Amrum (2025)

FÜR EINE HANDVOLL HONIG

8/10


© 2025 Warner Bros. / mathiasbothor.com


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2025

REGIE: FATIH AKIN

DREHBUCH: FATIH AKIN, HARK BOHM, NACH DESSEN ERINNERUNGEN

KAMERA: KARL WALTER LINDENLAUB

CAST: JASPER BILLERBECK, KIAN KÖPPKE, LAURA TONKE, DIANE KRUGER, DETLEV BUCK, LISA SAGMEISTER, STEFFEN WINK, LARS JESSEN, TONY CAN, MAREK HARLOFF, DIRK BÖHLING, JAN GEORG SCHÜTTE, MATTHIAS SCHWEIGHÖFER U. A.

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Erst vor wenigen Tagen verstarb Hark Hermann Bohm im Alter von 86 Jahren. Ich muss gestehen: bevor Fatih Akin mit seinem neuen Film über die Kindheit desselbigen in den Kinos startete, konnte ich diesen Namen nur relativ ungenau zuordnen. Mittlerweile habe ich auch diese Wissenslücke in Sachen deutscher Filmgeschichte geschlossen: Das Allroundgenie war nicht nur Filmemacher mit der dichtesten Schaffensperiode in den Siebzigern, sondern auch Schauspieler seit den Sechzigern (unter anderem bei Rainer Werner Fassbinder) und später Drehbuchautor für Fatih Akins Werke Tschick oder Aus dem Nichts. Sein wohl bekanntester Film: Nordsee ist Mordsee. Gut, wieder was dazugelernt. Und was wir bei Amrum noch dazulernen, ist, wie es sich als Kind angefühlt hat, das Ende des Zweiten Weltkriegs mitsamt seiner Nazi-Despotie nur peripher, aber vor allem im Spiegel der Eltern, mitzuerleben.

Krieg und Frieden durch Kinderaugen

Dieser Dreikäsehoch war Hark Bohm, da haben wir ihn wieder, und er hätte wohl selbst diesen Film über sich selbst inszeniert, hätte er nicht angesichts seines fortgeschrittenen Alters klein beigeben müssen. Fatih Akin, Bohms guter Freund, hat sich dieser Sache angenommen und selbst Regie geführt, im Beisein Bohms und nach dessen Drehbuch. denn niemand sonst hätte all diese Details im Kopf gehabt, um einen Umbruch zu beschreiben, der mit Magie, Neugier, Tradition und kindlichem Pragmatismus so sehr einhergeht, dass man glauben könnte, die gute Christine Nöstlinger, die mit Maikäfer flieg! ähnliche Erinnerungen zu Papier gebracht hat, ließe sich von einem wie Taika Waititi inszenieren, auf dessen Kappe das wiederum ganz andere, aber von der Tonalität her durchaus verwandte Meisterwerk Jojo Rabbit geht.

Die Erwachsenen verstehen lernen

Amrum reiht sich in diese verspielten, allerdings ernsthaften, aber niemals im Kummer endenden Betrachtungen auf Augenhöhe junger Heranwachsender so nahtlos ein, dass man diesen hier als inoffizielle Themenfortsetzung von Waikiki und Nöstlinger betrachten könnte, nur eben mit dem inseldeutschen Kolorit jener Menschen, die tagein tagaus mit dem Salz, den Wellen, dem Sand und den Gezeiten leben, die sich mitunter im friesischen Dialekt namens Öömrang unterhalten und eine lakonische Zähigkeit und Resilienz an den Tag legen, dass es zum gestandenen menschelnden Erlebnis wird. Allerdings haben nicht alle ihren stolzen Überlebenswillen hier draußen auf der friesischen Insel – Nannings Mutter hat ihn nicht. Die war Zeit ihres Lebens davon überzeugt, dass Adolf Hitler stets das richtige getan hat. Und als dann das Ende des Krieges und das Ende des Diktators kam, brach für die gute Frau (gespielt von Laura Tonke) eine Welt zusammen. Wie denn den Kummer der Erwachsenen tilgen, fragt sich der kleine Nanning (so Bohms Alter Ego), und findet letztlich die Konklusio, dass nur ein Weißbrot mit Butter und Honig wieder ein Lächeln auf die Lippen von Mama zaubern könnte. So stürzt er sich ins Abenteuer, um das zu beschaffen, was in Zeiten wie diesen rarer nicht sein kann. Vom Bäcker geht’s zum reichen Onkel, von dem zur Imkerin, querfeldein, über Wege, über Äcker und durchs Inseldorf mit dem prägnanten Kirchturm. Der Vater als Obersturmbannführer weit weg im Krieg, der Onkel (Matthias Schweighöfer) in Amerika die Illusion einer besseren Welt. Das Glück der Mutter das Ziel aller Bestrebungen.

Planet Amrum

Fatih Akin ist auch nicht unbedingt einer, der nur ein Thema kann. Vom leichten Sommerroadmovie Im Juli geht’s bis zum verstörenden Serienkillerhorror Der goldene Handschuh, dazwischen fährt Sebil Kekili Gegen die Wand und wird Diane Kruger zum Racheengel. Akin verliert sich dabei aber nie in klebriger Schwermut, sondern hält seine Arbeiten stets in Bewegung, damit sie Raum zum Atmen haben. Frische Luft tanken alle seine Filme, und ganz besonders Amrum. Für diese tiefe Verbeugung vor seinem Mentor, Lehrer und Freund schuf der Filmemacher ein faszinierend unbekümmertes und zugleich berührendes und die Geschichte niemals ignorierendes Abenteuer eines kindlichen Reifungsprozesses von verträumter Weltanschauung bis zur ergriffenen Initiative, bis zum Projekt des Überlebens und der Nächstenliebe. Amrums Charaktere sind jeder für sich unverkennbare Figuren, wettergegerbte Fischer; aufmüpfige, aber herzensgute Bauern, nach vorne blickende Überlebenskünstlerinnen und künstler, die den Krieg als eine Erscheinung erkennen, die ein Weitermachen niemals in Frage stellen würde – auch wenn es bedeutet, alles hinter sich zu lassen. In diesem Spannungsfeld läuft der ungestüme Jasper Billerbeck durch eine denkwürdige Zeitenwende, um für eine Handvoll Honig sein eigenes, liebevoll ausgestaltetes und weniger dämonisches Pans Labyrinth zu schaffen, voller Proben aufs Exempel, Erfahrungen und Weisheiten fürs Leben, die sich erstmal nicht als solche offenbaren.

Erinnerungen als Grundstein des Ichs

Amrum ist ein Werk voll Leichtigkeit und Schwere zugleich, verpackt in rustikalen, wunderschönen Bildern eines rauen, aber ehrlichen Fleckens Sand, Schlamm und Erde. Tragikomisch wäre aber fast zu einfach, viel mehr ist die Improvisationsgabe eine aufgeweckten jungen Geistes, der so gut wie alles mit anderen Augen sieht, so erfrischend, als wäre Nostalgie und Erinnerung essentiell dafür, nach vorne zu blicken, zuversichtlich, egal was kommt. In diesem Fall auf ein schillerndes (erfülltes) Leben wie das des Hark Bohm.

Amrum (2025)

Blue Moon (2025)

THOSE WERE THE DAYS, MY FRIEND

8,5/10


© 2025 Sony Pictures Classic


LAND / JAHR: USA, IRLAND 2025

REGIE: RICHARD LINKLATER

DREHBUCH: ROBERT KAPLOW

KAMERA: SHANE F. KELLY

CAST: ETHAN HAWKE, MARGARET QUALLEY, BOBBY CANNAVALE, ANDREW SCOTT, PATRICK KENNEDY, JONAH LEES, DIMON DELANEY, JOHN DORAN, CILLIAN SULLIVAN U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Aus der zweiten Reihe

Es ist der Anfang vom Ende eines glorreichen Höhenflugs, der allerdings schon seit geraumer Zeit mit gröberen Luftlöchern zu kämpfen hat: Die Rede ist vom schwindenden Ruhm eines kreativen Tausendsassas und Naturtalents namens Lorenz Hart, New Yorker Liedermacher und Songwriter, der sich wohl die Hände vors Gesicht schlagen würde, hätte er mitbekommen, dass Richard Linklater sein ihm gewidmetes biografisches Drama mit Blue Moon betitelt – so, als wäre seine ganze Karriere nur das Phänomen eines One Hit Wonders, und nicht einer beflügelten, ruhmreichen Schaffensperiode, die er mit seinem besten Freund und Komponisten Richard Rodgers über mehrere Jahrzehnte halten hat können. Doch dann die Sache mit dem Alkohol – die ließ ihn mehr oder weniger unzuverlässig und unberechenbar erscheinen, Rodgers muss sich letztlich von seinem Buddy abnabeln, muss sich woandershin wenden, und zwar in Richtung Oscar Hammerstein, seines Zeichens ebenfalls Liedermacher und ein Dorn im Auge des kleinen Mannes mit schütterem Haar und überspieltem Kummer, der ihn spätestens dann einholt, als Rodgers mit dem Musical Oklahoma! seinen größten Triumph feiert. Natürlich ohne ihn, ohne Lorenz Hart, der muss aus der zweiten Reihe zusehen, wie er übervorteilt, ausgebootet und letztlich, um es drastisch auszudrücken, verraten wird. Doch was hat er selbst dazu beigetragen, das diese ganze Niederlage so weit hat kommen müssen?

Linklaters Film beginnt mit den aus dem Off eingesprochenen Schlagzeilen über den Tod eines großen Künstlers, der nach einer kurzen Periode der Abstinenz letztlich wieder zur Flasche griff, in der Gosse landete und an einer Lungenentzündung starb, viel zu früh, mit 48 Jahren. Dann der Rückblick – wir sehen den kleinen, sensiblen, verzweifelten und sich selbst alles schönredenden Mann, wie er die Premiere dieses verhassten Singspiels verlässt, um im New Yorker Restaurant Sardi’s auf das Eintreffen des Premierenpublikums zu warten, mitsamt seines Freundes Rodgers und all der Blamage und Selbsterniedrigung, sollte er sich dazu überwinden können, jenen seinen Respekt zu zollen, die ihn links liegen ließen.

Lorenz Hart, der Wunderknabe

So sitzt er nun an der Bar, fast schon therapeutisch betreut von Barkeeper Bobby Cannavale, der, gläserschrubbend, wie es diese Sorte Zuhörer immer schon getan hat und bis in alle Ewigkeit tun wird, dem schwermütigen Vielredner ein offenes Ohr schenkt. Und viel reden, das kann er, dieser Lorenz Hart, und es wäre vielleicht gepflegte Langeweile, einem Mann zuzuhören, den man bislang überhaupt nicht am Schirm hatte und der einem auch gar nicht tangiert, wäre es eben nicht dieser zwar nicht mit den Maßen des Adonis gesegnete, aber mitreißende männliche Charakter gewesen, der, sehnlichst suchend nach Bestätigung, die Klasse von einst, die er hatte, als unaufgefordertes Da Capo wiedergibt. Dieser Lorenz Hart, ein Wunderknabe. Und ein Wunderknabe auch, der sich dazu entschlossen hat, diesem tief gefallenen Genius ein Gesicht, eine Stimme, seinen Manierismus zu geben. Wer hätte gedacht, dass Ethan Hawke diese Figur so meisterlich ins Leben zurückrufen kann, mit all seinem Charisma, seinen Illusionen und seiner eloquenten Erzählkunst? Zeit seines Lebens soll Hart mit seiner homosexuellen Neigung zu kämpfen gehabt haben, letztlich aber lässt ihn Linklater eine ganz bestimmte weibliche Person anschmachten, und zwar vielleicht weniger sexuell als viel mehr so hingebungsvoll, als würde es sich um ein sphärisches, engelsgleiches Kunstwerk handeln. Elizabeth Weiland heisst die bildschöne junge Dame, hinreißend dargeboten von Margaret Qualley, die den kleinen, genialen Lorenz Hart ins Herz geschlossen hat – allerdings auf eine Art, die diesen womöglich nicht erfüllt.

Späte Paraderolle für einen Star

Blue Moon wird zu einer Sternstunde der gegenwärtigen Schauspielkunst. Autor Robert Kaplow hat ein so geschliffenes Sprachstück aus dem Ärmel geschüttelt, ohne Zwang und Krampf und bemühter Virtuosität, dass man völlig die Zeit vergisst. Gesprochen und interpretiert wird dies von Hawke mit einer Leidenschaft und einer Hingabe, dass man gut und gerne auf die Knie fallen würde, fast so wie in der Kirche, schließlich ist diese später auch wieder trinkfreudige Predigt eines Unverbesserlichen die zu Herzen gehendste, die man jemals wohl gehört hat. Zwischen Hoffnung, Aufbruchsstimmung, Abgesang und wehmütigem Rückblick tischt Hawke die inbrünstig gefühlte Rekapitulation eines ganzen Lebens auf, reflektiert durch Menschen an seiner Seite wie den von Andrew Scott so liebevoll und doch distanziert verkörperten Richard Rodgers. Auch hier bricht ich das Gefühl einer enttäuschten Freundschaft Bahn, deren gemeinsamer Lebensabschnitt zwar sehr viel wiegt, die Zeiten aber nichts daran ändern können, das alles, und vorallem in der Kunst und im Showbiz, sein Ende finden muss.

So gehet hin und habt Erfolg

So steht er da, der kleine, gebrochene, aber stolze und niemals im Selbstmitleid versinkende Mann, und unsereins würde ihn umarmen wollen, mit ihm einen trinken gehen, auch wenn man gar nichts trinkt. Ihm Zuhören und seine Lieder spielen, sofern man die Klaviatur eines Tasteninstruments versteht. Man würde sogar anfangen, diese Kunst zu erlernen, nur um diesen Lorenz Hart noch länger reden und vielleicht gar singen zu hören. Währenddessen schrubbt Cannavale die Gläser, geben ihn Gefährten die Ehre, tun so, als wäre alles gut, und holen sich tatsächlich noch Inspiration für das eigene kreative Schaffen. Denn wenn man genau hinhört und hinsieht, ist die Sache mit Stuart, der Maus, eine, die ganz woanders weitere Kreise ziehen wird.

Linklaters Geniestreich eines Kammerspiels schreit nach einer Academy Award Trophäe für einen vielgestaltigen Schauspiel-Kapazunders wie Hawke längst einer ist. Mit dieser Rolle übertrumpft er alles, was er bisher geleistet hat. Und das ist nicht wenig.

Blue Moon (2025)

Oxana – Mein Leben für Freiheit (2024)

OBEN OHNE GEGEN PUTIN

5/10


© 2024 X Verleih AG


LAND / JAHR: FRANKREICH, UKRAINE, UNGARN 2024

REGIE: CHARLÈNE FAVIER

DREHBUCH: DIANE BRASSEUR, CHARLÈNE FAVIER, ANTOINE LACOMBLEZ

KAMERA: ERIC DUMONT

CAST: ALBINA KORZH, MARYNA KOSHKINA, LADA KOROVAI, OKSANA ZHDANOVA, YOANN ZIMMER, NOÉE ABITA, MARIIA KOKSHAIKINA, OLESYA OSTROVSKA U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Das Kino nimmt nicht nur zeitgemäße, sondern auch längst überfällige Agenden ernst. Und keine davon erfährt derzeit mehr Unterstützung quer durch alle Genres wie jene, die zum Ziel hat, die Frau dem Mann endlich gleichzustellen. Das beginnt stets immer damit, erstmal darüber zu berichten, was alles jahrhunderte- und jahrzehntelang im Argen lag. Das beginnt bei historischen Werken wie dem italienischen Familienepos Vermiglio und reicht mit Arbeiten wie Wunderschöner proaktiv und zukunftsweisend bis in die direkte Gegenwart, die gar keine Gegenwart mehr sein will, sondern eine zuversichtliche Zukunft, in der vieles längst besser gemacht und so manch diskriminierender Gap fast schon überwunden scheint. Weil alle zusammenhalten, alle Frauen, und vielleicht auch ein paar Männer.

Dazwischen gibt es biographische Werke wie Oxana – Mein Leben für Freiheit. Deutschsprachige Titel-Anhängsel wie diese sind meist zu generisch, um wirklich mehr Aufschluss darüber zu geben, worum es in diesen Filmen eigentlich geht. Für ein Publikum, das sich schon seit jeher interessiert und aufgeschlossen hinsichtlich feministischer Bestrebungen gezeigt hat, braucht es das nicht, da reicht der Name Oksana Schatschko und der Überbegriff Femen, um zu wissen, welche gesellschaftspolitische Wissenslücke hier geschlossen werden kann. Bei Femen weiß man vielleicht noch so ungefähr, dass hier Aktivistinnen mit textilfreier Oberweite konservativen Apparatschniks das Leben schwer gemacht hatten, natürlich gewaltfrei und bereit dafür, selbst Gewalt zu erleiden, denn abgeführt wurden sie immer. Dann aber war das Ziel bereits erreicht – europäische Medien und auch jene darüber hinaus hatten, was sie brauchten. Femen wurde weltbekannt, der Finger lag in den offenen Wunden, die Saat zum Aufstand war ausgebracht. Hinter all diesen Bemühungen, Entbehrungen und offener Rebellion stand Oksana Schatschko als Gründungsmitglied einer Initiative, die das Zeug hatte, starre patriarchale Krusten aufzubrechen.

Ihr schenkt Regisseurin Charlène Favier ein filmisches Denkmal, chronologisch geordnet und gleichsam auch wieder nicht, denn was wiegt schon schwerer als das Datum des freiwillig herbeigeführten Todes? Dabei präsentiert sich Oksana nicht als Opfer für den guten Zweck, nicht als Märtyrerin oder gar moderne Heilige, die bis zur letzten Sekunde für die gute Sache kämpft. Favier stellt die junge Ukrainerin, die sich mit 31 Jahren das Leben nahm, vorallem als Künstlerin dar, die mit der Eigendynamik ihrer mitersonnenen aktivistischen Idee letztlich nicht klarkommen konnte.

Als Künstlerin oder Künstler ist man vorrangig mit sich selbst beschäftigt, der Geltungsdrang und die Selbstbestätigung durch die Bewunderung anderer ist die Ernte, die man einfahren will. Da geht es weniger um die Sache an sich als um das Ego, das im Mittelpunkt bleiben will. Seltsamerweise hätte, zumindest laut Film, Oksana dank ihrer virtuosen Darstellung provokanter Ikonen nur durch offene Türen treten müssen, um nochmal ganz groß durchzustarten – das Problem aber lag offensichtlich woanders. Eine Dunkelheit, die Favier scheinbar ausspart und nicht näher ergründen will. Somit bleibt Oxana – Mein Leben für Freiheit sehr an der Oberfläche, scheint fast schon Furcht davor zu haben, das Kind beim Namen zu nennen. Viel anderes muss hier in diesem Leben schiefgelaufen sein, doch das Psychodrama bleibt außen vor. Als Biografie, die sich in den letzten Lebenstag des 23. Juli 2018 einbettet, bleibt Oxana – Mein Leben für Freiheit konventionell und routiniert. Die Ukrainerin Albina Korzh gibt der Femen-Ikone ein hübsches Gesicht, doch das ist auch schon alles. Bewegend mögen, wie so oft in Biografien, die Fakten sein, der Bezug zur jüngeren Geschichte Europas, die in einer Dokumentation aber genauso zu finden sind.

Oxana – Mein Leben für Freiheit (2024)

Leonora im Morgenlicht (2024)

DA LACHEN DIE HYÄNEN

6/10


© 2024 Alamode Film

ORIGINALTITEL: LEONORA IN THE MORNING LIGHT

LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, MEXIKO, RUMÄNIEN, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2024

REGIE / DREHBUCH: THORSTEN KLEIN, LENA VURMA 

KAMERA: TUDOR VLADIMIR PANDURU

CAST: OLIVIA VINALL, ALEXANDER SCHEER, RYAN GAGE, LUIS GERARDO MÉNDEZ, ISTVÁN TÉGLÁS, CASSANDRA CIANGHEROTTI, DENIS EYRIEY, WREN STEMBRIDGE U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Warum Leonora Carrington bisher so sang- und klanglos an mir, der in Sachen Kunstgeschichte durchaus seine Hausaufgaben gemacht hat, vorübergegangen ist, lässt sich nicht erklären. Carrington schuf schließlich Kunst, die sich zwischen der nordischen Renaissance eines Hieronymus Bosch und den progressiven Formen eines Marc Chagall widerfindet. Die schließlich auch mit den Mythen Mittelamerikas kokettierte und so einiges aus dieser alten Kultur in ihre Werke hat einfließen lassen. Bemerkenswert sind ihre Arbeiten aus jener Zeit, in der sie mit dem deutschen Surrealisten Max Ernst liiert war, der wiederum in den Dunstkreis von André Breton agierte, selbstredend in Paris, denn dort trafen sich stets alle, die sich Künstler nennen durften, da sie auch schon Renommee genug hatten, um sich in Szene zu setzen. Carrington war da auch mit dabei, als von allen vergötterte Muse. Selbst hat sie sich nicht so gesehen. Sondern Zeit ihres Lebens wohl eher als Tier empfunden, insbesondere als Pferd. Als Kind wollte sie schon die Hufe schwingen, doch ihr gestrenger, erzkonservativer Vater hat das unterbunden. So viel zur Freiheit der Entwicklung im Elternhaus nach der Jahrhundertwende.

Was da an Murks einem späteren Leben mitgegeben wurde, lässt sich längst nicht auf nur eine Leinwand pinseln. Sind deshalb so auffallend viele Künstlerseelen gleichzeitig auch gebrochene? Van Gogh, Alfred Kubin, Niki de Saint Phalle, Leonora Carrington – eine kleine Auswahl nur unter all jenen, die ihre eigene Weltsicht einem psychosozialen Defizit zu verdanken haben, das sie nicht selten in die geschlossene Anstalt brachte. So auch Leonora. Worunter sie genau litt, ist nicht so ganz klar. Schizoides Verhalten oder doch „nur“ ein Nervenzusammenbruch aufgrund der plötzlichen Trennung von Max Ernst, der kurz vor dem Einmarsch der Nazis in Frankreich als verdächtiger Deutscher verhaftet wurde? Laut vorliegendem Film hat Leonora ihren Lebensmenschen nie wieder gesehen. Ob das nicht genau der Trigger war, um verschüttete Traumata aus der Kindheit hochkochen zu lassen?

Üppiger Film, schwerer Zugang

Thorsten Klein und Lena Vurma schenken diesem psychologischen Wendepunkt ihre meiste Aufmerksamkeit, finden aber genauso schwer ihren Weg in den Kopf einer Surrealistin wie meine Wenigkeit in den Film. Viel, sehr viel Geduld ist ratsam, wenn man Leonora Carrington nahekommen will. Spät, fast schon zu spät, knackt das Regie-Duo die holzige Nuss einer biografischen Skizze, die sich genauso wenig formen und beherrschen lassen will wie die dargestellte Künstlerin kurz vor ihrer Elektroschock-Therapie, die damals gang und gäbe war und von der man nicht wirklich sagen kann, sie hätte einen medizinischen Nutzen gehabt. Mit Olivia Vinall, die ich erstmals auf dem Schirm habe, und Alexander Scheer (enttäuschend unbeteiligt) fügen sich zwei Darsteller in ein formelhaftes Konzept biografischer Szenen, ohne aus ihrer Zweidimensionalität hervorzutreten. Weder Max Ernst noch Leonora selbst werden erfahrbar – je länger der Film läuft, desto weiter distanzieren sie sich. Einnehmend interessant kann man beide nicht nennen, wohl eher introvertiert. In ihrer elitären Künsterblase hockend, wollen sie nichts davon wissen, in einem Film zu spielen, der kunstgeschichtliche Lücken füllt. Und dann erhasche ich einen Blick auf ein Werk Carringtons, alleine ihre Bilder wecken mein Interesse. Und dann das: Die Wende, vor allem erzählerisch. Die Szene, in der Carrington in einen verschlossenen Raum der Heilanstalt vordringt, gleichzusetzen mit einer Reise in ihr Unterbewusstsein, sprengt endlich die Grenzen zwischen drögem, chronologischem Vortragskino und surreal anmutendem Psychodrama. Die Nuss ist geknackt, die Hyäne lacht, begleitet von Buschtrommeln. Der üppige mexikanische Regenwald, inmitten Vinalls verlorene und wiedergefundene Figur, lässt nun, in der letzten halben Stunde, die Kreativität fließen.

Ich kann Leonora im Morgenlicht wohl nicht als perfekten Film bezeichnen – zu viel geht anfangs schief. Und dennoch bleiben die Leinwände nicht weiß, die Künstlerin namens Carrington nicht unbekannt. Unsereins lotst sie am Ende in ein ungelenk präsentiertes, aber neugierig machendes Euvre einer viel zu unbekannten Individualistin.

Leonora im Morgenlicht (2024)

Niki de Saint Phalle (2024)

KÜNSTLER:NNEN SIND (AUCH) NUR MENSCHEN
7/10


© 2024 Neue Visionen


ORIGINALTITEL: NIKI

LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2024

REGIE: CÉLINE SALLETTE

DREHBUCH: CÉLINE SALLETTE, SAMUEL DOUX

CAST: CHARLOTTE LE BON, JOHN ROBINSON, DAMIEN BONNARD, JUDITH CHEMLA, ALAIN FROMAGER, QUENTIN DOLMAIRE, JOHN FOU, NORA ARNEZEDER U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es eine gute Entscheidung war, all die Kunstwerke von Niki de Saint Phalle, vormals Matthews, nicht zu zeigen. Den Beweggrund dahinter kann man dennoch gut verstehen: Es soll der Mensch sein, den Céline Sallette in den Fokus rückt, und zwar in den ausschließlichen und unverrückbaren Fokus, und sie will nicht ablenken von den Formen und Farben, mit denen die Künstlerin schon vor ihrem großen Durchbruch experimentiert hat. Niki de Saint Phalle, und diesmal meine ich den Film, will als psychologisch durchdachtes Portrait jene Mechanismen erörtern, die dazu führen, das eigene Leiden und die eigene Katharsis auf kreativ-schaffende Weise therapiert zu wissen. Dabei geht es nur um das menschliche Verhalten, nicht um das Schaffen. Vielleicht mitunter um den kreativen Prozess, doch wir als Publikum haben nur einen Blickwinkel auf die Sache: Jenen des Werkes selbst. Man könnte sagen: Wir selbst reflektieren Niki de Saint Phalles Belange, denn nicht nur einmal blickt sie selbst und alle anderen, die ihr Werk bestaunen, aus dem Film hinaus ins dunkle Auditorium, dabei sprengen sie nicht die vierte Wand, sondern bleiben ihrer Zeit verhaftet. So viel Experiment wagt Sallette dann doch nicht.

Während in vielen anderen Künstlerbiografien das Schaffen und das Geschaffene sehr stark im Vordergrund stehen, um die innere Welt der Beschriebenen zu widerspiegeln, muss Schauspielerin Charlotte Le Bon sich selbst und uns in der Imagination verweilen lassen. Die abstrakte Psyche kann sich nicht manifestieren, und glücklich jene, die kunstgeschichtlich betrachtet längst wissen, was Niki de Saint Phalle Zeit ihres Lebens geschaffen hat. Jene, die es nicht wissen, bleiben im Hintertreffen. Es fehlt ihnen der starke, expressive Ausdruck. Während ich diese Review verfasse, tendiere ich dazu, den Verzicht auf die Darstellung von Saint Phalles inneren Welten einerseits als mutigen Kniff, aber andererseits als Defizit zu betrachten. Was letztlich bleibt, ist das Psychodrama eines missbrauchten Menschen, der unter posttraumatischen Belastungsstörungen leidet und dabei längst nicht als eine Person dargestellt werden will, die sich über alle anderen erhebt, die ähnliches erlitten haben – ganz ohne kreative Exposition. Saint Phalle wird andererseits greifbarer, ihre Kunst kann nicht bewertet werden, nur ihr Zugang, ihr Wille, ihre Bereitschaft, sich selbst aus dem Dunkel des Traumas zu befreien.

Das tut sie auch, und wir sehen ihr einen Spielfilm lang, der sich stark und leidenschaftlich auf seinen einzigen bekannt-unbekannten Charakter konzentriert, aufmerksam zu. Das kann, wäre die Akteurin dahinter nicht aufopfernd genug bei der Sache, zur langweilig-konventionellen Chronik werden. Ein Film wie dieser muss sich glücklich schätzen, mit purer Performance zu fesseln – da ihm alles andere weitestgehend entzogen wird. Charlotte Le Bon, die mit ihrem Regiedebüt Falcon Lake zumindest mich schwer beeindruckt hat, läuft auch hier zur Höchstform auf. Abgesehen davon, dass sie ihrem historischen Vorbild verblüffend ähnlich sieht, ist ihr ambivalentes, impulsives und scheinbar improvisiertes Spiel mitreißend genug, um in den Momenten, wo sie gerade nicht die Leinwand beherrscht, sehnsüchtig darauf zu warten, dass sie wiederkehrt. Le Bon dominiert den Film, sie zittert, sie schreit, sie tobt, sie sprüht vor Enthusiasmus, gibt sich dem Drang hin, auszubrechen. Sallette beschreibt den Weg zur inneren Erlösung, der im Kick Off zu Niki de Saint Phalle, zur großen Künstlerin, gipfelt, in nachvollziehbaren, balancierten Schritten.

Auch wenn man gerne hinter die Leinwand schlüpfen würde, um mit den Augen Le Bons diese ganze farbenfrohe Kunst zu betrachten – vielleicht ist es gut, diesen Impuls zu unterdrücken. Denn so lenkt nichts ab von dieser inneren Katharsis, die zum Triumph führt. Die Kunst bleibt subjektive Imagination, und ist interpretierbar durch jeden, der in der Kreativität sein Seelenheil findet.

Niki de Saint Phalle (2024)

Maria (2024)

DIE DIVA HINTER DER DIVA

5/10


© 2024 STUDIOCANAL GmbH / Pablo Larraín


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, ITALIEN, USA 2024

REGIE: PABLO LARRAÍN

DREHBUCH: STEVEN KNIGHT

CAST: ANGELINA JOLIE, PIERFRANCESCO FAVINO, ALBA ROHRWACHER, KODI SMIT-MCPHEE, HALUK BILGINER, STEPHEN ASHFIELD, VALERIA GOLINO, VINCENT MACAIGNE, ALESSANDRO BRESSANELLO U. A.

LÄNGE: 2 STD 4 MIN


Im Abspann des biographisch angehauchten Spät-Portraits Maria zeigt Pablo Larrain zahlreiche kurze Videosequenzen, auf welchen die echte Maria Callas zu sehen ist. Ich stelle fest: So divenhaft wirkt sie gar nicht. Gut, die schicke Kleidung, das perfekt frisierte Haar, die Entourage, die sie umgibt, zeugt davon, wie angesehen die Dame wohl gewesen sein muss. An ihrer Seite der steinreiche Reeder Onassis, doch sie selbst, La Callas eben, gibt sich locker, auffallend natürlich, augenzwinkernd, menschlich. Sagen so wenige Szenen mehr über eine Person aus als es der ganze Film, in welchem die Filmdiva schlechthin, nämlich Angelina Jolie, so tut, als wäre sie Angelina Jolie, die wiederum so tut, als wäre sie Maria Callas?

Nach Spencer hat der Chilene Pablo Larraín abermals den Skriptschreiber Steven Knight dazu beauftragt, der bedeutenden Sopranistin eine biographische Stimme zu geben – allerdings mit der Tendenz in Richtung eines zwischen Realität und Imagination changierendes Psychodrama und subjektives Portrait, eingefasst in einen Zeitrahmen von einer Woche, nämlich der letzten Lebenswoche einer viel zu früh verstorbenen, die, so wie es dem Film nach scheint, sowieso nichts mehr zu verlieren gehabt hätte nach dem Verlust ihres hallenfüllenden, kräftigen Organs und der Bewunderung, von der manche Stars leben können, als wäre es das Nahrhafteste auf der Welt. Die finalen Tage gestalten sich entsprechend ereignislos, das vermittelt auch der Film. Um als Zuseher nicht in den Standby-Modus abzugleiten, bereichern Larrain und Knight ihre Hommage mit der allgegenwärtigen, fleischgewordenen Präsenz eines Rauschmittels, genannt Mandrax, das angeblich gegen Angststörungen und Schlaflosigkeit helfen soll. Süchtig wird man davon allemal, in Afrika nimmt man das Zeug immer noch ein, Ende der Siebziger genügt es Maria Calls immerhin noch, um einen imaginären Interviewer auferstehen zu lassen, in diesem Fall Kodi Smit-McPhee, der die in edle Gewänder gehüllte Dame auf ihren Spaziergängen begleitet, nur nicht in die Pariser Oper, denn dort sitzt Jeffrey Tate, einst Assistent von Karajan und Chefdirigent überall auf der Welt. Er unterstützt die Diva dabei, ihre Stimme wiederzufinden – letztendlich leider vergebens, obwohl Haushälterin Bruna (Alba Rohrwacher, La Chimera) stets ganz anderes Feedback gibt. Die herzensgute Seele in den Gemächern der Künstlerin sieht ihre Komplimente als Balsam für Marias enttäuschtes Gemüt, ihr zur Seite steht der Diener Ferruccio, sowieso Mädchen für alles, geplagt von Rückenschmerzen und willig, selbst die absurdesten Wünsche der gottgleichen Dame zu erfüllen.

Bruna und Ferruccio – welchen unorthodoxen Blickwinkel hätte der Film nur gewonnen, hätte Larraín diese beiden devoten, fast schon engelsgleichen und geerdeten Personen, die nichts anderes im Sinn haben als das Gutgemeinte, ins Zentrum des Geschehens gerückt. Schließlich ist es so, dass Rohrwacher und der wunderbare Pierfrancesco Favino (u. a. Il Traditore, Adagio) bisweilen faszinierender, greifbarer und interessanter wirken als der zentrale Star dieses reich bebilderten Essays: Angelina Jolie. Keine Ahnung wann das passiert ist, zumindest war das zu ihrer Paraderolle als Psychiatrie-Insassin in Girl, Interrupted noch nicht der Fall, dass La Jolie begonnen hat, so zu tun, als wäre sie die gefragteste Schauspielerin auf diesem Planeten, um sich ein Verhalten anzueignen, dass sich in vielen anderen ihrer Filme nicht anders ausdrückt als eben hier, in diesem Diven-Abgesang. Gestelzt, abgehoben, über allen Dingen schwebend, unnahbar und fassadenhaft, natürlich makellos schön und voll der Ausstrahlung. Nur diese Strahlen schillern nicht, es ist ein gleichmäßiges Licht, das Jolie verbreitet. Und es ermüdet.

Auch wenn sie noch so versucht, sich in diesem vermuteten Schmerz hinzugeben, den Maria Callas gehabt haben könnte – man kommt dem Wesen dieser Person nicht näher, man betrachtet lediglich Bilder von ihr und erhält als einzige aufschlussreiche Information jene, dass Angelina Jolie in allen möglichen Kostümen, in auf die Farben der Siebziger gefilterten Bildsequenzen oder in Schwarzweiß, in gefakten Archivaufnahmen, als Anne Boleyn oder Turandot, immer Angelina Jolie bleibt, die unbedingt in eine Rolle schlüpfen will, die ihre eigene Divenhaftigkeit verbergen soll, um als ganz andere Diva zu erscheinen. Es gelingt ihr nicht. Und es gelingt dem Film an sich auch nicht, aufgrund dessen diesem Mysterium Callas näherzukommen – zu fragmentarisch ist dieses prächtige Requiem, und vielleicht auch zu selbstverliebt. Die Diva lässt sich auch in Pablo Larraín finden.

Maria (2024)

Die Fotografin (2023)

DAS MODEL IN HITLERS BADEWANNE

6/10


diefotografin© 2024 Constantin Filmverleih


ORIGINALTITEL: LEE

LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: ELLEN KURAS

DREHBUCH: LEM DOBBS, LIZ HANNAH, JOHN COLLEE & MARION HUME

CAST: KATE WINSLET, ANDY SAMBERG, ALEXANDER SKARSGÅRD, MARION COTILLARD, JOSH O’CONNOR, ANDREA RISEBOROUGH, NOÉMIE MERLANT, VINCENT COLOMBE, SAMUEL BARNETT, ZITA HANROT U. A.

LÄNGE: 1 STD 56 MIN


Als Charakterdarstellerin und als jemand, der biografischen Figuren Seele verleiht, ist Kate Winslet wohl nach wie vor und ungebrochen an der Spitze weiblicher Schauspielgrößen vorzufinden, die ihren Charakteren wie aus dem Ärmel geschüttelt eine ganze Biografie verleihen, ohne sie darstellen zu müssen. Da reichen Auszüge im Rahmen eines zweistündigen Dramas, die wissen lassen, dass davor schon eine ganze Menge passiert sein muss. Komplette Lebensgeschichten sind das geworden, eine komplette Lebensgeschichte wird auch die Chronik des Zweiten Weltkriegs aus der Sicht von Model, Künstlerin und Kriegsreporterin Lee Miller, die als eine der ersten und an der Seite der Alliierten die ganze grausame, himmelschreiende Wahrheit hinter dem Hitler-Regime dokumentieren konnte. Als Berufene und im Auftrag der Allgemeinheit ihre Pflicht erfüllende Reporterin leistete Miller ganze Pionierarbeit. Schließlich waren Frauen an der Front etwas Undenkbares, waren Frauen abseits des Lazaretts aus der Sicht der Männer entweder eine Gefahr für sich selbst oder eine Gefahr für andere. Miller setzte neue Maßstäbe, etablierte wohl einen ganzen weiblichen Berufszweig. Zeigte überdies Mut, Selbstbewusstsein und Leidensfähigkeit. Vor allem die der Psyche. Schließlich muss ein Mensch, reich an Werten und progressiv-humanistischen Idealen das unangekündigt Grausame, das hinter den Mauern der Konzentrationslager von Buchenwald und Dachau zum Vorschein kam, erstmal verarbeiten. Miller konnte das niemals so richtig, all diese Bilder begleiten sie bis ins hohe Alter. Zu diesem Zeitpunkt sitzt sie in ihrer Wohnung einem Journalisten gegenüber, der über ihr Leben so einiges wissen will. Auf einem Couchtisch ausgebreitet sämtliche Fotografien, ihm gegenüber Kate Winslet hinter missglückten Latexfalten, aber immer noch greifbar erfahren und müde von einem Leben voller menschlicher Dramen zwischen Kunst, Egomanie und höheren Aufgaben im Dienste der ganzen Menschheit.

Im Original betitelt Regisseurin Ellen Kuras, die als Kamerafrau wohl am Set von Eternal Sunshine of the Spotless Mind auf Kate Winslet traf und seither immer wieder mit ihr zusammenarbeitet, ihren Film schlicht als Lee. Die Art der Betrachtung einer Künstlerin wie Miller eine war, mag weder huldigend noch deutlich kritisch ausfallen. Die Selbstinszenierung in Hitlers Badewanne war, und das steht außer Frage, eine Aktion, die gemischte Gefühle hervorruft. Geschmacklos oder nicht: das Foto ist wohl als Triumph über das diktatorische Böse zu sehen. Körperpflege an Hitlers statt zu vollziehen, könnte aber auch als unbeabsichtigte Anbiederung durchgehen, sofern man Miller nicht auf diese Weise kennenlernt, wie Kuras es sich vorgenommen hat: Kettenrauchend, nonkonform und zäh genug für den Job, die Wahrheit im wahrsten Sinne des Wortes ans Licht zu bringen. Winslet portraitiert die Ikone souverän.

Wirklich nahe kommt man der Person aber dennoch nicht. Wenig greifbar bleiben auch all die anderen Nebenfiguren wie Alexander Skarsgård als Künstler Roland Penrose oder Andy Samberg als Millers Arbeitskollege David E. Scherman. Sie sind Gaststars im Laufe eines erfüllten Lebens, das dicht mit den Ereignissen um den Zweiten Weltkrieg verwoben ist und auch mit dazu beigetragen hat, das Schwarzbuch der Menschheit zu illustrieren. Als informativer biografischer Spielfilm macht Die Fotografin augenscheinlich nichts verkehrt. Vor allem jene Szenen, die das Entdecken der Konzentrationslager schildern, gehen unter die Haut, ertappt man sich doch dabei, unter furchterfüllter Neugier Miller auf dem Fuß zu folgen und über deren Schulter zu blicken, als wäre man selbst dabei. Darüber hinaus aber berührt der Film wohl weniger, als dass er Aufschluss gibt. Miller bleibt auf Distanz, es bleibt weitestgehend unklar, was sie bewegt oder antreibt. So gesehen fehlt die Lust an der Interpretation, letztlich sind es nur biographische Notizen eines Lebens, das in Filmform und mit weniger Fokus auf die Psyche nur schwer zu fassen ist.

Die Fotografin (2023)

The Apprentice – Die Trump Story (2024)

MAN MUSS EIN SCHWEIN SEIN IN DIESER WELT

7/10


theapprentice© 2024 Filmladen


LAND / JAHR: USA, KANADA 2024

REGIE: ALI ABBASI

DREHBUCH: GABRIEL SHERMAN, ALI ABBASI

CAST: SEBASTIAN STAN, JEREMY STRONG, MARIJA BAKALOWA, MARTIN DONOVAN, CHARLIE CARRICK, EMILY MITCHELL, PATCH DARRAGH, MARK RENDALL U. A.

LÄNGE: 2 STD 3 MIN


Ebenezer Scrooge hatte immerhin noch den Anstand, seine Abneigung vor den Menschen zuzugeben. Der Misanthrop wird eines Besseren belehrt werden, und zwar von drei Geistern, die Scrooge dazu bringen, über sein Tun zu reflektieren. Diese weisen Wesen wünscht man sich sehnlichst angesichts eines Wahltriumphes, der sich wie Realsatire anfühlt und von welchem man am liebsten glauben möchte, dass alles wäre nur ein sehr verspäteter Aprilscherz. Angesichts der bisherigen Menschheitsgeschichte folgt die Ernüchterung auf dem Fuß, denn so viel Fantasie lässt sich maximal bei den Simpsons als bizarre Zukunftsvision erleben. Tatsächlich aber ist der Mensch ein wahnsinnig leicht manipulierbares Herdentier, welches sich wie Wollvieh gerne in ein Geviert sperren lässt, damit man ihm das Blaue vom Himmel lügen kann. Passt die Verarsche schließlich in die eigene Convenience-Blase, sind alle glücklich.

Um so eine Vorgehensweise als Politiker an den Tag zu legen, muss einer wie Donald Trump damit kein Problem haben, wider besseren Wissens falsche Fakten zu verbreiten. Und das nur, um Macht zu gewinnen oder besser gesagt: diese zu erhalten. Denn gewonnen hat dieser alte weiße Mann schon alles. Dass den Niederträchtigen die Welt gehört, war schon immer so. Man muss ein Schwein sein in der Gesellschaft, man darf sich nichts gefallen lassen. Und man muss mit unlauteren, illegalen Mitteln arbeiten, um auf schnellstem Wege das zu bekommen, was man will. Rechtschaffenheit ist dabei ein Fremdwort, das in Ali Abbasis The Apprentice (bezugnehmend auf Trumps ehemals eigene Casting-Show) ein einziges mal fällt. Rechtschaffenheit, Werte, Aufrichtigkeit. Dabei hat Donald Trump im alles verschluckenden Schatten seines Vaters Fred den Eifer eines gewissenhaften Wirtschafters vor sich hergetragen. Von Tür zu Tür ist er gegangen, um die Mieten der familieneigenen Immobilien zu kassieren. Doch für etwas Besseres hat sich der Blondschopf schon immer gehalten. Und landete so in elitären Clubs für ausgewähltes Klientel. Einer dieser Stammgäste war Roy Cohn. Des Teufels Advokat oder der Teufel als Advokat – wie man es nimmt. Der solariumgebräunte Tunichtgut, der mit Sicherheit als Vorbild für den Breaking Bad-Alleskönner Saul Goodman hergehalten hat, findet in Trump einen Schüler, den er zur mächtigen und unerschütterlichen Nemesis für das liberale Amerika formen kann.

Überraschenderweise verhält es sich bei The Apprentice so, dass Ali Abbasi (u. a. Border, Holy Spider) gar nicht vor hat, ein propagandistisches Schmähwerk zu errichten, angespornt durch linke Lager. Sein Donald Trump ist keine Parodie, keine Monstrosität, kein plakativer Finsterling. Seinem Weltmann begegnet der Film ohne Vorbehalte, vertraulich und offen genug, sich auch manchmal vom Gegenteil überzeugen zu lassen. Eine finstere Farce ist das biographische Drama auch nicht, vielleicht eher eine Parabel, ein moralisches Gleichnis und eine kritische Abhandlung toxischer Methoden und Lehrsätze, die Verheerendes anrichten können. Mit Sebastian Stan und Jeremy Strong hat Abbasi ein ausgesucht ambivalentes Duo gefunden, das zur Gänze hinter ihren biographischen Figuren verschwindet. Stan ist im Übrigen kaum mehr wiederzuerkennen. Auch er will seinen zu spielenden Charakter nicht durch den Dreck ziehen. Er will ihn läutern, indem er die Wandlung vom nichtsahnenden Greenhorn zum ausgefuchsten Lügenbaron mit dem Riesenego an chronologischen Eckpunkten festmacht. Die Entwicklung stimmt, stolpert nur am Ende über sich selbst oder will gar zu sehr die Korrumpierung eines Charakters in deftigen Verhaltensabnormen seinem Publikum noch einprägsamer vor Augen führen als notwendig. Ja schon gut, wir erkennen ohnehin, welche Richtung Trump letztlich einschlagen wird. Da bleibt Cohn als schmächtige Schreckensgestalt noch die unberechenbarere Bedrohung. Der Dynamik von Meister und Schüler aber folgend, wird letzterer sein Vorbild irgendwann stürzen.

Alles bekämpfen, nur nichts zugeben, und stets gewinnen, auch wenn alles verloren scheint: Die Dreifaltigkeit des Machtkalküls dringt der Trump’schen Figur aus jeder Pore. Mit zunehmender Verkommenheit leidet auch die Bildqualität von Abbasis Versuchsanordnung, und das selbstverständlich absichtlich. Diese manchmal beängstigende Biografie macht einerseits Lust, sich mit der neu gewonnenen Ordnung in Übersee auseinanderzusetzen, andererseits weckt der beklemmende Werdegang den Widerstand, eine Welt wie diese unter dem Befehl eines Mannes wie diesen als gegeben zu akzeptieren. Zumindest zu diesem Werk hätte Trump ausnahmsweise mal stehen können. Womöglich schmeichelt es ihm mehr als uns lieb ist.

The Apprentice – Die Trump Story (2024)

In Liebe, Eure Hilde (2024)

AUS LIEBE IM WIDERSTAND

6/10


in-liebe-eure-hilde© 2024 Pandora Film / Frederic Batier


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2024

REGIE: ANDREAS DRESEN

DREHBUCH: LAILA STIELER

CAST: LIV LISA FRIES, JOHANNES HEGEMANN, LISA WAGNER, ALEXANDER SCHEER, EMMA BADING, SINA MARTENS, LISA HRDINA, LENA URZENDOWSKY, NICO EHRENTEIT, FRITZI HABERLANDT, FLORIAN LUKAS U. A.

LÄNGE: 2 STD 4 MIN


Schluchzen, Tränen, Betroffenheit im Kinosaal. Emotionale, mitunter verstörte Missstimmung. Wohin mit den eigenen Emotionen nach einem Film wie diesem?

In Liebe, Eure Hilde von Andreas Dresen fordert und überfordert. Das biographische Drama als schwermütig zu bezeichnen, wäre fast schon banal. Schwer verdaulich trifft es eher, nur: Schwer verdaulich muss auch nicht zwingend bedeuten, dass sich dahinter ein guter Film versteckt. Die Schwere eines Films liegt dabei weniger an den Themen. Es lassen sich diese auch ganz anders erzählen, ohne dabei die Relevanz zu verlieren. Einen Film über den Holocaust zu erzählen in Form einer Tragikomödie wie Das Leben ist schön, mag ein innovativer Ansatz gewesen sein. Sexueller Missbrauch und Demenz im Doppelpack zu bearbeiten, ohne dabei das Publikum danach zum Therapeuten schicken zu müssen, mag Michel Franco in Memory gelungen sein. Andreas Dresen nimmt sich nach Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush erneut einer True Story an, gebettet in den biographischen Auszug über eine historische Person. Sein neuer Film handelt vom Schicksal der Widerstandskämpferin Hilde Coppi, die im August 1943 wegen Hochverrats und Spionage hingerichtet wurde. Dieser Fall erinnert unweigerlich an Sophie Scholl. Marc Rothemund hat im Jahr 2005 der weißen Rose ein erschütterndes und stark auf ihr Tun und Wirken fokussiertes Denkmal gesetzt, Julia Jentsch absolvierte dabei wohl eine ihrer besten Acts. Nun folgt ihr Liv Lisa Fries, bekannt aus der fulminanten zeitgeschichtlichen Krimiserie Babylon Berlin, und erhält dabei von Andreas Dresen reichlich Spielzeit, um jene noch so erdenkliche Emotion, die eine junge Frau mit diesen Ambitionen zu dieser Zeit und unter diesen Umständen gehabt haben kann, in ihre Rolle zu legen. Niemals ist das zu dick aufgetragen, denn Fries legt in all ihren Auftritten stets eine grundlegende Natürlichkeit an den Tag, die kein Regisseur der Welt ihr austreiben kann. Mit diesem schauspielerischen As im Ärmel hätte In Liebe, Eure Hilde ein wegweisendes Politdrama werden können. Doch Dresen hatte etwas andere im Sinn: Das Tun und Wirken Hilde Coppis außen vorzulassen und stattdessen den Menschen dahinter zu präsentieren. Leider ein Trugschluss. Denn Menschen wie Coppi definieren sich vorallem durch ihre Ideale, ihre Ideen und hehren Ziele. Dresen macht aus dieser historischen Person etwas, womit diese, würde sie den Film sehen, vielleicht selbst nicht glücklich gewesen wäre.

Was bleibt, ist die Rolle der Frau als bedingungslos Liebende, als fürsorgliche Mutter und hinnehmende Ehefrau. Wieviel davon ist tatsächlich so gewesen? Ihr Sohn Hans Coppi, der am Ende des Filmes dann auch noch zu Wort kommt, kann darüber keinen Aufschluss geben. Briefe aus dem Gefängnis allerdings schon. Drehbuchautorin Laila Stieler ersinnt daraus eine viel zu bescheidene Betrachtung einer austauschbaren, universellen Frauenrolle, die, so wie es scheint, in den Widerstand hineingerutscht zu sein scheint, unreflektiert und aus bedingungsloser Liebe im Rollenbild der Vierziger. Fast schon erscheint diese Prämisse seltsam trivial, um es sich leisten zu können, den Aspekt des Widerstandes nur peripher zu behandeln. Dieses Periphere betrifft allerdings auch all die anderen Personen, die Hilde umgeben. Sie bleiben schemenhaft und grob umrissen, Johannes Hegemann gibt Hans Coppi auffallend wenig Charakter, geschweige denn Charisma. All das wird von Liv Lisa Fries überblendet, die den Film so schmerzlich macht.

Der dargestellte Schmerz aber ist das nächste Problem nebst dem verpeilten Fokus, den Dresen gesetzt hat: Sein Hinhalten genau dorthin, wo es wehtut, mag dem Film Authentizität geben und das Publikum auch die Chance geben, allerhand nachzuspüren, was man nicht erleben will. Die Zuseher müssen sensibilisiert werden. Des Öfteren jedoch ertappt sich Dresen dabei, dieses Schmerzempfinden zum Selbstzweck werden zu lassen. Ob minutenlanges Wehen-Management bei der Geburt des kleinen Hans oder die Hinrichtung selbst: Für In Liebe, Eure Hilde hat das kaum einen Nutzen. Es sei denn, die Qualität eines Films misst sich an seiner Schwere.

In Liebe, Eure Hilde (2024)

Die Herrlichkeit des Lebens (2024)

KAFKA, EINMAL UNVERKITSCHT

7,5/10


herrlichkeitdeslebens© 2024 Majestic/Christian Schulz


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH 2024

REGIE: JUDITH KAUFMANN & GEORG MAAS

CAST: SABIN TAMBREA, HENRIETTE CONFURIUS, MANUEL RUBEY, DANIELA GOLPASHIN, ALMA HASUN, PETER MOLTZEN, LEO ALTARAS, LUISE ASCHENBRENNER, FRIEDERIKE TIEFENBACHER, MICHAELA CASPAR U. A.

LÄNGE: 1 STD 99 MIN


Als kafkaesk bezeichnet man groteske gesellschaftspolitische Umstände, Überwachungsstaaten und Albtraumbürokratien. Morphologische Veränderungen, Paranoia und die Angst vor einer körperlosen Übermacht. Will man Franz Kafka darstellen, lässt man ihn gerne so sein wie eine seiner Figuren, orientierungslos, verfolgt und nicht Herr seiner Sinne. Der Autor Michael Kumpfmüller hat über das letzte Lebensjahr des großen deutschsprachigen Schriftstellers einen Roman verfasst und ihn so dargestellt als jemand, der zwar krank war, jedoch keinesfalls so verschroben, wie man ihn gerne hätte. Kafka hatte Stil und war redegewandt wie kein Zweiter. War charmant zu den Damen, nur leider keiner, der, so sagt er selbst, für Langzeitbeziehungen wirklich geeignet ist. Das letzte Jahr seines Lebens gewährt ihm aber dann doch den Schein einer ewigen Beziehung, eine Lebensgemeinschaft bis in den Tod. Dieser jemand an seiner Seite war Dora Diamant – schöner kann ein Name, der kein Künstlername ist, wahrlich nicht klingen. Mit Dora findet Franz Kafka seine ideale Partnerin – und schließlich auch jemanden, der die Leiden einer Lungentuberkulose bedingungslos mitträgt. Alles beginnt in einem idyllischen Nordseesommer beim Spazierengehen am Strand, den Sprösslingen im nahegelegenen jüdischen Kinderheim erzählt er, kauernd im Strandkorb, allegorische Geschichten über Mäuse und Katzen. Dora Diamant lauscht mit – und gerät ins Blickfeld des edlen Herren, den von da an nichts mehr daran hindert, ihr den Hof zu machen. Das Interesse beruht auf Gegenseitigkeit, beide sind klug, beide ticken ähnlich, nur die Krankheit bremst so manche Pläne. Der darauffolgende Winter in Berlin wird zur Belastungsprobe, die Eltern, insbesondere Kafkas Vater, wird auf ewig ein Schreckgespenst bleiben. Bald kann Kafka nicht mehr sprechen, die Tuberkulose breitet sich aus. Doch Dora weicht nicht von seiner Seite.

Melodramatisch ist Die Herrlichkeit des Lebens sehr wohl, doch auf eine gute Art. Auf die einzig richtige Weise, wie man Melodramatisches nur auf die Leinwand bringen kann und dabei genau darauf achtet, jedweden sentimentalen Kitsch zu vermeiden. Denn Melodrama muss niemals sentimental sein. Das Regieduo Judith Kaufmann und Georg Maas finden am Anfang des Films sommerliche norddeutsche Bilder, die an die impressionistischen Malereien Renoirs oder Monets erinnern. Wir sehen eine Holzbank auf einem Aussichtsplatz hoch über dem Strand, um die Rückenlehne ist ein seidenes, auberginerotes Band gewickelt, welches in der Sommerbrise weht. Klingt nach Rosamunde Pilcher? Ist es aber nicht. Diese Romantik verdient es kompromisslos, sich dieser Bildsprache zu bedienen. Inszeniert wird sie voller Respekt vor dem Genre und den historischen Figuren, die sich begegnen. Sabin Tambrea verleiht der literarischen Legende Charisma und Charakter, und vor allem versucht er nicht, sich an dieser bedeutenden Rolle, seinem Geltungsdrang verpflichtet, zu ereifern. Tambrea macht einen Schritt zurück, bleibt besonnen und unaufgeregt. Das gibt der Figur jede Menge Raum. Ebenso Henriette Confurius als Dora: Auch sie authentisch und natürlich, kein bisschen zu viel, niemals zu wenig. Diese beiden schaffen eine immersive Atmosphäre, in die man als Zuseher unweigerlich hineingleitet. Trotz der leisen, fast ereignislosen Chronik eines Abschieds ist es allen voran diese konstante, stilsichere Gefühlswelt, die Kaufmann und Maas hier errichtet haben, die den Zugang zu diesem Film so frappant erleichtern. Keine Regie-Allüren, keine Schauspiel-Allüren, kein bizarres Gemotze wie bei David Schalko. Menschlich und warmherzig gibt dieses Drama einen fast schon intimen Einblick in eine Künstlerseele und seinen Dämonen, in eine späte Liebe und in die Kunst, das Unausweichliche zu akzeptieren.

Die Herrlichkeit des Lebens ist ein strahlend schöner Film, wohltuend und berührend, ohne darauf aus sein zu müssen, dieses Ziel zu erreichen. Das Werk genügt sich selbst, es ist Melancholie mit Understatement.

Die Herrlichkeit des Lebens (2024)