Mein Sohn, der Soldat (2022)

VÄTERLICHE PFLICHTEN IM SCHÜTZENGRABEN

3,5/10


© 2022 – UNITÉ – KOROKORO – GAUMONT – FRANCE 3 CINÉMA – MILLE SOLEILS – SYPOSSIBLE AFRICA


LAND / JAHR: FRANKREICH, SENEGAL 2022

REGIE: MATHIEU VADEPIED

DREHBUCH: OLIVIER DEMANGEL, MATHIEU VADEPIED

CAST: OMAR SY, ALASSANE DIONG, JONAS BLOQUET, BAMAR KANE, OUMAR SEY U. A.

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Es gibt Weltkriegsfilme, die sind so außerordentlich kraftvoll inszeniert, da fühlt man sich unweigerlich am Kragen gepackt und mitgezerrt auf einen Trip voller Angst, Schmerz und Hoffnung. Ein solcher Film ist Sam Mendes scheinbar in einem Take gefilmte Odyssee 1917. Dadurch, dass Mendes nicht nur die Memoiren seines Großvaters verarbeitet hat, sondern eben auch seinen Fokus enorm stark auf das Individuum setzt, lässt das Drama keinerlei Distanz zu. Der Zuseher, in diesem Fall ich, hängt am Rüstzeug des Soldaten, folgt ihm durch den Schützengraben, springt dem Tod immer wieder von der Schippe, wühlt sich durch Trümmer hindurch ans rettende Tageslicht. Dann gibt es Filme, die meinen, noch persönlicher werden zu können, noch mehr aufzuwühlen als „nur“ anhand eines gnadenlosen Einzelschicksals. Filme wie Mein Sohn, der Soldat.

Allein vom Titel her treibt es einem schon im Vorfeld die Tränen in die Augen. Verstärkt wird die Vorschuss-Wehmut dadurch, wenn man selbst eine Vater-Sohn-Beziehung lebt. Dieser Film verspricht hier etwas Schmerzvolles, noch dazu mit Hinblick auf die entbehrungsreiche französische Kolonialgeschichte des Landes Senegal. In der Hauptrolle findet sich Omar Sy wieder, der seit Ziemlich beste Freunde, einem modernen Meilenstein des europäischen Kinos, gut gebucht von einem Set zum anderen hetzt und ganz vorne mitspielt, sogar im Marvel-Franchise (siehe X-Men). Der französische Weltstar dürfte sich am Set von Ziemlich beste Freunde wohl mit Mathieu Vadepied angefreundet haben, dem Kameramann. Der wiederum hat nun, für Mein Sohn, der Soldat, ins Regiefach gewechselt, die Kamera hat dann jemand anderer übernommen. Nach einigen Kurzfilmen war das hier Vadepieds erster Langfilm, noch dazu ein schwieriges, hochemotionales Thema um Selbstbehauptung, Identität und Patriarchat. Um Autorität, Verantwortung anderen gegenüber und sich selbst. Wie all diese inhaltliche Schwere stemmen? Vielleicht gar nicht.

1917 lief es in den Kolonien ungefähr so, als wären Sklavenjäger zugange. Damals, um den Ertrag an den Baumwollplantagen in Übersee zu steigern. Diesmal aber, um den Nachschub an der französischen Front zu sichern, das Rauben von Menschen vom Fleck weg aus ihren Dörfern war zu damaligen Zeit nur legitim, schließlich muss der Unterworfene seinem Herrn dienen. Es wäre aber nicht der Hirte Bakary (Omar Sy) gewesen, den sie zwangsrekrutiert hätten, sondern dessen Sohn Thierno (Alassane Diong). Kann ein Vater dabei zusehen, wie das eigen Fleisch und Blut als Kanonenfutter herhalten muss? Nein, ein Vater darf den Sohn nicht im Stich lassen – also meldet er sich freiwillig. Nur, um später festzustellen, wie sehr er sich darin getäuscht hat, noch von Nutzen zu sein für jemanden, der längst aus dem Nest hätte fallen sollen. Im Zuge des militärischen Einsatzes schließlich wird klar, dass Thierno im Wahrnehmen seiner Pflicht an Selbstwert gewinnt und plötzlich wichtiger ist als er jemals hätte sein können, daheim in der Sahelzone.

Der Plot ist gut, der Konflikt hochinteressant – die Umsetzung ist es leider nicht. Omar Sy und Alassane Diong spielen selbst wie Zwangsverpflichtete, die Dramaturgie ist zäh und bruchstückhaft. Die Emotionen spießen sich am lieblos ausgearbeiteten Skript, das dem Seelenleben seiner Protagonisten partout nicht auf den Grund gehen will. Hier spürt man und erfährt man nichts, lediglich die kolportierte Oberfläche eines Macht- und Gesinnungswechsels. Prinzipiell würde Mein Sohn, der Soldat einen Blickwinkel auf die Kriegsgeschichte gewähren, den man so noch nicht gesehen haben könnte. Doch am Ende war die Chance auf eine Innovation im Genre nur ein leeres Versprechen. Dieser Krieg bleibt ein mut- wie wutloses Stück schale Aufarbeitung. Die spektakulären Bilder zwischen Kugelhagel und aufgewühltem Schutt lassen sich dabei problemlos verdrängen.

Mein Sohn, der Soldat (2022)

Dahomey (2024)

WENN ARTEFAKTE REDEN KÖNNTEN

5/10


Dahomey© 2024 Stadtkino FIlmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, SENEGAL, BENIN 2024

REGIE / DREHBUCH: MATI DIOP

CAST: GILDAS ADANNOU, HABIB AHANDESSI, JOSÉA GUEDJE U. A.

MIT DER STIMME VON: MAKENZY ORCEL

LÄNGE: 1 STD 8 MIN


In den Kinos und exklusiv auf dem Arthouse-Streamer MUBI läuft derzeit der Goldene Bär 2024: Dahomey. Eine transzendente, metaphysische Dokumentation oder etwas ähnliches, ein filmischer Hybrid, der sich keinesfalls traditionellen Erzählformen unterwirft, obwohl es ganz viel um Tradition geht. Und um Gegenstände, die diese Tradition, möge sie auch noch so althergebracht sein, verkörpern. Wohl wenigen wird Mati Diop womöglich etwas sagen. Jenen, welche die französisch-senegalesische Filmemacherin noch nicht kennen, sei ihr allegorischer Zombiefilm Atlantique schwer ans Herz gelegt. Ein immersives, ungewöhnliches Drama rund um Hoffnung, Flucht und Scheitern, berührender und fesselnder als das themenverwandte Ich Capitano, weil ihm vorallem eines gelingt: zu überraschen. Überraschungen sind im Kino wichtiger denn je. Viele Geschichten sind schon viele Male auf ähnliche Art erzählt worden. Betroffenheit da, Betroffenheit dort. Realismus ist bei Dingen, die die Welt bewegen, gar nicht mehr gefragt, denn den bekommt man ohnehin über das tägliche Fernsehen präsentiert. Das Kino kann gerne viel öfter in Metaebenen herumstreunen, herumschürfen, und das Drama der Menschheit als phantastische Märchen präsentieren, die aber immer noch aus weltlicher Materie gemacht sind.

Mati Diop hat mit ihrem neuen Film Dahomey – der Titel geht zurück auf die Bezeichnung eines Königreichs im heutigen Benin – schon so einiges gewonnen. Diesjährig auf der Viennale war das Werk krönender Abschluss eines innovativen Festivals. Inhaltlich geht’s dabei um Restitution und Wiedergutmachung. Und auch, ob sich das Verständnis von Geschichte im eigenen Land dadurch ändert, wenn verlorene Artefakte ihren Weg zurück in die Heimat finden. Betrachtet man diese Restitution an wertvollen Schnitzereien im richtigen Verhältnis, so sind 26 Exemplare von insgesamt 7000 gestohlenen Arbeiten geradezu lächerlich. Andererseits: 26 Stücke sind nicht nichts. Da sind mannsgroßge Statuen vergangener Könige dabei, wie jene der Monarchen Ghézo, Glélé oder Behanzin. Einen davon, König Ghézo, den John Boyega im Film The Woman King verkörpert, lässt Mati Diop zu Wort kommen. Ein tiefes, gurgelndes Grollen ist zu hören, erst nach ein einigen Sekunden lässt sich dieses abyssale Grummeln als eine uralte Stimme wahrnehmen, gesprochen vom haitianischen Schriftsteller Makenzy Orcel. Ghézo berichtet von einer fast hundert Jahre währenden Nacht, umschreibt sein Empfinden, umschreibt mit blumigen, hochtrabend poetischen Worten die Ankunft daheim. Meist ertönt diese Stimme als Hörspiel, da sonst nichts zu sehen ist außer vielleicht das dunkle Innere einer dieser Holzkisten, mit denen die Artefakte nach Cotonou transportiert werden, direkt in den Präsidentenpalast, um später ins Volkskundemuseum in Abomey umgesiedelt zu werden.

Klar ist so eine Rückführung ein Bekräftigen des Nationalbewusstseins eines Landes, das wie fast jedes in Afrika unter europäischen Kolonialherren gelitten hat. Benin selbst wurde von den Franzosen unterworfen. Diese nahmen sich, was Ihnen gefiel. Eine Schande und eine Schuld natürlich, die, warum auch immer, nicht schon längst getilgt wurde. Doch auf Schätzen sitzt nicht nur ein Drache, sondern auch ein stolzes Volk wie das der Franzosen. Als Verbrechen sieht Mati Diop das Ganze eher weniger, vielmehr als das Nachwehen einer unglücklichen Vergangenheit. Zu einem ganz anderen, recht einfallslosen Stil gelangt ihr Film vorallem dann, wenn sie diesmal keine Statue, sondern die Studenten einer Uni zu Wort kommen lässt. Dort wird über das Damals und Heute diskutiert. Über Geschichte, kulturelle Identität und der Arroganz Europas. All das mag ja ganz interessant sein. Durch Ghézos Stimme auch ein bisschen metaphysisch. Doch diese etwas mehr als eine Stunde Film bleibt schal.

Dokumentieren kann natürlich bedeuten, Orte, Handlungen und Gespräche einfach nur abzufilmen. Im zeitgeistigen Dokfilm behält man sein Publikum informationstechnisch gerne im Ungewissen. Ein hoher Prozentsatz an Fakten darf sich der Zuseher proaktiv selbst organisieren, denn tut er das nicht, bleibt künstlerisches Halbwissen als Pseudodokumentation, die keine Wissensbasis schafft, nicht mal unter Verwendung von Archivmaterial, das zu verwenden gerade in Dahomey naheliegend gewesen wäre. Doch Mati Diop wählt, ähnlich wie Sarah Jessica Rinland in Monólogo Colectivo, die Form des subjektiven Essays, ohne einen Bildungsauftrag erfüllen zu wollen. Dies zu erreichen obliegt wohl eher dem konservativen Fernsehformat und nicht dem Kino. Im Kino fühlt sich der Dokumentarfilm keinen Aufgaben mehr verpflichtet, das Genre zerfasert und zerfranst Richtung assoziativer Collage mitsamt informativer Einsprengseln. Nahe kommt man der Thematik dabei kaum, die Diskussionsrunde der Studenten in der zweiten halben Stunde ist so prickelnd wie ein Vorlesung, deren Inhalt repetitiv wird. So bleibt Dahomey zwar ambitioniert, aber bruchstückhaft.

Dahomey (2024)

The Woman King

ES WAR EINMAL IN AFRIKA

7/10


thewomanking© 2021 CTMG, Inc. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA, KANADA 2022

BUCH / REGIE: GINA PRINCE-BYTHEWOOD

CAST: VIOLA DAVIS, THUSO MBEDU, LASHANA LYNCH, SHEILA ATIM, JOHN BOYEGA, JORDAN BOLGER, JAYME LAWSON, ZOZIBINI TUNZI, HERO FIENNES TIFFIN, ANGÉLIQUE KIDJO U. A. 

LÄNGE: 2 STD 15 MIN


Wie denn, es zeigt sich kaum jemand echauffiert, dass eine amerikanisch-salvadorianische Filmemacherin einen US-amerikanisch-kanadischen Film über historische afrikanische Ethnien dreht? Ja darf die denn das? Und wie sehr kann der afrikanische Spirit denn da überhaupt nachempfunden werden, wenn niemand, weder die Regie noch alle am Skript Beteiligten, keinen entsprechenden Background vorweisen können? Aber gut, ich will hier keine schlafenden Hunde wecken. Von mir aus kann sich jede und jeder jedem Thema annehmen, es braucht nur gut gemachte Hausaufgaben. Denn was natürlich niemand will, ist eine kolportierte Folklore, die jenes geklittete Bild von Afrika vermittelt, dass exotische Wilde zeigt, die man begaffen kann.

Gina Prince-Bythewood (The Old Guard) wäre nahezu lebensmüde gewesen, hätte sie bei ihrem Film nicht gewissenhaft recherchiert oder sich selbst einige Experten auf dem Gebiet der Völkerkunde zur Seite gestellt. Wir wissen, wie leicht man sich in dieser Thematik in die Nesseln setzen kann. Was sich aber kulturhistorisch bestätigen lässt: Das resolute Volk der Dahomey zeichnete sich aus durch etwas ganz Besonderes: den Agojie – ein Regiment an Kriegerinnen, die den Feinden das Fürchten lehrten. Martialische Heldinnen, bis zu den Haarwurzeln gestählt, trainiert und schlau; taktisch versiert und trotz der im Vergleich zu Männern geringeren Stärke kampftechnisch um Nasenlängen voraus.

Im Zentrum dieser Episode aus dem Jahr 1823 steht die Kriegerin und Kommandantin Nanisca, die unter der weitestgehend besonnenen Führung von König Gezo immer wieder nach neuen Rekrutinnen sucht, um ihre Einheit zu erweitern und zu stärken. Darunter findet sich die gerade mal volljährig gewordene Nawi, die, anstatt an einen reichen Miesepeter verheiratet zu werden, lieber den Weg der Kriegsnonne geht. Und ja, sie macht sich – trotz aufmüpfigen Verhaltens und eigenem Kopf. Wie das eben so ist, bei zukünftigen Heldinnen, die aus der Masse herausstechen werden, weil sie selbst denken, statt nur Befehle zu befolgen. Dass es hier Spielraum geben muss, beweist der Erfolg. Oder das Retten so mancher Gefährtin aus misslichen Lebenslagen. Während an der Küste des heutigen Benin die Portugiesen ihre Sklaven kaufen, droht die Gefahr des Gegners in Gestalt der berittenen Oyo. Dafür muss trainiert, dafür muss alles gegeben werden. Während wir also zusehen, wie Nawi zur toughen Frau heranreift und Nanisca mit ihrer erschütternden Vergangenheit konfrontiert wird, offenbart sich ein ungewöhnliches und pittoreskes Stück afrikanischer Geschichte. Einer Geschichte, die in den Schulen wohl kaum unterrichtet wird, und die wir proaktiv womöglich auch nie nachgelesen hätten, die aber so richtig Aufschluss gibt über ein Afrika, das abgesehen von Hungersnöten, islamischem Terrorismus, Armut und Genozide ausnahmsweise mal stolz erhobenen Hauptes auf Ahnen wie diese zurückblicken kann.

Natürlich ist The Woman King kein afrikanischer Film. Wäre er dies, hätte er ein ganz anderes Vokabular verwendet, wäre auch tiefer in Glauben und Gebräuche lokaler Völker eingedrungen. Wäre metaphysisch geworden, während dieser Film hier jene kulturellen Eigenheiten herausfiltert, die profan genug sind, damit sie überall vertraut erscheinen. The Woman King wird dadurch etwas generisch, steht aber mit beiden Beinen fest am Boden eines repräsentativen Afrikas früher Reisender. The Woman King ist ein amerikanischer Film und folgt einem ganz klassischen, hollywood‘schen Erzählduktus, bei dem ich manchmal nicht weiß, ob mir dieser nicht manchmal zu gefällig wird. Es fällt aber schwer, trotz einiger weniger Längen, die sich aus einem bemühten Plot-Konstrukt ergeben oder John Boyegas schwachbrüstigen Auftritt Bythewoods Film nicht trotzdem als schauspierisches Schwergewicht zu betrachten und als einen Historienfilm, der diesmal nicht die epische Polfilter-Handschrift eines Ridley Scott trägt, sondern lieber seine Heldinnengeschichte ohne kinematographische Extras in den blutbesudelten Staub zeichnet. Viola Davis, Lashana Lynch (der ich stundenlang zusehen könnte) und allen voran Thuso Mbedu als Nawi rauben einem den Atem. Kraftstrotzend, vital und sinnlich sind sie. Intelligent und faszinierend. Von Mbedu (The Underground Railroad) wird man zukünftig noch mehr sehen, ich hoffe es inständig. Sie lässt ihre Rolle in stetigem Fluss, entwickelt sich und reift heran. Hier ist nichts, was nicht in ihre Biografie passt. Ein starkes Stück, das sie hier abliefert. Und ein starkes Stück von allen hier Beteiligten, die sich mit flippernden Zungen ins Gefecht stürzen, mit geölten Körpern und geschliffenen Macheten. Unterstützt von den Trommeln im Score, schmettert der Film mit resonanter Wucht eine Performance auf die Leinwand, die erkennen lässt, wo die Marvel-KriegerInnen aus Wakanda ihren Ursprung haben. Dort, im Königreich Dahomey, liegt der eigentliche Quell des Black Panther.

The Woman King

Zombi Child

DIE KINDER DER TOTEN

6,5/10


zombichild© 2020 Grandfilm


LAND / JAHR: FRANKREICH 2019

BUCH / REGIE: BERTRAND BONELLO

CAST: LOUISE LABEQUE, WISLANDA LOUIMAT, MACKENSON BIJOU, KATIANA MILFORT, ADILÉ DAVID, NINON FRANÇOIS U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Zombies gibt es wirklich. Zumindest sagt man das, und zwar auf Haiti. Dort, wo Voodoo mehr ist als nur eine Zaubershow. Vielmehr eine Lebenseinstellung, eine Art metaphysische Weltsicht. Als der erste belegte Fall eines Zombies gilt Anfang der 60er Jahre ein Mann namens Clairvius Narcisse. Der brach eines Tages auf der Straße tot zusammen, wurde beerdigt – und kurze Zeit später wieder zum Leben erweckt, um als untote Kreatur ohne eigenen Willen mit anderen Zombies als Sklave auf einer Zuckerrohrplantage zu arbeiten. Irgendwie hat dieser Mann es geschafft, den Willen seiner Herren zu brechen und zu seiner Familie zurückzukehren, wo er bis zu seinem zweiten Tod gelebt hat. Klingt kurios? Ist es auch. Und es ist der erste mir bekannte Zombie-Film, der um genreübliche Versatzstücke wie Kannibalismus, Blutdurst und rasender Impulssteuerung einen großen Bogen macht. Mit dieser Darstellung des Zombie-Mythos bringt Regisseur Bertrand Bonello das medial hochgeschätzte und durch The Walking Dead massentauglich gewordene Thema auf den Boden kulturgeschichtlicher Tatsachen zurück. Dabei teilt Bonello seinen Film in zwei Hälften. Die eine schildert chronologisch die Ereignisse, die damals auf der karibischen Insel angeblich stattgefunden haben. Die andere erzählt die Coming of Age-Story der französischen Schülerin Fanny, die während ihres Aufenthaltes im Internat mit der Abfuhr ihres Freundes zurechtkommen muss. Ihr zur Seite steht eine kleine Gruppe vertrauter Freundinnen, die sich regelmäßig, zur nachtschlafener Zeit, als eingeschworene Schwesternschaft im Kunstsaal der Schule treffen. Dabei wird ein neues Mitglied aufgenommen – ein haitisches Mädchen namens Mélissa, die bei einer Tante lebt, und die man gut und gerne als Voodoo-Priesterin bezeichnen könnte. Fanny ist davon fasziniert – und spielt mit dem Gedanken, ihre Dienste in Sachen Liebeskummer in Anspruch zu nehmen.

Zombi Child fügt sich wunderbar an eine Reihe ähnlich gelagerter, augenscheinlicher Jugendfilme an, wie zum Beispiel When Animals Dream von Jonas Alexander Arnby oder Raw von Cannes-Preisträgerin Julia Ducournau. In allen diesen Filmen dringt das Paranormale in den ganz normalen Alltag junger Mädchen ein, die sich damit abmühen müssen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Bonellos Film kommt allerdings ohne Blut und Todesfälle aus, dafür ist das Überschreiten dieser Grenze hier im Film eine, die nicht weniger Wirkung hat. Statt verwesender Gesichter und bissfester Launen handelt das Voodoo-Drama von Seelenreisen und der Dominanz solcher. Vom Beschwören garstiger Dämonen und dem Bannen selbiger. Der westafrikanische Kult ist nichts, womit man einfach so aus Neugierde herumspielt, meint der Regisseur. Und auch nichts, das sich gerne als reißerisches Horror-Vehikel verbraten lassen will. Zombi Child nimmt die Möglichkeit einer unbekannten Dimension wie dieser durchaus ernst. Vielleicht ein bisschen zu ernst, und vielleicht schmeckt diese Art der Zombie-Interpretation verwöhnten Zombieland-Veteranen nicht wirklich, weil sie mit Schlitzen und Ballern nicht weit kommen. Als beruhigt beunruhigende Exkursion zu den Wurzeln eines Mysteriums allerdings ist Zombi Child Kopfkino für geschmacksorientierte Tellerrand-Balancierer, den Blick in den Abgrund inbegriffen.

Zombi Child

Welcome to Sodom

RISE OF ELECTRO

7,5/10


welcometosodom© 2018 Camino Filmverleih


LAND: ÖSTERREICH 2018

REGIE: FLORIAN WEIGENSAMER, CHRISTIAN KRÖNES

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Erst unlängst habe ich einen alten Drucker zum Elektromüll gebracht – da steht so ein Container bei uns im kommunalen Werkraum, der heisst alles, wodurch irgendwie Strom floss, herzlich willkommen. Gut, dass man sowas Komplexes zielgerichtet entsorgen kann. Doch was genau passiert damit? Werden diese Apparaturen – diese Bildschirme, diese alten Rechner oder Kaffeemaschinen – zerlegt? Recycelt? Verheizt? Nun, verheizt wohl nicht, sonst könnten wir die Dinger ja gleich in den Restmüll befördern. Womöglich, so sagen uns Christian Weigensamer und Florian Krönes, zwei österreichische Dokumentarfilmer, landet das Ganze in einem Ort namens Agbogbloshie. Wo bitte soll das sein? Klingt afrikanisch. Ist es auch.

Der Welt größte Müllhalde für Elektroschrott befindet sich im Süden des westafrikanischen Landes Ghana. Wären Weigensamer und Krönes nicht dort gewesen, hätte sich mir das Wissen ob der Existenz dieses Ecks der Welt wohl niemals erschlossen. Doch das wäre schade gewesen. Denn dort, wo Elektronik dem buddhistischen Gedanken der Reinkarnation folgt, haben es Menschen von Jung bis Alt tatsächlich geschafft, aufgrund von Improvisation, Profitorientierung und Überlebenswillen aus diesem postapokalyptischen Chaos heraus sich selbst und den anderen vorzupredigen: „Aus diesem Wahnsinn aus giftigem Rauch, Metall und Kunststoff werde ich jeden Tag neu auferstehen wie ein Phönix aus der giftigen Asche. Jeden Tag. Von früh bis spät. Denn es gibt immer jemanden, der etwas findet, was ein anderer brauchen kann. Und umgekehrt.“

Weigensamer und Krönes folgen diesem immer gleichen Alltag und halten sich dabei streng im Hintergrund. Diese nicht endenwollende Landschaft aus Müll, dazwischen Hütten und Verschläge, barfußige Kids mit Magnetstangen, die das wertvolle Eisen aus dem Boden holen, Zentimeter für Zentimeter. Gezogene Wägelchen, darauf demolierte Bildschirme und Standcomputer. Irgendwo lodert wieder ein Feuer. Alles wird ausgebaut, zerlegt, gesammelt, verkauft, wiederverwertet. Es ist ein einziges, ineinander verschlungenes Gewusel, das Welcome to Sodom hier zeigt. Viel mehr braucht es gar nicht, um fasziniert und gleichzeitig erschüttert zu sein. Dieser improvisierte Irrsinn ist so fern unseres gelebten Lebens. Und dennoch: verweilt man rund 90 Minuten mit dem Blick genau dort hin und sieht, wie all diese vielen Glücksjäger, Tagelöhner und selbsternannten Kaufleute aus dem Nichts heraus plötzlich etwas lukrieren, lässt sich gut erkennen, wozu der Mensch fähig ist. Und was er alles aushalten kann. Sein Wunsch, in dieser Vorhölle herumzukrebsen, ist es aber dennoch nicht. Natürlich hätten sie gerne ein Leben wie unseres. Was sie bekommen, ist ein geschrotteter Teil davon.

Welcome to Sodom

Herz der Finsternis

IM AUGE DES TOTEN ELEFANTEN

5/10

 

heart_of_darkness© 1993

 

LAND: USA 1993

REGIE: NICHOLAS ROEG

CAST: TIM ROTH, JOHN MALKOVICH, ISAACH DE BANKOLÉ, JAMES FOX, IMAN U. A.

 

Er setzte elternlose Kids ins australische Outback, ließ schwarz beflaggte Gondeln zu Wasser und Anjelica Huston das Hexen-Einmaleins aufsagen: die Rede ist von Nicolas Roeg, britisches Film-Urgestein und Relikt aus der Ära des psychedelischen Kaderschnitts. Sobald irgendwer in seinen Werken auch nur annähernd Visionen hatte, so waren diese wie Fremdkörper ins Werk montiert, als wäre man Testobjekt für Gehirnströme, die sich verändern, sobald Einsprengseln artfremder Bilder homogene Betrachtungen stören. Beliebt war die Methode sehr gerne bei Experimentalfilmen der Siebziger. Das Ganze sieht dann ungefähr so aus wie der Vorspann des ehemaligen österreichischen TV-Kinomagazins Trailer. Verändert hat sich Roegs assoziative Schnitttechnik bis in die 90er Jahre hinein nicht, mit der (un)bewussten Ambition, als anachronistischer Konterpart übrigzubleiben. Roeg konzentrierte sich dabei später nur noch auf das Medium Fernsehen, daher ist auch seine Verfilmung des Klassikers von Joseph Conrad eine solche fürs inoffizielle Heimkino geworden, lange bevor es den Begriff On Demand gab.

Herz der Finsternis ist die bislang dritte Verfilmung des gern zitierten Abenteuerromans, wovon eine natürlich, wie wir alle wissen, auf das Konto von Francis Ford Coppola ging, der für sein Meisterwerk Apocalypse Now das zutiefst kolonialkritische Szenario aus den Dschungeln Belgisch-Kongos geholt hat, um es in den Kontext des Vietnam-Debakels der USA zu stellen. Der Rest ist Filmgeschichte. Roeg bleibt dem schwarzen Kontinent treu und lässt statt Matin Sheen „Pumpkin“ Tim Roth nebst den eigenen inneren Dämonen den ominösen Kurtz finden, für dessen Darstellung John Malkovich gar mit einer Golden Globe-Nominierung geadelt wurde. Anders als der diabolische Marlon Brando im Halbdunkel gebärdet sich Malkovich als wehleidiger König im Tüllkleid, umringt von einer Kohorte halbnackter Maskenträger, die wie mythologische Wesen aus welcher Zwischenwelt auch immer den Normalsterblichen Angst einjagen. Bei beiden Kurtz-Interpretationen steht die Barbarei des Menschen im Vordergrund – Malkovich hat allerdings eindeutig die ökologische Fraktion inne, und zwar jene mit Greenpeace und Amnesty-Gedanken im Hinterstübchen, während Brando wie der Leibhaftige all die Kriegsgebeutelten für das Endspiel erwartet. Statt Krieg quält bei Roeg der Raubbau an Elfenbein die Welt, in der wir leben – währen des Vorspanns zu Herz der Finsternis setzt der Film mit Close Ups auf Elefantenhaut ein bitteres Mahnmal.

Dennoch ist die in Belize gedrehte und zugegeben selten gezeigte Version von Herz der Finsternis sehr träge geraten, so träge wie der Flusslauf durch den Regenwald und so matt wie das Aufwachen nach einer tropischen Siesta. Die Zooms wirken seltsam billig und Blut sieht aus wie das Ziegelrot aus dem Tempera-Malkasten. Roth steht meistens nur staunend herum, es wird viel palavert und nichts kommt in die Gänge. Es ist wie das Warten auf das Public Boat während des Rucksack-Trampens, das irgendwann abfährt, keiner weiß wann, jedenfalls aber bringt es uns fort von dieser grob montierten Phlegmatik, die Roeg hier zulässt. Der Mensch, schon klar, ist ein Monster bei Joseph Conrad, und das Grauen ist auch hier das letzte Wort, das Kurtz über die Lippen kommt. Doch allzu deutlich fehlt die Ambition, fürs Kino zu drehen, was für diesen Stoff das bessere Medium gewesen wäre.

Herz der Finsternis

Atlantique

WO SIND ALL DIE MÄNNER HIN?

7,5/10

 

atlantique© 2019 Netflix

 

LAND: SENEGAL, FRANKREICH, BELGIEN 2019

REGIE: MATI DIOP

CAST: MAMA SANÉ, IBRAHIMA TRAORE, AMINATA KANE, ABDOU BALDE, IBRAHIMA MBAYE, AMADOU MBOW U. A. 

 

Immer wieder stößt man vor allem bei weniger beworbenen Produktionen, die vielleicht gar nie bei uns im Kino liefen und wenn, dann nur zu Festivals, auf ausgesuchte Überraschungen. Eine solche Überraschung ist dieser Film aus dem frankophonen Afrika. Genauer gesagt aus dem Senegal. Afrikanische Filme werden ohnehin viel zu selten in den Kinos gezeigt, zum Glück gibt’s das Votivkino mit ihren frankophonen Filmwochen. Atlantique wurde übrigens bei den letztjährigen Filmfestspielen in Cannes präsentiert. Und kam in die Endauswahl für die goldene Palme. Die ging, wie wir wissen, an Bong Joon Ho. Blieb immer noch der Große Preis der Jury, den dieses filmische Kleinod gewann. Geradewegs weg von Cannes ging dieser Film dann mal auf Tauchstation, um wieder über die letzte Viennale bei Netflix zu erscheinen. Und nach Roma dürfte Atlantique wohl das künstlerisch Bemerkenswerteste sein, was dieser Streamingriese derzeit zu bieten hat.

Schauplatz ist Dakar. Die Hauptstadt des Senegal ist diesmal nicht das Ziel eines Racings quer durch die Wüste. Dakar, diese Metropole an der Küste, die wird in Atlantique dominiert von einem futuristischen Hotelgiganten als Symbol einer Zukunft, ganz im Stile des Burj al Arab in Dubai. Dieses Gebäude steht natürlich nicht wirklich dort, sieht obendrein noch aus wie ein gelandetes Raumschiff, fast so wie in Arrival. Um diesen Komplex herum wird eifrig gebaut, und dazu braucht es Männer, junge Männer, die aber schon drei Monate auf ihren Lohn warten und kurz davor sind, auf die Barrikaden zu steigen. Angesichts ihrer Schulden und ihrer ausweglosen Situation beschließen sie, den Sprung nach Europa zu wagen – mit einem Boot über den Atlantik, wie es sowieso schon viele junge Menschen aus Afrika tun. Zurück bleiben die Frauen, die jungen Mädchen. Zerrissen werden Beziehungen, Liebschaften, Freundschaften. Auch die der beiden Verliebten Ada und Suleiman. Doch Suleiman verschwindet, und Ada bleibt alleine zurück. Wie es ihr wohl geht, lässt sich kaum schwer nachvollziehen. Noch dazu wird sie zu einer arrangierten Heirat genötigt, mit einem neureichen Schnösel, der scheinbar alles hat, aber nur eines nicht – Seele. So zumindest scheint es. Was wird Ada wohl tun? Ihrem Geliebten hinterher reisen? Auf ihn warten? Sich selbst behaupten und beginnen, auf eigenen Beinen zu stehen? Doch bevor sich das junge Mädchen diese Fragen selbst beantworten kann, passiert etwas, was nicht zu erwarten ist, und das Diesseits bekommt Besuch.

Was dann eben eintritt, war nicht zu erwarten. Es ist eine Überraschung, aber wie durch ein Wunder eine, die auf Basis einer afrikanischen Lebens- und Geisteshaltung völlig selbstverständlich scheint. Afrika, das ist ein Kontinent, in welchem der Spiritismus zuhause ist, das Zwischendimensionale, das Mystische. Atlantique wird zu einem ebensolchen Parcourlauf, wobei sich die Frage stellt, ob das Paranormale, das hier Einzug in den Alltag hält, nicht sowieso immer schon da war. Wer die Filme des Thailänders Apichatpong Weerasethakul kennt, wird wissen, was ich meine. In Uncle Bonmee erinnert sich an seine früheren Leben ist der Zustand einer Grauzone zwischen den Dimensionen etwas völlig Normales. Das Zusammenleben mit Geistern und Dämonen nichts, wovor sich der Mensch zu fürchten hat. Er hat es nur zu verstehen. Und das ist gar nicht mal so einfach. In Ulrich Köhlers Schlafkrankheit passiert Ähnliches. Auch hier ist das Aufeinandertreffen von Mystik und Realität ein ganz eigenes Erlebnis, das über die Definition des Phantastischen hinausgeht, oder eine ganz eigene, bodenständige Richtung nimmt. Weil es fast schon glaubhaft erscheint. Weil man bei solchen Filmen tatsächlich das Übernatürliche dahinter als evident vermuten könnte. Regisseurin Mati Diop geht aber in ihrem augenscheinlichen, narrativ fast klassischen Liebesfilm noch einen Schritt weiter als nur filmische Seancen zu halten: Sie macht aus ihrem bezaubernd fotografierten, vom Staub der Straßen durchdrängten und gleichzeitig himmlisch funkelnden Kunstwerk eine Allegorie über den Ursprung einer Landesflucht, über den Beweggrund der Flüchtenden und das Ausmachen der Schuldigen. Wie Diop all diese verträumte, schlaftrunkene Symbolik zusammenmontiert, ist erstaunlich aufgeweckt, klug und mit viel Sympathie für ihre Figuren erzählt. Antlantique ist auch melancholisch, hat durchaus Suspense, lässt das Unbekannte aber nicht zwingend bedrohlich erscheinen. Dafür ist zu viel Liebe im Spiel, zu viel Sehnsucht. Atlantique ist unglaublich erfrischend, und das nicht nur aufgrund der Nähe zum Meer. Der Film setzt interessante, neue Impulse und wenn sich die beiden Liebenden in den Armen liegen, getaucht ins Licht einer Strandbar, dann ist das pure Filmpoesie von einem Kontinent, indem mehr das Sein als der Schein die konstante Devise ist.

Atlantique

Timbuktu

EINFACH NUR IN FRIEDEN LEBEN

7/10

 

timbuktu

REGIE: ABDERRAHMANE SISSAKO
MIT IBRAHIM AHMED DIT PINO, ABEL JAFRI, HICHEM YACOUBI

 

Zuerst sterben die alten Götter. Und dann kommen die neuen – oder auch nur der einzige, der wahre Gott. Wenn zu Beginn des mauretanischen Wüstendramas Timbuktu die hölzernen Skulpturen westafrikanischer Schutzgeister und Talismane im Kugelfeuer der Kalaschnikows zerfetzt werden, ist schon zu erahnen, welche dunkle Stunde für die Bevölkerung der Sahelzone geschlagen hat. Es ist die Stunde der Unterjochung. Der absoluten Unterdrückung im Gewand religiösen Fanatismus. Eine ideologische Missgeburt, erwachsen aus einer Weltreligion, die mit dem Glauben der weltweit lebenden Muslime genauso viel zu tun hat wie Hexenverbrennungen im Mittelalter mit der frohen Botschaft eines Jesus von Nazareth. Die islamistischen Invasoren, die zur revoltierenden Gruppe der Ansar Dine gehören, fallen mit ihren unmenschlichen Verbotsgesetzen und einer radikalen Auslegung des Koran in die Provinz Timbuktu im Norden Malis ein – was nicht nur im Film, sondern auch tatsächlich passiert ist. Irgendwie steht diese aus Tuaregs bestehenden, marodierenden Einheit in Verbindung mit der Al-Kaida des Maghreb – wohl eine der berüchtigtsten Terrorzellen Westafrikas. Von Ansar Dine selbst habe ich erst nach einigen Recherchen über Timbuktu erfahren. Ausgesprochen wird der Name im Film eigentlich nie, doch wenn man die aktuelle Geschichte Malis kennt, liegt klar auf der Hand, wer hier in Abderrahmane Sissako´s Tragödie für Unruhe sorgt.

Und ja, der Film ist eine Tragödie. Ein schmerzliches Stück afrikanisches Kino, das aktueller denn je und in staubtrockenen wie zermürbenden Bildern den Verlust von Frieden und Freiheit schildert. Vor allem ist es der Frieden und die Vielfalt Afrikas, die hier zu Tode gesteinigt werden. Tatsächlich spart Sissako nicht mit drastischen Bildern, die genau das visualisieren und jener barbarischen Schrecklichkeit mit nüchterner, fast dokumentarischer Sprache begegnen. Afrika ist nach wie vor in weiten Gebieten jener Kontinent, in dem sowohl das Archaische als auch das Faustrecht des Stärkeren dominieren. Gesetze, sofern es sie gibt, sind austauschbar. Niedergeschrieben zwar, irgendwo, aber unmöglich zu exekutieren. Unmöglich zu kontrollieren. Afrika wird in Timbuktu zum Niemandsland. Zum fremden Planeten eines scheinbaren Provinzfriedens, der durch Gewalt und Symbolen der Gewalt so schnell verblasen wird wie eine Zeichnung im Wüstensand. Wenn Macht greifbar wird, wird sie von dem ergriffen, der ihr am nächsten steht. Und wenn es nur eine Waffe ist – das Symbol der Unterdrückung schlechthin. Sissako meditiert zwischen resignativer Betrachtung des Alltags unter dem Terror der Islamisten und dem niederschmetternden Einzelschicksal einer Nomadenfamilie. Mittendrin eine geheimnisvolle Frau in bunten Gewändern. Sie ist das Herz Afrikas, eine Erscheinung, eine Metapher der Vielfalt und eine personifizierte Möglichkeit, was Afrika sein kann.

Mit Recht war Timbuktu für den Auslandsoscar 2016 nominiert. Weniger wegen seiner formellen, inszenatorischen Qualitäten, sondern mehr wegen seiner verzweifelten. bis auf die Knochen sezierten Diagnose aus einem Land des Vergessens. Das verhalten traurige, resignative Drama, in dem nichts seine Erfüllung findet und Hoffnung gänzlich fehlt, zeigt eine Welt im Argen und Menschen, die einfach nur in Frieden leben wollen. Kein zuversichtliches Filmvergnügen, dafür aber ein lohnender Blick, der den Horizont erweitert. Und den Grund zur Flucht aus dem eigenen Land vielleicht besser verstehen lässt.

Timbuktu

Untitled

REISE INS ICH

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Am 23. April 2014 verstarb der österreichische Filmemacher Michael Glawogger im westafrikanischen Land Liberia an Malaria. Er war gerade mal 57 Jahre alt. Jahrzehnte eines kreativen Lebens, in denen er vor allem durch seinen dokumentarischen Spürsinn und den speziellen Blick auf das große Ganze als ganz Großer des österreichischen Filmschaffens geschätzt wurde und wird. Mit seinen Werken setzte ich mich erstmals 1998 auseinander – mit die Kino-Doku Megacities. Eine hypnotische Odyssee tief ins Herz globaler Ballungszentren. Schon damals waren seine Bilder und die Art des Erzählens anders, als man es von sachkundigen Reportagen bislang gewohnt war, Denn das, was Glawogger uns mitteilen wollte, ging tiefer. Berührte die Frage nach dem Woher und Wohin des Menschseins auf lakonische, bittere, entfesselte Art und Weise. Die Weltreise, das gigantische neue Projekt des Visionärs, welches in erster Linie vom niemals ruhenden Umherwandern des getriebenen Wesens namens Mensch erzählen sollte, geriet wider Erwarten aller zu Glawoggers ureigener Passion, zum finalen Kreuzweg, zum letzten Gang. Kurz: zu einem filmischen Vermächtnis.

Bilder, Momentaufnahmen, Szenen menschlicher Mobilität. Die Sammlung an Filmmaterial, die während des ersten Teilstücks von Wien nach Liberia zusammengetragen wurde, hat Glawogger´s Regiekollegin Monika Willi nun zu einem zutiefst berührenden, unberechenbaren und nachdenklich stimmenden Weckruf des Geistes zusammengeschnitten. Entstanden ist dabei ein Meisterwerk der dokumentarischen Erzählkunst, das so weit von klassischem Infotainment entfernt ist wie Nacktschnecken von Star Wars. Untitled – das namenlose, bewusstseinsverändernde Wunderwerk – lässt das Kinopublikum in ihren eingefahrenen Sehgewohnheiten allein zurück und beschert vor allem jenen, die sich völlig erwartungslos und open-minded dem 100minütigen Experiment hingeben, völlig neue Erfahrungen.

Das liegt alleine schon daran, dass der Film keiner linearen Geschichte folgt. Das Aufeinanderfolgen der Szenen und textfreien Bildmeditationen gleicht einem scharfkantigen Mosaik, allerdings mit Bruchstücken, die nicht zueinanderpassen, sondern bewusst und vehement kontrastieren wollen. Monika Willi setzt Glawogger´s Bilder wie nicht mehr zuordenbare Scherben scheinbar willkürlich zueinander. In dieser Willkür aber, in dieser unstringenten und scheinbar zusammenhanglosen Unordnung steckt, viel tiefer als auf den ersten Blick erkennbar, eine Metamorphose der Wahrnehmung. Ein Bereitmachen auf den Rückblick auf ein Leben, ein Reflektieren des eigentlichen Sinns vom unentwegt bewegten Dasein. Untitled schenkt dem Zuseher etwas ganz Bestimmtes, nämlich eine Art Interaktivität. So wie ein abstraktes Gemälde jeden einzelnen Betrachter auf eine andere, sehr persönlich interpretierte Reise mitnehmen kann, so ist das namenlose Gebet der Bilder ein kryptisches Buch voller Zitate, Gleichnissen über das Leben und Gedanken über den Tod. Niedergeschrieben von Michael Glawogger, in einzelnen Szenen rezitiert von Birgit Minichmayer mit ihrer unverwechselbaren Theaterstimme. Zwischen den Sätzen bleibt ein Vakuum, das gefüllt werden will von eigenen Gedanken. Kaum ein anderer Film vermag es in solch einer Intensität, den Zuseher in ein Stimmungsgewitter zu katapultieren, dass minutenweise wechselt und durch dieses emotionale Stimulieren den Motor eigener Gedankengänge anwirft. Es ist eine Zwischenwelt zwischen Wachzustand und traumbeseeltem Schlaf. Ein Niemandsland zwischen Leben und Tod. Letzte Bilder, ein wehendes Hemd. Streunende Hunde. Menschen hinter den Fenstern. Einbeinige Fußballspieler. Esel im Staub. Und immer wieder rollende Karren, trottendes Vieh. Gehende Menschen, die scheinbar nirgendwo ankommen. Bilder, nach denen das Nichts kommt. Und eine Kamera, die sich hindurchzwängt zwischen Menschen, Tieren, baufälligen Gemäuern. Glawogger beschert uns mit seinem Gespür für die Essenz des menschlichen Miteinanders grandiose Aufnahmen, die Staub, Schweiß und Salzwasser berührt haben. Die, meist aus bodennahem Blickwinkel, die Monstrosität von Fremdartigkeit und Einsamkeit hervorkehren.

Mit seinen letzten Streifzügen über den Erdball schafft Glawogger posthum sein Opus Magnum, seinen besten Film, indem es von nichts zu handeln scheint und wo es gleichzeitig um alles geht. Das den gemeinsamen Nenner seiner Werkschau präsentiert. Einen Schlussstrich aus Neugier, Trauer, das Gefühl von Freiheit und Neuanfang. Untitled ist kein Film für Zwischendurch. Kein Experiment, aus dem man ungeschoren wieder davonkommt, so rätselhaft scheint seine Mechanik. Es ist ein Erlebnis, für das man bereit sein muss. Ein unberechenbares Philosophikum, das sich jedem Genre entzieht. Dem sich sein Betrachter aber nicht entziehen kann.

 

Untitled