Strange Darling (2023)

DER FEIND IM FREMDEN BETT

7,5/10


Strange Darling© 2024 Miramax


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE / DREHBUCH: JT MOLLNER

CAST: WILLA FITZGERALD, KYLE GALLNER, BARBARA HERSHEY, ED BEGLEY JR., ANDREW SEGAL, MADISEN BEATY, BIANCA SANTOS, EUGENIA KUZMINA, STEVEN MICHAEL QUEZADA, SHERI FOSTER, GIOVANNI RIBISI U. A.

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Nie, wirklich niemals, ist das Objekt genau dort, wo man es vermutet. Weder unter dem einen noch unter dem anderen Hütchen. Das liegt wohl daran, dass einige von denen, die mit namentlichem Spiel draufgängerische Passanten um ihr Kleingeld erleichtern, Trickbetrüger sind. Da lassen sich die Rochaden noch so genau beobachten – letztlich blickt man ins Leere.

Es gibt Filme, die ähnlich konstruiert sind. Die nicht wollen, dass ihr Publikum viel zu früh ahnt, welche Taktik hier ihre Anwendung findet. Die es darauf ankommen lassen, dass unkonventionelle Erzählweisen nicht immer willkommen sind. Doch diejenigen, die gerne erfrischend Neues erleben und sich mit einem Lächeln an der Nase herumführen lassen wollen, haben mit Strange Darling eine gute Partie – vorausgesetzt, der Versuch, aus der Gewohnheit auszuscheren, wirkt letztlich nicht allzu gewollt. So ein Zerstückeln des Erzählflusses braucht schließlich Geschmeidigkeit, muss sich anbieten und nicht so wirken, als hätte man erst viel zu spät entschieden, ein konventionelles B-Movie mit besonderem Twist zwangszubeglücken. Das merkt auch das Publikum. Bei Strange Darling merkt es das nicht. Denn der Thriller fuhrwerkt mit seinen sechs Kapiteln ebenso herum wie eingangs erwähnter Hütchenspieler. Dabei starten wir gleich mal mit Kapitel Nummer Drei. Und nein, vorne fehlt nichts, hinten fehlt nichts – dieses Puzzleteil wirft uns sogleich mit Anlauf hinein ins Geschehen. Wir sehen eine Blondine, die, blutverschmiert und gehetzt, mit einem roten Sportwagen über die Landstraße brettert. Hintendrein das Böse: ein grimmiger, toxisch-männlicher Killer, Sexualstraftäter, Psychopath – keiner weiß, was dieser Mann sonst noch alles in sich vereint. Er wirkt wie ein Rednex, wie ein diabolischer Hinterwäldler aus Beim Sterben ist jeder der Erste. Er hat es beinhart auf die junge Frau abgesehen, er will sie nicht entkommen lassen, sie ist schließlich seine Beute.

So viel kann sich das Publikum schon denken: Wenn Kapitel Drei den Thriller startet, ist nicht alles so, wie es scheint. Regisseur JT Mollner gibt nur so viel preis, damit es reicht, um bewährte Rollenbilder zu etablieren. Der stereotype böse Mann, die hilflose Blondine, es könnte ein gediegener, generischer Reißer sein, hätte Mollner nicht noch anderes im Sinn. Und da stecke ich aber als Filmblogger und Reviewer in einem Dilemma, denn Strange Darling ist ein Machwerk jener Sorte, über das man so wenig wie möglich schreiben und erzählen sollte. Don’t worry, ich werde das auch nicht tun, denn so lässt sich dieser Beitrag hier sowohl vor als auch nach dem Film bedenkenlos lesen. Was ich erwähnen kann: Der Kick an der Sache liegt im ausgeklügelten Hinauszögern an Informationen, im Zurückhalten wichtiger Wendungen und auch der Geduld, dieses Zögern durchzuhalten. Vielleicht lässt sich Strange Darling ein bisschen mit dem Roadmovie-Albtraum Hitcher – Der Highwaykiller vergleichen. Vielleicht auch nicht. Zumindest aber kam er mir in den Sinn. Und natürlich kommt einem auch Tarantino in den Sinn, denn dieser Mann zählt zu den großen Avantgardisten – was dieser an Stilideen nicht schon alles auf den Weg gebracht hat, damit andere diese variieren können, nimmt zumindest die Hälfte neuzeitlicher Filmchroniken ein. Bei Pulp Fiction pfiff dieser auf chronologische Akuratesse und etablierte das nonlineare Erzählen bei einer weitgehend durchgehenden Handlung, wenngleich das Episodenhafte noch viel stärker in den Vordergrund tritt als bei Strange Darling, bei welchem die Kontinuität einen Filmdreh wie aus einem Guss voraussetzt. Mollner setzt dabei fünf scharfe Schnitte, wirbelt diese aber nicht willkürlich durcheinander, sondern wohlüberlegt. Im Kopf ordnen sich die Fragmente sowieso in die richtige Reihenfolge, das macht das Hirn ganz von allein. Diese Fähigkeit nutzt Mollner auf irrwitzige Weise. Durch diese Methode konterkariert er die Wahrnehmung von Opfer sowie Täter, von Macht und Ohnmacht, Schwäche und Stärke. Angereichert mit perfiden, aber passgenauen Gewaltspitzen und einer Hauptdarstellerin in Höchstform, entwickelt sich Strange Darling zu einem pfiffigen Meta-Thriller, der sich Zeit lässt und dem die Laune am Spiel mit den Konventionen in jeder Szene anzumerken ist.

Man könnte das nonlineare Experiment sogar noch weiterführen. Nach Harald Zettler vom Online-Filmmagazin uncut.at könnten sich die Kapitel eines Films, wenn man es denn hinbekommt, jedes Mal neu ordnen. Was da herauskäme, wäre erfahrenswert. Jedenfalls ein sich ständig veränderndes Erzählen. Strange Darling macht schon mal den Anfang.

Strange Darling (2023)

Im Wasser der Seine (2024)

HAIE DER GROSSSTADT

7/10


ImWasserderSeine© 2024 Netflix


LAND / JAHR: FRANKREICH 2024

REGIE: XAVIER GENS

DREHBUCH: XAVIER GENS, YANNICK DAHAN, MAUD HEYWANG, YAËL LANGMANN

CAST: BÉRÉNICE BEJO, NASSIM LYES, LÉA LÉVIANT, ANNE MARIVIN, AURÉLIA PETIT, NAGISA MORIMOTO, SANDRA PARFAIT, AKSEL USTUN U. A.

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Die Zoologen, Hai-Experten und Wissenschaftler dieser Welt gehen auf die Barrikaden. Im Wasser der Seine von Xavier Gens ist Mist oberster Güte, da sei selbst Meg mit Jason Statham, so das Echo, noch logischer. Ehrlich wahr? Wie logisch kann Meg wohl sein, wenn Superactionhero Statham einem Megalodon ins Maul tritt und im Alleingang einer prähistorischen Naturgewalt die Leviten liest? Das ist genauso Edeltrash wie Im Wasser der Seine. Und am besten sind Hai-Horrorfilme genau dann, wenn sie genau das sind: hanebüchener Tierhorror jenseits der Verhaltensforschung, der seinen Zenit in Filmen wie Sharknado erreicht – denn gegen Sharknado ist Im Wasser der Seine ja fast schon akribisch recherchiertes Wissenschaftskino. Und auch wenn es das nicht ist – und natürlich ist es das nicht – gelingt Xavier Gens etwas Kurioses. In diesem wild fuhrwerkenden Szenario, das dazu steht, nicht der Realität entsprechen zu wollen, sondern eher einem irrealen Albtraum, dem man hat, wenn man rein intuitiv, impulsiv und subjektiv über Hai-Horror nachdenkt, finden Mako-Haie, die ja grundlegend auch dafür bekannt sind, zu den gefährlichsten Knorplern zu gehören, die wir kennen, ihren Weg in die Stadt der Liebe. Warum das so sein kann? Nun, die Evolution schläft nicht, und muss sich in Zeiten des Klimawandels, des Raubbaus der Meere und der sonstigen Unwägbarkeiten, die das Anthropozän so mit sich bringt, neu erfinden. Da kann es sein, dass sie auf Express umschaltet und Begebenheiten möglich macht, die Tierkundler zur Verzweiflung bringen.

Eine davon ist Sophie, gespielt Bérénice Bejo, die seit dem Neo-Stummfilm The Artist von Michel Hazanavicius kein unbeschriebenes Blatt mehr ist. Der Horrorthriller beginnt mit einem desaströsen Ausflug in den Pazifik, genau dorthin, wo der verstörende „Müllkontinent“ vor sich hintreibt. Vor der Kulisse eines Schandflecks, den wir Menschen verursacht haben, ist die Natur klarerweise mehr als gewillt, ein Exempel zu statuieren – und löscht Sophias ganzes Team aus. Besagter Mako-Hai hat zugeschlagen – ein dicker, fetter, großer. Genau dieser flosselt gemächlich und Jahre später in der Seine herum, gerade zu einer Zeit, als die Bürgermeisterin der Stadt einen Triathlon organisiert, der zum Teil auch in fließendem Gewässer stattfinden soll. Sophia und Polizeibeamter Adil (Nassim Lyes, bekannt aus Xavier Gens Actionfilm Farang) gehen haarsträubenden Gerüchten nach, da ja prinzipiell nicht sein kann, dass ein Räuber aus dem Salzwasser hier sein Unwesen treibt. Sie werden bald eines Besseren belehrt, und ein Wettlauf mit der Zeit bricht sich Bahn, während der Knorpler frühstückt, als gäb‘s kein Morgen mehr. Dieses Morgen allerdings, steht wirklich bald auf der Kippe.

Man sollte sich dieses Szenario selbst ansehen. Man darf sich wundern und an den Kopf greifen. Und dennoch macht Im Wasser der Seine insofern Laune, da es keinen Jason Statham gibt, der alles richtet. Doch immerhin: Die ignorante Bürgermeisterin, die Wissenschaftlerin, auf die keiner hört, die Öko-Aktivistin, die ihr eigenes Ding durchzieht – im Film wimmelt es von Stereotypen und Rollenklischees. Was diesen bewährten Mustern aber passiert, ist das Konterkarieren ihrer Selbst. Xavier Gens lässt sie alle bluten, es wirbeln Köpfe und Gliedmaßen, da gerät Deep Blue Sea zum Kindergeburtstag. Und der urbane Mensch, ob auf logischem Wege oder auch nicht, wird endlich mal wieder dorthin verwiesen, wo sein Platz ist. Und der ist nicht zwingend am Ende der Nahrungskette.

Im Wasser der Seine (2024)

American Fiction (2023)

SCHWARZ AUF WEISS GESCHRIEBEN

6,5/10


americanfiction© 2023 ORION RELEASING LLC. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: CORD JEFFERSON

DREHBUCH: CORD JEFFERSON, NACH DEM ROMAN „ERASURE“ VON PERCIVAL EVERETT

CAST: JEFFREY WRIGHT, TRACEE ELLIS ROSS, ISSA RAE, STERLING K. BROWN, JOHN ORTIZ, ERIKA ALEXANDER, LESLIE UGGAMS, ADAM BRODY, KEITH DAVID U. A.

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Versteckt auf Amazon Prime und maximal zum Oscar-Vorabend von Sonntag auf Montag im Wiener Gartenbau-Kino als einmalige Screentime unter des Filmgottes Gnaden einem breiteren Publikum zugänglich, muss American Fiction für eine pflichterfüllende Diversitäts-Agenda herhalten und hatte sich letztes Jahr wohl am ehesten aus herkömmlichen künstlerischen Sichtweisen genauso herausmanövriert wie einst Jordan Peeles Get Out, um nun doch noch ganz vorne mitzuzmischen. American Fiction ist ungewöhnlich, soviel muss man dem Film lassen. Jedoch nichts, was seinen Anspruch rechtfertigen würde, mit neun weiteren Mitstreitern zum vielleicht besten Film des Jahres gekürt zu werden. Der kleine Independetfilm rund um einen Uni-Professor und Schriftsteller, der nicht so schreibt, als wäre er schwarz, dieses Soll aber bringen muss, um Erfolg zu haben, hat es selbst auf Amazon Prime schwer, in die Wohnzimmer von potenziell interessierten Zerstreuungs-Sehern zu gelangen, ist er doch nur im Original mit Untertiteln zu beziehen und somit drauf und dran, abgesehen von den ohnehin im städtischen Kleinkino vertretenen OmU-Stammkunden viele dabei zu vergraulen, einen Film anzusehen, der erstens USA-lastiger nicht sein kann und zweitens seine satirischen Spitzen so bruchsicher in ein Allerwelts-Familienportrait verpackt, dass man halbstündlich danach Ausschau halten muss, um keinen der Seitenhiebe zu verpassen.

Dabei verhindert American Fiction nicht nur den Shitstorm und die Entrüstung, die von der Black Community, die dort drüben längst und völlig gerechtfertigterweise viel mehr Macht und Einfluss auf die Gesellschaft ausübt als früher, wohl herniederbrechen würde, gäbe es zur diesjährigen Preisverleihung nur White Cinema und sonst nichts anderes. Das Werk entgeht den prognostizierten Unannehmlichkeiten auch, indem es Jeffrey Wright für den Oscar als männlichen Hauptdarsteller nominiert und Sterling K. Brown gleich für den besten Nebendarsteller. Bei letzterem lässt sich der Begeisterungssturm, der ihn auf die Nominiertenliste gesetzt haben muss, nur schwer nachvollziehen, bei Jeffrey Wright im Grunde ebenso wenig, doch seine passiv-aggressive Omnipräsenz als phlegmatischer Intellektueller könnte man gewissermaßen als Begründung dafür anführen. Eine richtige Sensation sind beide nicht, doch sie sind homogener Teil eines Ensemblefilms, dessen Würze und Originalität eigentlich darin liegt, alleine schon durch seine Alibi-Nominierung seine jovial-garstige Conclusio, die der Plot mit sich bringt, auf sich selbst und seine Position im Oscarrennen anzuwenden. Sollte diese sich selbst erfüllende Prophezeiung den rund sechstausend Jury-Mitgliedern tatsächlich nicht entgangen sein? Diese subversive Metaebene, auf welcher der Film als bestes Beispiel dafür steht, sich selbst als afroamerikanisches Paradekino dem Rest der Welt anbiedern zu müssen?

Viele Kreise zieht American Fiction eigentlich nicht. Jeffrey Wright gibt Thelonious „Monk“ Ellison, der nicht im Traum daran denkt, stereotype Klischees als Betroffenheitsromane an die weiße Öffentlichkeit zu bringen, obwohl Arbeitskollegin und Bestsellerautorin Sintara Golden (Issa Rae) genau das macht: den Ghetto-Slang in einen Sozialporno zu verpacken, der mit reißerischen Stilmitteln das schlechte Nationalgewissen der Leserschaft beruhigt. Ellison will das nicht. Er schreibt, als wäre er ein Weißer. Er schreibt Romane, die nichts mit der Black Community zu tun haben, denn… warum soll er auch? Umso mehr widert ihn an, dass die Klischee-Literatur den großen Reibach macht, während seine eigenen Bücher niemanden abholen. Dabei sind sie gut geschrieben, das sagen auch die Kritiken, das sagen alle. Um zu beweisen, dass Schwarze „schwarz“ schreiben müssen, um Erfolg zu haben, stellt Ellison Verlag, Leserschaft und Co eine Falle, indem er genau das schreibt, was alle lesen wollen: Den ganzen Black Community-Shit mit Drogen, Waffengewalt, Goldkette und Dysfunktionalität in der Unterschicht-Familie. Mit ungewollten Kindern, Hoffnungslosigkeit und Ressentiments im Alltag. Siehe da – die Bombe schlägt ein. Nur nicht so, wie Ellison sich das vorgestellt hat.

Diese sich selbst ständig konterkarierende Gesellschaftssatire hätte so richtig zünden können, hätte Cord Jefferson, bislang als Drehbuchautor unter anderem für die Serie Watchmen tätig, in seinem Regiedebüt nicht mehr als zwei Drittel seiner Arbeit mit dem Familienportrait einer afroamerikanischen Familie samt Haushälterin zugebracht, nur um zu zeigen, dass das Leben von Schwarzen ganz genauso abläuft wie das von Weißen – dass Schicksale, Probleme, die Wehwehchen mit den alten Eltern, neue Beziehungen und dergleichen nicht anders sind als die Schicksale, die Probleme und Wehwehchen woanders auch, weit jenseits einer Minderheit, die sich sowieso längst auf die Füße gestellt hat. Diese Vorarbeit hatte eigentlich schon die Cosby-Show mit dem in Ungnade gefallenen Patriarchen Bill geleistet. Black Community ist also keine Ghetto-Sache im Sozialstrudel der Ungerechtigkeiten mehr.

Im befreienden Zeitalter der Diversität, dass durch seine militante Agenda des Wokismus sich selbst ad absurdum führt, kratzt ein Film wie dieser an den letzten Überbleibseln rassistischen Denkens zumindest in der höheren Bildungsschicht. In dieses gemächliche und wenig aufmüpfige Familienbild, das viel zu oft vom eigentlichen Kern der Geschichte ablenkt, erfreut sich Jefferson an seiner Probe aufs Exempel, nach der das amerikanische Volk eine gewisse Bequemlichkeit im Ablegen eines Schwarzweißdenkens offenbart. Gerade gegen Ende verschwimmen letztlich Realität und Fiktion auf doch noch beachtliche Weise, und rückblickend weiß man nur selten, in welche Schublade was nun einzuordnen ist. Wenn sich Jefferson letztlich doch noch besinnt, worum es eigentlich zu gehen hat, weiß American Fiction zu überzeugen.

Richtig prickelnd wird es dann, wenn klar wird, dass der Film an sich genauso wie das im Film geschriebene Buch mit dem obszönen Schimpftitel als astreine Satire in Lettern nur das Pflichtgefühl der latent überlegenen Weißen zur Political Correctness entlarvt, die American Fiction zur Einhaltung einer Diversität brauchen, über die eigentlich gar nicht mehr nachgedacht werden sollte.

American Fiction (2023)

Manodrome (2023)

DER MANN IN DER OPFERROLLE

6/10


manodrome© 2023 Images courtesy of Park Circus/Universal


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH / USA 2023

REGIE / DREHBUCH: JOHN TRENGOVE

CAST: JESSE EISENBERG, ADRIEN BRODY, ODESSA YOUNG, SALLIEU SESAY, PHIL ETTINGER, ETHAN SUPLEE, EVAN JONINGKEIT, CALEB EBERHARDT, GHEORGHE MURENSAN U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Da hat wohl jemand zu oft Herbert Grönemeyers Männer gehört. Oder steckt in einer Zeit fest, in der die Herren der Schöpfung noch das waren, was sie immer gerne sein wollen: Harte Jungs, die sich nehmen dürfen, was sie wollen, die Frauen unterdrücken, aus Furcht davor, sie könnten den Mann überflügeln. Diese Panik wird traurigerweise oft nur mit Gewalt kuriert statt mit der Bereitschaft, respektvollen Umgang, Gelassenheit und Selbstwertgefühl zu erlernen. Der Mann an sich folgt dabei Glaubenssätzen, die zu nichts führen, außer dazu, in Selbstmitleid zu ertrinken und dabei einen Minderwertigkeitskomplex zu füttern, der sie letztlich Amok laufen lässt. So wie im Film Manodrome, in welchem Jesse Eisenberg als so blasser wie teigiger Soziopath auf Biegen und Brechen versucht, zum starken, männlichen Helden, zum sich selbst genügenden Herkules zu mutieren.

Dabei geht’s ihm gar nicht schlecht. Ganz im Gegenteil: Er lebt in einer Beziehung, die dem ersten Anschein nach relativ gut funktioniert – und er wird Vater. Was besseres als seine Gene weiterzugeben kann Mann sich gar nicht wünschen. Doch Ralphie, wie Eisenbergs Figur sich nennt, will alles und noch viel mehr. Er will die Freiheit, tun und lassen zu können, wonach ihm beliebt, keine Verantwortung tragen zu müssen, nur sich selbst gegenüber. Kraft, Muskeln, Mut und Ego: Wenn Ralphie sich im Gym halb zu Tode schwitzt und es nicht lassen kann, in der Umkleide neiderfüllt auf gestählte Muskelprotze zu blicken, die mit sich und der Welt im Reinen sind, weiß man längst, welcher Komplex den Typen reitet. Wie durch einen Wink des Schicksals macht der bis über beide Ohren in einer verfrühten Midlifecrisis steckende Möchtegern-Mann Bekanntschaft mit einer obskuren Gemeinschaft, angeführt vom geheimnisvollen und womöglich in NLP ausgezeichnet geschulten Dad Dan (Adrien Brody), der nichts anderes will, als den gebeutelten Ralphie auf den Pfad des selbstzufriedenen, erfüllten Mannes zu bringen, der letztlich alles hinter sich lässt – Frau, Kind und Familie. Der für nichts Rechenschaft ablegen muss und rund um die Uhr in die Selbstfürsorge geht, die längst nicht mehr das ist, was sie sein soll. Es ist die Nährung eines egozentrischen Weltbildes, die Entsagung jedweder möglichen Zurückweisung. Wohin das führt, wird schnell klar: Ein labiler Geist wie Ralphie findet die innere Stärke nicht in sich selbst, sondern in der Halbautomatischen, sprich: Die Waffe des Mannes ist sein Johannes. Und so wird aus der maskulinen Selbsthilfegruppe zumindest für manche die falsch verstandene offene Tür für reuelose Gewalt, die in ihrer Sinnlosigkeit den Sinn sucht.

Letztjährig beim Slash Filmfestival in Wien als Österreich-Premiere ins Programm aufgenommen, ist der Thriller des südafrikanischen Regisseurs John Trengrove ein urbanes, graustichiges Sozial- und Psychodrama, das Jesse Eisenberg womöglich die beste Performance seiner Schauspielkarriere beschert, dessen dargestellten Lebensloser man aber abstoßend findet. Dieser Ralphie wird zur unsympathischen männlichen Kreatur, die ihrem Zwang, geschlechtsbezogenen Stereotypen zu entsprechen, immer wieder nachgeben muss. Manodrome – so nennt sich auch die kuriose Männerkommune unter Brody – zelebriert den Abgesang auf den obsoleten Mann letztlich als profanen Thriller, der einzig mit dem Mut Jesse Eisenbergs punktet, nicht zwingend misogyne, aber soziopathische Widerwertigkeit als abstürzenden, jokerhaften Kasper darzustellen, dessen Schicksal einem aber auch nicht ganz egal ist, da die Möglichkeit, aus dem Schlamassel herauszukommen und ein besseres Leben zu führen, nichts ist, was dieser prinzipiell abzulehnen gedenkt.

Schlecht beobachtet ist Manodrome nicht, vielleicht etwas zu ungenau im Hinblick auf das Männersystem der Incel (ein Begriff, der mir bislang fremd war). Da der Fokus übertrieben stark auf Eisenberg liegt, gerät das Rundherum vielleicht etwas zu schal und antriebslos, doch im Grunde lässt sich die Dynamik schon erkennen, die Eisenberg ins Verhängnis treibt. In der Darstellung dessen, was männliche Krisen so alles anrichten können, ist Manodrome ein kränklicher Vogel, der durch das Entkommen eines vermeintlichen Käfigs nur wieder im Käfig landet. Das Bild am Ende verweist nicht zufällig auf Einer flog übers Kuckucksnest. Das männliche System ist wie ein unerbittliches Regime, aus dem sich mit Gewalt jedoch nicht ausbrechen lässt.

Manodrome (2023)

Fair Play (2023)

MANN HAT ES – FRAU AUCH

7,5/10


fairplay© 2023 MRC II Distribution Company, L.P.


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE / DREHBUCH: CHLOE DOMONT

CAST: PHOEBE DYNEVOR, ALDEN EHRENREICH, EDDIE MARSAN, RICH SOMMER, GERALDINE SOMMERVILLE, SEBASTIAN DE SOUZA, BRANDON BASSIR, SIA ALIPOUR U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Sie sind jung, sie sind ehrgeizig und aufstrebend, sie sind… von gestern. Zumindest einer der beiden, und zwar er, der ach so verständnisvolle Mann im Haus, genannt Luke. Als Analyst in einem Investmentunternehmen teilt er sich den Arbeitsplatz mit seiner Geliebten und alsbald Verlobten, der nicht minder karriereorientierten Emily. Noch ist alles eitel Wonne, beide sind beruflich auf Augenhöhe, beide müssen sich vom CEO Mr. Campbell (fies: Eddie Marsan), einem sardonischen Kapitalhai, der keinen Respekt vor Untergebenen hat, Beleidigungen jedweder Art gefallen lassen und dürfen ganz sicher nichts Privates mit in die Firma nehmen. Daher ist auch die Liaison der beiden streng geheim. Beide tun so, als wäre nichts. Daheim aber ist die Liebe am Lodern, die Leidenschaft ebenso, und die Männlichkeit drauf und dran, ins stereotype Heldenhafte zu wachsen, geht doch das Gerücht um, das Luke alsbald den Preis für seine Zielstrebigkeit kassieren wird: als neuer Portfoliomanager (was immer das auch ist) soll er den ins Off gekickten Vorgänger, der schon mal Nerven schmeißend die Elektronik seines Büros zertrümmert hat, bevor er gehen hat müssen, ersetzen.

Normalerweise könnte man meinen: Natürlich bekommt der Mann den Zuschlag, wir leben schließlich und leider Gottes in einer diskriminierenden Welt. Doch es kommt anders. Emily gerät in den Fokus der Chefetage – nicht, weil Frauenquoten erfüllt werden müssen, sondern weil sie genau das leistet, was Campbell als vielversprechend für die Erfolgskurve seiner gnadenlosen Diktatur betrachtet. Und nun stellt sich die Frage: Ist Luke als Mann von Morgen bereits so weit in der neuen und gerechten Ordnung einer Gesellschaft angekommen, die akzeptiert, wenn das „schwache Geschlecht“ plötzlich mehr Macht und Geld hat als jenes angeblich starke, das immer noch glaubt, Frauen beschützen zu müssen?

An diese Umkehrrechnung macht sich Langfilmdebütantin Chloe Domont heran, ohne auf Klammern, Plus- und Minuszeichen zu vergessen. Diese Gleichung geht auf, ihr selbst verfasstes Karrieredrama ist spannend und aufwühlend wie ein Thriller, bissig wie eine Satire und so beobachtend wie ein Psychodrama. Netflix holt sich Fair Play – ein Titel, der recht austauschbar anmutet, aber man sollte sich nicht davon abschrecken lassen – als eines seiner Highlights des diesjährigen Streaming-Jahres ins Programm. Wer hätte das gedacht, dass ein Werk, von dem man glauben hätte können, es wäre ein regressiver Schmachtfetzen mit Liebe, Intrigen und wilder Romantik im Stile der 50 Shades of Grey, letztendlich eine Schärfe an den Tag legt, die gesellschaftlichen Machtkämpfen wie Michael Crichtons Enthüllung längst das Wasser reichen kann. Prickelnde Erotik, erwartbares Hickhack im Rahmen eines zu erwartenden Rosenkrieges – ganz so einfach macht es sich Chloe Domont in ihrem selbst verfassten Skript zum Glück nicht.

Dankenswerterweise darf Alden Ehrenreich, der junge und zu Unrecht verschmähte Han Solo, seinen normativen Gentleman raushängen lassen – verständnisvoll, scheinbar aufgeschlossen dafür, Paradigmenwechsel gutzuheißen und liberal bis dorthinaus, um seiner besseren Hälfte jenen Erfolg zu gönnen, den wohl er selbst gerne gehabt hätte. Zugegeben, das ist nicht leicht, die eigene Niederlage wegzustecken. Doch wo hört da die in Fleisch und Blut übergegangene Erziehung von vorgestern auf, als wir alle noch die alten und unfairen Rollenbilder gelehrt bekamen? Wo fängt die Loslösung davon eigentlich an? Und ist sie überhaupt schon im Gange? Oder sind das alles nur Lippenbekenntnisse? Dieser Analyse muss sich Ehrenreich stellen, während Phoebe Dynevor (bekannt aus Bridgerton) die neue Ordnung dankend annimmt, ohne dabei aber in einen ähnlichen Chauvinismus zu verfallen, wie ihn Männer manchmal haben. Dieses Ungleichgewicht und der stets scheiternde Versuch, berufliche Neuordnung nicht gleich als Entmannung anzusehen, machen Fair Play zu einer stets aufgeräumten und niemals allzu dreckigen, aber intelligenten Nabelschau, die, noch viel stärker oder zumindest gleich stark wie Greta Gerwigs Satire Barbie, gerade jene Versatzstücke seziert, die urbanes Mann-Sein öffentlich ausmacht. In der erbarmungslosen Welt des Geldes und des Erfolges, die keinerlei Werte kennt, außer den der Gewinnmarge, sind noble Vorsätze wie Fürze im Wind.

Es tut fast körperlich weh, Ehrenreich bei seiner Entmannung zuzusehen. Erschreckend dabei ist: Nichts davon scheint so sehr überzeichnet, um lachhaft zu wirken. Die Verzweiflung, die masochistische Lust an der Erniedrigung, die eruptive Gewalt als letztes Machtinstrument, das einem Mann wohl bleibt: Selten war ein Film über das Ringen der Geschlechter so glasklar.

Fair Play (2023)

Cop Secret

KÜSSE VOR DEM SHOOTOUT

5/10


copsecret© 2022 MFA+ Filmdistrubution


LAND / JAHR: ISLAND 2021

BUCH / REGIE: HANNES ÞÓR HALLDÓRSSON

CAST: AUÐUNN BLÖNDAL, EGILL EINARSSON, STEINUNN ÓLINA ÞORSTEINSDÓTTIR, SVERRIR ÞÓR SVERRISSON, BJÖRN HLYNUR HARALDSSON U. A. 

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Fußballprofis können auch anders: Sie müssen nicht unbedingt im Selbstmitleid versinken wie der zum Ersatzspieler degradierte Ronaldo oder der fesche Neymar, der gerne eine Schwalbe wäre. Sie müssen auch nicht klein beigeben und während der Weltmeisterschaft in Katar die Regenbogenbinde ablegen. Fußballprofis können auch einfach Filme machen – um auszudrücken, was die Regenbogenbinde nicht durfte. Um auszudrücken, dass männliche und weibliche Stereotypen in einer liberalen Welt nichts zu suchen haben. Einer dieser Fußballer ist Hannes Þór Halldórsson, Torhüter der isländischen Nationalmannschaft. Tja, wer hätte das gedacht: Ein Spitzensportler, der Filme macht – dass bei all dem Training immer noch Zeit bleibt für Drehbuch und Regie, ist womöglich ein klarer Fall von effizientem Zeitmanagement.

Halldórsson hat sich mit Cop Secret dem gerne maskulinen Genre des Action- und Copthrillers angenommen. Eigentlich ganz klassisch und fast so, wie man es von einem Guy Ritchie erwarten würde, der so harte Kerle wie Jason Statham für Radau in der Unterwelt sorgen lässt. In Reykjavik ist es aber nicht Statham, sondern einer, der ihm nicht nur ähnlich sieht, sondern genauso lakonisch und kaltschnäuzig seine Arbeit verrichtet wie dieser: Auðunn Blöndal, im Film als Bússi die härteste Socke unter der Polarsonne, und es wäre fast schon gemeingefährlich, diesem Rauhbein einen Partner zuzuteilen. Doch genau das passiert, in Gestalt von Hörður, einem Schönling sondergleichen – adrett, aufgeräumt und charismatisch. Die beiden passen, wie bei Buddy-Movies üblich, natürlich nicht zusammen – müssen aber bald an einem Strang ziehen.

Islands Hauptstadt Reykjavik präsentiert sich hier auf Augenhöhe mit allen anderen Großstädten dieses Planeten, die längst schon dank actionreicher Verfolgungsjagden das Budget für die Stadtsanierung neu evaluieren mussten. Hoch im Norden schlägt man nun auch besorgt die Hände über den Kopf zusammen, wenn schnittige Karossen in blaustichigen, groben Bildern über frischen Asphalt brettern. Und auch die Unterwelt selbst mitsamt ihren schrägen Rädelsführern hat wohl genug Exkursionen in den vielfach erprobten Westen unternommen, um zu wissen, wie man sich geben muss: Brutal, verrückt und größenwahnsinnig. Nur versprühen diese Vibes relativ wenig von dem, was wir als Liebhaber des skandinavischen oder gar isländischen Kinos so sehr zu schätzen wissen: das Lakonische, Mystische, Skurrile. Cop Secret will von all dieser Mentalität nichts wissen und orientiert sich lieber an gefälligen Vorbildern. Zumindest, was den Plot angeht. Der ist austauschbar und nicht der Rede wert. Ein Thriller von der Stange, dessen Handlung man schnell vergisst.

Weniger in Vergessenheit gerät dabei aber jene Komponente, um die es Regisseur Halldórsson eigentlich geht: Das Konterkarieren des Bildes vom starken Mann, vom maskulinen Berserker, der sich nicht erlauben darf, schwul zu sein. Oder eben doch? Wenn die beiden Vorzeige-Adonisse aus dem Action-Genre langsam bemerken, dass sie einander nicht egal sind, so fühlt sich das zwar ungewohnt an, widerspricht aber in keiner Weise dem Charakter der Protagonisten. Warum auch – weder ist ein Homosexueller weibisch und weich, noch ein Hetero permanent auf Reibung aus. Vorgefertigte Rollenbilder geraten in den Schwitzkasten, und wenn Bússi und sein Partner vor dem nächsten Shootout noch schnell Küsse tauschen, so ist das willkommen anders. Wäre dem so, dass diese erfrischende Sichtweise auch einen ganzen Film tragen könnte, hätten wir hier ein Update zum Genre des neuen Actionfilms. So aber bietet der Thriller nichts neues, und dem sexuellen Statement misst man nicht mehr bei als einer kuriosen Nebensache.

Cop Secret

Ein Kind wie Jake

KLEIDER MACHEN KINDER

2/10


einkindwiejake© 2018 Sundance Institute


LAND / JAHR: USA 2018

REGIE: SILAS HOWARD

BUCH: DANIEL PEARLE, NACH SEINEM THEATERSTÜCK

CAST: CLAIRE DANES, JIM PARSONS, PRIYANKA CHOPRA, OCTAVIA SPENCER, ANN DOWD, LEO JAMES DAVIS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


Besondere Filme, in denen besondere Kinder eine Rolle spielen, gibt es einige. Jodie Fosters Regiearbeit Das Wunderkind Tate zum Beispiel, oder, erst vor einigen Jahren erschienen, Begabt mit „Captain America“ Chris Evans als Vater einer superklugen Tochter. Allerdings gehts auch weniger hochbegabt: Die belgisch-niederländische Produktion Girl oder das poetische Drama Mein Leben in Rosarot über einen Jungen in Mädchenkleidern. Letzteres ist auch Thema in der Verfilmung des Theaterstückes Ein Kind wie Jake von Daniel Pearle, der sein Werk auch für die Regie von Silas Howard adaptiert hat. Nur: es eignen sich zwar wiederholt Theaterstücke für das Medium Film, und gelangen zur wirklich brillanten Entfaltung, während sie ihre Bühnenvorlage in den Schatten stellen. Dieses Drama jedoch ist eines jener Beispiele, anhand derer klar wird, das manche Adaptionen auch wirklich gar nicht funktionieren.

Schade nur, dass sich so bemerkenswerte Darsteller wie Claire Danes und Jim Parsons, der in seiner Rolle als heterosexueller Vater natürlich bewusst gegen seine eigentliche Orientierung besetzt ist und laut trendig-militanter, laut monierender Correctness so etwas ja gar nicht spielen dürfte, an schwergewichtig scheinenden, aber unendlich redundanten Dialogen abarbeiten müssen. Doch wofür? Salopp gesagt hat dieser Film kaum nennenswerte Handlung. Es ist, als würde man das Vorsprechen für die kommende pädagogische Einrichtung des eigenen Nachwuchses verfilmt haben. Für die Eltern, die es betrifft, natürlich nachhaltig relevant. Für das Publikum da draußen? Endenwollend brisant.

Um es kurz zu machen (und es ginge gar nicht länger): Das vielbeschäftigte Wohlstands-Ehepaar Wheeler hat einen Sohn, der dazu neigt, lieber mit Prinzessinnen und in Tüll-Röcken abzuhängen als in durchgeknieten Kinderjeans Dinos aufeinander losgehen zu lassen. Darf das denn sein? Klar darf es das. Wobei das uns allen eingeimpfte Rollenbild von Bubenblau und Mädchenrosa allerdings obsolet wird. Was tun bei so einer Gesellschafts-Anomalie? Unbedingt darüber langmächtig diskutieren und die elitärsten aller elitären Einrichtungen für die kommende Vorschule abklappern, dabei Octavia Spencer das Herz ausschütten und ratlos in der hauseigenen Küche herumstehen. Wie es Jake dabei wohl geht? Zumindest inhaltlich dreht sich alles ums Kind, genauer betrachtet bleibt dieses allerdings eine schier wortlose Staffage, die das Hegen elterlicher Befindlichkeiten pusht. Was für mich wiederum fast schon arrogant wirkt. Denn dieser Jake, der spielt eine untergeordnete Rolle, unüblich bei Filmen über verhaltensoriginelle Kinder. Da würde das Script normalerweise eine gewisse Balance zwischen den Sorgen der Erwachsenen und der des Kindes bereitstellen. Andererseits sind wir hier, in einem Film, der über Abweichungen von der Norm erzählt, auch, was das Konzept des Dramas betrifft, mit dem Aufzäumen des Problempferdes von hinten konfrontiert. Kann man versuchen – haut aber nicht hin.

Ein Kind wie Jake

Die brillante Mademoiselle Neïla

WIR MÜSSEN REDEN

7/10

 

neila© 2017 Universum Film

 

LAND: FRANKREICH 2017

REGIE: YVAN ATTAL

CAST: DANIEL AUTEUIL, CAMÈLIA JORDANA, YASIN HOUICHA, NOZHA KHOUADRA, NICOLAS VAUDE U. A.

 

Arrogant, fremdenfeindlich und polemisch: Das ist der erste Eindruck, den Jus-Studentin Neïla von Professor Pierre Mazard bekommt, als sie zu spät in dessen Vorlesung schneit. Das fällt natürlich auf, und in erster Linie dem als Tacheles redend verschrienen Wortakrobaten des Mansplainings, der sich natürlich nicht zurückhält, die arabischstämmige junge Frau vor aller Augen mit allen Registern seiner Kompetenz zu demütigen. Lässt sich Neïla das gefallen? Nun, sie versucht, kontra zu geben – scheitert aber angesichts der überheblichen Größe eines Narzissten, der seine Worte so verstörend zielsicher einsetzt wie ein Kübel voll Wasser ins Gesicht eines Schlafenden. Die womöglich nicht weniger kluge Neïla, die rhetorisch längst nicht so viel auf dem Kasten hat, druckt sich und gibt klein bei – und beginnt, dem Professor aus dem Weg zu gehen. Der Film wäre zu Ende, würde es bei dieser Konstellation bleiben. Natürlich tut es das nicht, und Professor Mazard, der von allen Seiten ob seines herablassenden Verhaltens aus der Uni geschmissen werden soll, muss sich nun dazu herablassen, Reputation zu leisten. Und zwar mit einem Rhetorikkurs, am besten gleich für die erniedrigte Studentin Neïla. Und so beginnt eine erste, unfreiwillige, giftsprühende Runde voller Aversionen – die mit der Zeit abklingen, und etwas Eigenartiges, so etwas wie eine Symbiose, ein gegenseitiger Nutzen entsteht. Der nicht nur die Sprache schult, sondern auch noch ganz andere Dinge.

Yvan Attal, dem französischen Schauspieler, Regisseur und Gatten Charlotte Gainsbourgs, ist ein erfrischend aufgeweckter Film gelungen. Der gesetzte Altstar Daniel Auteuil und die hemmungslos selbstbewusste Camélia Jordana (bekannt aus der Islamkomödie Voll verschleiert) schenken sich nichts, bleiben sich auch nichts schuldig und messen sich im verbalen Armdrücken auf eine einnehmende Art, die in gewissem Sinne der Dynamik einer Screwball-Comedy gleichkommt. Nur – von der relativ einfachen Intention letztmillenialer Filmemacher, die Stereotypen von Mann und Frau mit Wortwitz zu hinterfragen, ist das komödiantische Soll einer solchen auf dem Silbertablett präsentierten gesellschaftlichen Diskrepanz ein viel differenzierteres, mehrteiliges. Da geht´s längst nicht mehr oder nur periphär um Geschlechterrollen. Viel mehr erzählt Die brillante Mademoiselle Neïla ein extrem abgewandeltes und neu interpretiertes Pygmalion in akademischem Umfeld. Neïla ist eine Eliza Doolittle, die sich von dem älteren weißen Herrn längst nicht so naiv wie einst Audrey Hepburn in die Kunst des kultivierten Sprechens einführen lässt. Die Studentin ist von glasklarem Verstand, hat ihren eigenen Willen und ihr eigenes Weltbild.

Das Handicap eines Migrationshintergrunds, dass aus der Sicht einer alteingesessenen Elite wie die eines Pierre Mazard nicht gerade wie von selbst vom Lehrertisch gefegt wird, muss die Falschheit seiner Vorurteile erst beweisen. Und wo Migration, ist der Stempel sozialer Unterschicht nicht fern. Gleiche Chancen für alle, denn nicht nur die sind klug genug, etwas aus sich zu machen, die aus dem Establishment in die Bildungsburgen nur hinübergleiten müssen. Das da was nicht stimmen kann, das fragt sich Yvan Attal in seinen Szenen des Gegeneinander und Voneinander, und gewährt großzügigen Einblick in die reibungsvolle Genese einer Sprachvirtuosin, die in einem Rhetorikwettbewerb letztendlich zeigen soll, was sie kann. Schopenhauers Werk Die Kunst, Recht zu behalten, ist hier nur ein Hilfsmittel neben dem ganzen Know-How des im Laufe des Filmes gar nicht mehr so ekelhaften Dozenten, der nicht nur Neïla, sondern auch uns Zuseher in die Mechanismen von Sprachform, Argumentation und Diskussionsführung mitnimmt. Das ist so faszinierend wie mitreißend, und man ertappt sich selbst dabei, nachzuvollziehen, wie weit es mit der eigenen Eloquenz eigentlich her ist. Und warum wir oft klein beigeben, wenn’s ums Ganze geht. Einfach, weil uns die Worte fehlen.

Und so redet Neïla Vorbehalte, Kränkungen und Selbstzweifel in Grund und Boden, redet sich frei und in eine bessere Zukunft. Das macht Die brillante Mademoiselle Neila zu einem selbstredend vorhersehbaren, kalkulierbaren, aber zuversichtlichen Vergnügen zwischen Trotz, dem Erkennen des eigenen Potenzials und gesellschaftlichen Freiheitswillen jenseits aller Schubladen. Wo bei genauerer Betrachtung auch der süffisante Professor Mazard hineinfällt, nämlich in seine ganz eigene, in der er aber genauso wenig bleiben will wie Neïla.

Die brillante Mademoiselle Neïla