkino vertretenen OmU-Stammkunden viele dabei zu vergraulen, einen Film anzusehen, der erstens USA-lastiger nicht sein kann und zweitens seine satirischen Spitzen so bruchsicher in ein Allerwelts-Familienportrait verpackt, dass man halbstündlich danach Ausschau halten muss, um keinen der Seitenhiebe zu verpassen.

Dabei verhindert American Fiction nicht nur den Shitstorm und die Entrüstung, die von der Black Community, die dort drüben längst und völlig gerechtfertigterweise viel mehr Macht und Einfluss auf die Gesellschaft ausübt als früher, wohl herniederbrechen würde, gäbe es zur diesjährigen Preisverleihung nur White Cinema und sonst nichts anderes. Das Werk entgeht den prognostizierten Unannehmlichkeiten auch, indem es Jeffrey Wright für den Oscar als männlichen Hauptdarsteller nominiert und Sterling K. Brown gleich für den besten Nebendarsteller. Bei letzterem lässt sich der Begeisterungssturm, der ihn auf die Nominiertenliste gesetzt haben muss, nur schwer nachvollziehen, bei Jeffrey Wright im Grunde ebenso wenig, doch seine passiv-aggressive Omnipräsenz als phlegmatischer Intellektueller könnte man gewissermaßen als Begründung dafür anführen. Eine richtige Sensation sind beide nicht, doch sie sind homogener Teil eines Ensemblefilms, dessen Würze und Originalität eigentlich darin liegt, alleine schon durch seine Alibi-Nominierung seine jovial-garstige Conclusio, die der Plot mit sich bringt, auf sich selbst und seine Position im Oscarrennen anzuwenden. Sollte diese sich selbst erfüllende Prophezeiung den rund sechstausend Jury-Mitgliedern tatsächlich nicht entgangen sein? Diese subversive Metaebene, auf welcher der Film als bestes Beispiel dafür steht, sich selbst als afroamerikanisches Paradekino dem Rest der Welt anbiedern zu müssen?

Viele Kreise zieht American Fiction eigentlich nicht. Jeffrey Wright gibt Thelonious „Monk“ Ellison, der nicht im Traum daran denkt, stereotype Klischees als Betroffenheitsromane an die weiße Öffentlichkeit zu bringen, obwohl Arbeitskollegin und Bestsellerautorin Sintara Golden (Issa Rae) genau das macht: den Ghetto-Slang in einen Sozialporno zu verpacken, der mit reißerischen Stilmitteln das schlechte Nationalgewissen der Leserschaft beruhigt. Ellison will das nicht. Er schreibt, als wäre er ein Weißer. Er schreibt Romane, die nichts mit der Black Community zu tun haben, denn… warum soll er auch? Umso mehr widert ihn an, dass die Klischee-Literatur den großen Reibach macht, während seine eigenen Bücher niemanden abholen. Dabei sind sie gut geschrieben, das sagen auch die Kritiken, das sagen alle. Um zu beweisen, dass Schwarze „schwarz“ schreiben müssen, um Erfolg zu haben, stellt Ellison Verlag, Leserschaft und Co eine Falle, indem er genau das schreibt, was alle lesen wollen: Den ganzen Black Community-Shit mit Drogen, Waffengewalt, Goldkette und Dysfunktionalität in der Unterschicht-Familie. Mit ungewollten Kindern, Hoffnungslosigkeit und Ressentiments im Alltag. Siehe da – die Bombe schlägt ein. Nur nicht so, wie Ellison sich das vorgestellt hat.

Diese sich selbst ständig konterkarierende Gesellschaftssatire hätte so richtig zünden können, hätte Cord Jefferson, bislang als Drehbuchautor unter anderem für die Serie Watchmen tätig, in seinem Regiedebüt nicht mehr als zwei Drittel seiner Arbeit mit dem Familienportrait einer afroamerikanischen Familie samt Haushälterin zugebracht, nur um zu zeigen, dass das Leben von Schwarzen ganz genauso abläuft wie das von Weißen – dass Schicksale, Probleme, die Wehwehchen mit den alten Eltern, neue Beziehungen und dergleichen nicht anders sind als die Schicksale, die Probleme und Wehwehchen woanders auch, weit jenseits einer Minderheit, die sich sowieso längst auf die Füße gestellt hat. Diese Vorarbeit hatte eigentlich schon die Cosby-Show mit dem in Ungnade gefallenen Patriarchen Bill geleistet. Black Community ist also keine Ghetto-Sache im Sozialstrudel der Ungerechtigkeiten mehr.

Im befreienden Zeitalter der Diversität, dass durch seine militante Agenda des Wokismus sich selbst ad absurdum führt, kratzt ein Film wie dieser an den letzten Überbleibseln rassistischen Denkens zumindest in der höheren Bildungsschicht. In dieses gemächliche und wenig aufmüpfige Familienbild, das viel zu oft vom eigentlichen Kern der Geschichte ablenkt, erfreut sich Jefferson an seiner Probe aufs Exempel, nach der das amerikanische Volk eine gewisse Bequemlichkeit im Ablegen eines Schwarzweißdenkens offenbart. Gerade gegen Ende verschwimmen letztlich Realität und Fiktion auf doch noch beachtliche Weise, und rückblickend weiß man nur selten, in welche Schublade was nun einzuordnen ist. Wenn sich Jefferson letztlich doch noch besinnt, worum es eigentlich zu gehen hat, weiß American Fiction zu überzeugen.

Richtig prickelnd wird es dann, wenn klar wird, dass der Film an sich genauso wie das im Film geschriebene Buch mit dem obszönen Schimpftitel als astreine Satire in Lettern nur das Pflichtgefühl der latent überlegenen Weißen zur Political Correctness entlarvt, die American Fiction zur Einhaltung einer Diversität brauchen, über die eigentlich gar nicht mehr nachgedacht werden sollte.

American Fiction (2023)

Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt (2023)

SKLAVENTREIBEN IN BUKAREST

5,5/10


erwartenichtzuviel© 2023 Mubi


LAND / JAHR: RUMÄNIEN, KROATIEN, FRANKREICH, LUXEMBURG 2023

REGIE / DREHBUCH: RADU JUDE

CAST: ILINCA MANOLACHE, NINA HOSS, KATIA PASCARIU, SOFIA NICOLAESCU, UWE BOLL, LÁSZLÓ MISKE, OVIDIU PÎRSAN, DORINA LAZAR, ALEX M. DASCALU U. A.

LÄNGE: 2 STD 43 MIN


Immer wieder ruft die Europäische Union bei ihr an, Beethovens Ode an die Freude tönt als elektronische Quietschtonleiter aus dem Smartphone von Angela, die als völlig übermüdete Produktionsassistentin und eierlegende Wollmilchsau eines österreichischen „Schlampenvereins“ von Pontius zu Pilatus fährt, um ihre Tagesagenda zu erledigen. Um kurz vor sieben aus dem Bett zu steigen, klingt zwar nicht nach gottlos früh, doch Angela kommt wie Landvermesser K. aus Kafkas Das Schloss nicht zur Ruhe. Obszöne Akkordarbeit bringt sie dazu, in ähnlich obszöner Weise auf Social-Media alles und jeden in den Dreck zu ziehen, vorwiegend in vulgärem Gossenton und von Fellatio bis zum Cunnilingus sexuelle Verdorbenheit nicht nur den neuen britischen König angedeihen lässt, sondern auch diverse Mütter, Väter und sowieso der ganze Rest. Als rumänischer Borat mit Gesichtsfilter macht sie ihrer wütenden Ohnmacht freien Lauf. Hätte sie dieses Ventil nicht, wäre sie womöglich längst Amok gelaufen.

Stattdessen beweist sie zumindest so viel Zähigkeit und Durchhaltevermögen, um die Opfer diverser Arbeitsunfälle abzuklappern und diese für einen Werbefilm als Testimonials für mehr Sicherheit am Arbeitsplatz zu gewinnen. Dass dabei unbezahlte Überstunden, Übermüdung, mangelnde Infrastruktur und Missstände in der Arbeitssicherheit im eigentlichen dafür schuld sind, dass manche von denen nicht mehr aufrecht stehen können, ist ein Umstand, den der westeuropäische Konzern unter den Teppich kehren will. Schnell wird klar: Radu Jude kritisiert in seinem neuen, massiv überlangen Streifen Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt jene Mitgliedstaaten der EU, die genug Einfluss, Macht und Geld besitzen, um den ehemaligen Ostblock nach Strich und Faden auf den Kopf zu scheißen.

Das Outsourcing in Billigländer ist leistbar und ungefährlich, für jene, die anschaffen, denn Kontrolle gibt es keine, Beschwerdestellen ebenso wenig und die Lust an der Ausbeutung einfach zu groß, um sich ihr nicht hinzugeben. Das ist harter Stoff, wenn Radu Jude auch gewillt gewesen wäre, nicht nur Ilinca Manolache als Mädchen für Alles beim Autofahren zuzusehen, während sie Kaugummi kaut und die Welt beschimpft. Der Tag im Leben dieser Angela, die eine Seelenverwandte aus den Achtzigern zu haben scheint, die ebenfalls Angela heisst und auf naiver Retro-Schiene in ihrem Taxi herumkurvt, um konservative Sexisten zu kutschieren, ist fast schon als Roadmovie zu verfolgen, während die Kamera unbeirrt und in grobkörnigem Schwarzweiß dem rechten Profil der Ausgepowerten folgt. Viel passiert nicht dabei, selbst die Schimpftiraden sind lediglich ein trivialer Ausdruck für allerlei Missstände, die es überall auf der Welt genauso gibt, die nicht unbedingt typisch rumänisch sind, sondern alle Länder betreffen, die vom Kapitalkolonialismus unterwandert und kaputtgemacht worden sind. Sudabeh Mortezai lässt in ihrem Film Europa Ähnliches an die Oberfläche sickern. Konventioneller zwar, doch weniger ausufernd.

Früher war alles besser, so scheint uns Radu Jude sagen zu wollen, früher war Bukarest noch das Märchen einer Taxi Driver-Romanze, frei von Feminismus und sonstigem woken Zeugs, überladen mit billigem Schlagerscore und irritierend nostalgisch. Dass Radu seine Sequenzen dann plötzlich ausbremst, als wäre der Vorführapparat defekt, gäbe es noch analoge Filmspulen, mag verwundern und sich auch im Kontext zum restlichen Film zumindest für mich nicht erklären. Die abrupte Schnitttechnik ist Radus Stil, das disharmonische Timing seiner Szenen ganz bewusst angewandt. Wenn dieser dann der gefährlichsten Straße Rumäniens seinen Respekt zollt und sein Publikum aus dem Flow reißt, ist auch das eine bewusste Disharmonie, die allerdings nirgendwo offensichtlich hinführen soll. Am Ende lässt Jude die Kamera in einer gefühlt ewigen Plansequenz laufen, Dialoge der Schauspieler aus dem Off sind das bisschen Salz in der Suppe, während alles andere handzahm bleibt, wenig Biss hat, einfach nicht ans Eingemachte gehen will, wie bei seinem Vorgänger Bad Luck Banging or Loony Porn. Als garstige Satire auf die Scheinheiligkeit rumänischer Biedermänner- und frauen kann die wild fabulierende und nicht weniger avantgardistische Groteske überzeugen – der Sarkasmus zur Arbeitslage der Nation hingegen kokettiert kaum mit Kuriositäten und bringt lediglich Widersprüche aufs Tapet, die im Kapitalismus nicht nur in Rumänien gang und gäbe sind.

Warum so kleinlaut, Radu Jude? Dass sich Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt mehr zum Experiment als zum treffsicheren Statement mausert, tut der Faszination für völlig unorthodoxes Anarcho-Kino, das keinem Regelwerk mehr folgt, keinen Abbruch. Trotz der satten Laufzeit von über 160 Minuten sind Radus Tagesbetrachtungen zwar schwachbrüstig, aber niemals langweilig. Vielleicht, weil das Überrumpeln von Sehgewohnheiten in diesem Werk letztlich alles ist. Der Rest nur Allerwelts-Ambition.

Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt (2023)

Naga (2023)

KAMELE ZUM FÜRCHTEN

6/10


naga© 2023 Netflix Inc.


LAND / JAHR: SAUDI-ARABIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: MESHAL ALJASER

CAST: ADWA BADER, YAZEED ALMAJYUL, MIRIAM ALSHAGRAWI, OUMKALTHOUM SARAH BARD, JABRAN ALJABRAN, ALI ALDUWIAN, KHALID SAAD, KHALID BIN SHADDAD, AMAL ALHARBI U. A.

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Filme gibt’s, die, so glaubt man, gibt’s gar nicht. Zumindest nicht in Saudi-Arabien. Und dennoch: Mit Naga, uraufgeführt bei den Toronto Filmfestspielen in der Sektion Midnight Madness und ebenfalls passend gewesen fürs Slash Filmfestival, wäre dieser Streifen nicht auf Netflix erschienen, wird die Gehorsamspflicht gegenüber dem Patriarchat zwar nicht zwingend mit Kamelfüßen getreten, dafür aber bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und so weit ausgereizt, dass man es fast für unmöglich halten würde, das irgendetwas von dem, was hier passiert, jemals noch ein gutes Ende nehmen könnte. Ob es das schließlich tut, darüber verrate ich natürlich nichts. Schließlich ist Naga ein Psychothriller aus der Wüste, in der sich Zeit und Raum verschieben lassen, und zwar so weit, wie es das eigene Unterbewusstsein, zusammengesetzt aus Schuldgefühl, Pflichtbewusstsein, Trotz und Freiheitsdrang, verlangt. In die saudi-arabische Wüste fährt man, um Spaß zu haben. Und zwar so, wie es der Westen tut. Die Wüste ist in Naga ein gesetzliches Niemandsland, oder sagen wir: eine Grauzone, in der die Kontrollorgane des Staates nur leise fiepen oder sich im Sand verlieren, wenn sich die Verfolgung mit dem Streifenwagen nicht lohnt.

Die junge Sarah hat vor, mit ihrem Freund Saad eines dieser geheimen Events, geschmissen vermutlich von einem Krösus ohne Selbstauflagen, aufzusuchen. Doch bei der Sache gibt es mehrere Haken: Erstens hat Sarah lediglich die Erlaubnis für eine Shoppingtour in Riad – ein Abweichen der vereinbarten Norm führt vermutlich zu drakonischen Strafen. Und zweitens muss sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, wenn Papa sie abholt. Dürfte nicht schwierig werden, denkt sich die rebellische junge Dame, sofern geheim bleibt, dass sie statt Shoppen eben Party feiert. Im letzten Licht des Tages geht die Tour inkognito in die Wüste – um immer mehr und mehr aus dem Ruder zu laufen. Dabei spielen Kamele keine untergeordnete Rolle.

Naga bringt zusammen, was ein mit ordentlich Lokalkolorit ausgestatteter Thriller aus Saudi-Arabien, der sich zur bizarren Groteske mausert, an landestypischen Versatzstücken einsammeln kann: Die gesetzlose Wildheit der kargen Landschaften, die Hoffnungslosigkeit im Nirgendwo, das Zweierleimaß-Messen an Moral und natürlich die zweihöckrige Nemesis, die sich inmitten finsterster Nacht auf Sarah stürzen wird, hässlich bis zur Unkenntlichkeit und bedrohlich wie der Weiße Hai. Um diese wohl beste Horrorszene herum rudert Naga wie wild mit den Armen. Autopannen, Verfolgungsjagden, eingesperrt im Kofferraum und ein Wettlauf mit der Zeit. Wenn Meshal Aljaser seinen Suspense-Reißer auf seine Protagonistin und das vermaledeite Auto reduziert, gelingen Naga einzigartige Szenen. Darüber hinaus weiß er anscheinend nicht so recht, zu welchen Stilmitteln er greifen will, um die bizarre Gesamtsituation aus Pech und Kettenreaktion darzustellen. Das eine Mal bleibt die Kamera distanziert und filmt Geschehnisse aus lächerlich großer Entfernung, das andere Mal wirft sich das Auge des Betrachters ins Getümmel. Das sind jede Menge reizvolle Ansätze, Naga spielt mit den Normen und will experimentieren. Das ist ambitioniert, und auch ungewöhnlich. Letztlich stimmt auch die Wahrnehmung der Zeit nicht mehr, und was real ist und was nicht, bleibt ungeklärt. Und irgendwann fragt man sich: Welches ist die schlimmere Furcht – jene vor dem häuslichen Patriarchat oder jene vor einem wütend gewordenen Kamel, das auf Rache sinnt?

Naga (2023)