Der Hochstapler – Roofman (2025)

DER FREUNDLICHE RÄUBER AUS DER NACHBARSCHAFT

7/10


© 2025 Constantin Film


LAND / JAHR: USA 2025

REGIE: DEREK CIANFRANCE

DREHBUCH: DEREK CIANFRANCE, KIRT GUNN

KAMERA: ANDRIJ PAREKH

CAST: CHANNING TATUM, KIRSTEN DUNST, PETER DINKLAGE, BEN MENDELSOHN, UZO ADUBA, JUNO TEMPLE, EMORY COHEN, LAKEITH STANFIELD, MELONIE DIAZ, MOLLY PRICE U. A.

LÄNGE: 2 STD


Robert Redford würde sagen: Ein Gauner & Gentleman. Er wüsste, wovon er spräche, hat er doch in David Lowerys Kriminalromanze einen unverbesserlichen Bankräuber gegeben, der wie kein anderer beim Leeren der Kassen einen Charme versprühen konnte, da hätte man wohl gerne die Hände hoch genommen, wäre man dabeigewesen. Ähnlich wird es wohl den Angestellten diverser Fast Food-Filialen ergangen sein, als sie frühmorgens zu Betriebsbeginn nicht die ersten waren. Dieser Jeffrey Manchester nämlich war, wie Redford im Film, sowas wie der freundliche Räuber aus der Nachbarschaft. Eine verharmlosende Formulierung? Einschätzen lässt sich als Genötigter, der in eine bedrohliche Situation wie diese gerät (und da reicht ein mit der Waffe fuchtelnder Vermummter allemal) selbst freundliches Verhalten nicht, Durchgeknallte gibt es schließlich genug, die vorgeben, nett zu sein, um kurze Zeit später den Henker zu spielen. Man kann also nicht sagen, dass der Roofman keine Gewalt ausgeübt hätte – wenn schon keine physische, dann bleibt immer noch die psychische Misshandlung, denn beschwichtigende Worte hin oder her: Extremsituation ist Extremsituation, da hilft nicht mal die wärmende Jacke, damit die ihrer Freiheit beraubte Belegschaft in der Kühlkammer des Restaurants nicht friert.

Achten Sie auf die Marke!

Sieht man mal darüber hinweg, haben wir es in Der Hochstapler – Roofman von Derek Cianfrance mit der unglaublichen, aber tatsächlich wahren Geschichte eines prädestinierten Asozialen zu tun, der sich mit Superschurke Gru verbrüdern könnte, damit beide unisono in die Welt herausposaunen könnten: Das bin ich, einfach unverbesserlich! In die Rolle jenes Mannes, der immer noch im Gefängnis sitzt und wohl 2036 erst eine Chance bekommen könnte, auf Bewährung entlassen zu werden, schlüpft Channing Tatum, der seit Blink Twice längst gezeigt hat, dass er auch anders kann als nur die Jump Street zu entern. Um akkurat bei der Sache zu bleiben, muss Cianfrance allerdings auch so tun, als müsste er Product Placement betreiben, Markenwerbung quer durch den Film, aber es geht nicht anders, diese Labels müssen hier rein, von MacDonalds bis Toys R Us – gerade die Lettern einer Filiale der Spielwarenkette leuchten des Öfteren von der Leinwand – dahinter, in den Untiefen des Kinderparadieses, findet das Superhin während der Flucht vor der Executive einen Ort, an welchem ihn, wenn er es richtig anstellt, niemals jemand entdecken könnte. Während er also der Möglichkeit entgegenharrt, das Land zu verlassen, gerät er in Kontakt mit einer kleinen Kirchengemeinde (grandios: Ben Mendelsohn als hüftschwingender Prediger), und wie es der Zufall so will, findet er dort auch seine große Liebe: Kirsten Dunst.

Fühlen Sie den Blues!

Was für eine Kriminalromanze, könnte man an dieser Stelle seufzend loswerden und sich dabei an die Stirn greifen. Doch, wie heisst es so schön; die kitschigsten und gleichzeitig auch besten Geschichten schreibt das Leben selbst. Mag sein, dass Cianfrance hier die eine oder andere Komponente etwas weichgezeichnet hat, doch im Grunde bleibt die Story ganz so, wie sie sich zugetragen hat. Akzeptiert man diese Tatsache, tut sich hier leidensfähiges, amerikanisches, authentisches Gefühlskino auf, was mich nicht wundert, denn Cianfrance beherrscht das Farbenspiel der Emotionen dank Erfahrungen, die er in Blue Valentine oder The Place Beyond the Pines bereits gesammelt hat, mit sicherer Hand. Der Hochstapler – Roofman verhält sich dabei zwar weitaus komödiantischer, pfeift aber im spärlichen Licht der Abend- und Morgendämmerung die hoffnungslos hoffnungsvolle Blues-Ballade eines um Glückseligkeit ringenden Outlaws von den Dächern. Aus dem gewieften Kriminellen wird ein Antiheld, bei dem die Frechheit zumindest zeitweise siegt. Es würde mich wundern, hätte der Mann bis heute keine Fans. Und wenn nicht, dann spätestens mit diesem Film.

Der Hochstapler – Roofman (2025)

The Bikeriders (2024)

DES MANNES LETZTE FREIHEIT

6/10


bikeriders©  2024 Universal Pictures

LAND / JAHR: USA 2023

REGIE / DREHBUCH: JEFF NICHOLS

CAST: JODIE COMER, AUSTIN BUTLER, TOM HARDY, MICHAEL SHANNON, MIKE FAIST, BOYD HOLBROOK, DAMON HERRIMAN, BEAU KNAPP, EMORY COHEN, TOBY WALLACE, NORMAN REEDUS U. A.

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


„Ich beschließ‘ ich kauf mir wie der Marlin Brando a klasse Maschin…“ – dass ein Film wie Der Wilde seinerzeit die Freiheitsträume ohnehin im Patriarchat befindlicher Männer so sehr triggern hat können – dieses Phänomen wurde selbst vom österreichischen Satiriker Helmut Qualtinger aufs Korn genommen, mit dem Song Der Halbwilde, aus dessen Lyrics obige Zeile stammt.

Nun hat es auch Tom Hardy erwischt. Wir sehen ihn im Film The Bikeriders, wie er entgeistert auf den kleinen hauseigenen Fernseher starrt und Marlon Brando dabei zusieht, wie er in ebenjenem Film neue Begehrlichkeiten weckt. Jene nach einer Lederjacke, nach einer neuen wilden Identität, nach zweirädrigen Boliden und der Missachtung so gut wie aller sozialer Regeln, die für ein Miteinander essenziell sind. Diesem stiernackigen, kernigen, unrasierten Mann namens Johnny folgen alsbald immer mehr und mehr solcher Männer, die, meist als Außenseiter der Gesellschaft, nirgendwo dazugehören dürfen; die in der frühen Midlife-Crisis stecken oder die Wucht ihrer – überspitzt gesagt – maskulinen Identität innerhalb eines geordneten Lebens samt Familie nicht mehr standhalten können. Einer dieser aus der Gesellschaft Verstoßenen ist Benny, gespielt vom zurzeit allseits beliebten Newcomer Austin Butler, der bereits Superstar Elvis Presley Charakter verliehen hat. Die 60er-Jahre Frisur steht ihm prächtig, sein einstudierter verlorener Blick ebenso. Benny hat nirgendwo sozialen Halt, also ist es der Verein der Vandals Chicago, und ganz besonders sein väterlicher Freund Johnny, von dessen Seite er nicht abrückt – bis Kathy (Jodie Comer, The Last Duel) in sein Leben tritt. Mit ihr schließt er gar den Bund der Ehe, bleibt aber dennoch ein schwer zu fassender Charakter. Die Gang der Biker hingegen erfährt im Laufe der Jahre eine Umwälzung und Veränderung nach der anderen. Ganz plötzlich gibt es Ableger, dann wieder andere, die dem Boss der Runde seinen Platz streitig machen wollen. Dann gibt es Neider und die Lust an kriminellen Handlungen, die das Image einer gelebten Anarchie, die mit Bikergangs eben assoziiert wird, bis heute prägen.

Dennis Hoppers Easy Rider hat die Hoffnung auf eine ungestüme Freiheit auf zwei Rädern wohl letztlich ausgeräumt und ausgeträumt. Jeff Nichols hat sich dabei an einem Fotobuch des Journalisten Danny Lyon orientiert und daraus die Chronik von Aufstieg und Fall einer ganzen Subkultur in graubraunen Bildern auf die Straßen des Mittleren Westens gesetzt. Schnell stellt man fest, dass dieses Bild der männlichen Freiheit und der maskulinen Selbstbestimmung nicht mehr sein kann als die Zwangsbeglückung vollkommen Unglücklicher, die überraschend wenig Spaß daran haben, an ihren fahrbaren Untersätzen herumzuschrauben und diese, wäre es denn möglich, gegen Pferde eintauschen würden, gäbe es den Wilden Westen noch. Tom Hardy, Butler und das ganze illustre Ensemble skizzieren die Portraits sehnsüchtig Suchender, die außerhalb dieses Mikrokosmos aus wenigen Regeln und der Lust am Heroismus wohl nirgendwo zur Ruhe kommen würden. Nichols erzählt die Geschichte aber aus dem Blickwinkel von Jodie Comers Figur, die einem fiktiven Reporter das ganze Drama schildert. Dabei braucht es einige Zeit, bis man sich an diesen pragmatischen Charakter gewöhnt. Die zähe Dominanz dieser Figur ist nämlich nicht, was man erwartet hätte.        

The Bikeriders ist zeitgeistiges Genrekino mit vielen leeren Kilometern. So orientierungslos wie seine Protagonisten ist bisweilen auch Nichols Film. Wild wechselt dieser zwischen den Zeitebenen, zu viele Charaktere ähneln sich zu stark, um die Vielfalt einer Gesellschaft abzubilden, die keine wirklichen Identitäten besitzt, sondern nur das Bewusstsein einer Community, die schnell zerbrechen kann. Außen wuchtig, innen geradezu hohl. Comers Figur weiß das. Und am Ehesten entwickelt Austin Butler so etwas wie eine Biografie, die den Ausbruch aus einem Teufelskreis depressiver Leere beschreibt.

The Bikeriders (2024)

Blue Bayou

PAPA KOMMT NICHT WIEDER

5,5/10


bluebayou© 2021 Focus Features


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: JUSTIN CHON

CAST: JUSTIN CHON, ALICIA VIKANDER, SYDNEY KOWALSKE, MARK O’BRIEN, EMORY COHEN, LINH DAN PHAM, VONDIE CURTIS-HALL U. A. 

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


In jeder zweiten (was heißt jeder zweiten: geradezu in jeder) altersübergreifenden Produktion feiern US-Entertainment-Konzerne wie Disney die Einheit, den Zusammenhalt und den Wert der Institution Familie. Wenn Mama, Papa und der Nachwuchs füreinander in die Bresche springen, dann ist das das höchste Gut, keine Frage. Kann ich auch so unterschreiben. Blickt man in den Vereinigten Staaten aber vom Bildschirmrand etwas weiter weg und dahinter, ist es aus mit diesem Wertebewusstsein. Da ist Familie nur noch in einer einzigen Ausgestaltung annähernd so, wie Disney es immer kolportiert: weiß, uramerikanisch und gefühlt seit Jahrtausenden schon dort geboren. Wir wissen, dass dem nicht so ist. Alle Nicht-Natives blicken zurück auf eingewanderte Ahnen, das kann man drehen und wenden wie man will. Die Politik der Integration war damals aber vielleicht nur ein Blatt im Wind, nicht von Bedeutung. Heutzutage ist Integration etwas für den Rechenschieber, ein seelenloses und unmenschliches Regelwerk, dass den hochgelobten Familiensinn mit Füßen tritt. Justin Chon, selbst gebürtiger Südkoreaner und wohnhaft in den USA, hatte wohl Menschen an seiner Seite, die sich rechtzeitig darum gekümmert haben, dass der Bub auch die amerikanische Staatsbürgerschaft erhält. Mittlerweile wird ihm wohl nicht jenes Schicksal widerfahren, dass sein alternatives Ich in Gestalt von Antonio zu spüren bekommt. Wobei mit etwas mehr Besonnenheit im Alltag ein Drama wie dieses wohl nicht entstanden wäre. Oder aber: es wäre sowieso so weit gekommen – wenn nicht früher, dann später.

Dieser Antonio lebt als herzensguter Stiefvater und Partner von Alicia Vikander (selbst Schwedin, hier spielt sie aber eine waschechte Amerikanerin) in New Orleans und verdingt sich für einen müden Gewinn als Tätowierer. In naher Zukunft werden die Einnahmen bald nicht mehr reichen, denn Nachwuchs bahnt sich an. Es wäre schon alles unangenehm und entbehrlich genug, steht der leibliche Vater der kleinen Jessie permanent auf der Matte, was unheimlich nervt. Allerdings ist das sein gutes Recht, und als der Streifenpolizist die Mutter seiner Tochter in einem Supermarkt zur Rede stellen will, eskaliert die Lage. Antonio wird verhaftet – und zum Fall für die Fremdenpolizei.

Gesetze sind eine Sache – sie zu befolgen eine andere. Gesetze sind ein Kind ihrer Zeit und führen sich selbst manchmal ad absurdum, wenn ihr Wechselwirken bis zur letzten Konsequenz exekutiert wird. Gesetze wie dieses, das Einwanderer, die bereits mehrere Dekaden im Land gelebt haben, als ein nicht vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ausweisen, schreien aber danach, reflektiert zu werden. Was in einem Land wie diesen aber nicht passiert. Justin Chon lässt sich selbst gegen Windmühlen kämpfen, und darüber hinaus auch noch gegen seinen eigenen Anstand. Dabei verknüpft er die vagen, traumartigen Kindheitserinnerungen des Einzelkämpfers mit einer Sehnsucht nach einem stillen Ort der Geborgenheit inmitten des Louisiana Bayou (langsam fließende Gewässer inmitten einer Sumpflandschaft). Die impressionistischen Bildstile eines Kim Ki Duk oder Tran Anh Hung könnten dafür Pate gestanden haben – sonst aber verlässt sich Chon auf eine unruhige visuelle Erzählweise in grobkörnigen Bildern, die das wehmütig-nachmittägliche Sonnenlicht wie auf verblichenen Polaroidfotos aus den Siebzigern wirken lassen. Weh- und schwermütig ist auch der ganze Film, doch in erster Linie nur für Alicia Vikander (die eine herzzerreißende Version von Roy Orbisons Songklassiker schmettert), der kleinen Jessie und Justin Chon.

Vielleicht liegt es am impulsiven Handeln des Protagonisten, welches dem Unglück, das hier noch folgen wird, einen anderen und besseren Ausweg verbaut. Das Schicksal einer entbehrungsreichen Kindheit ohne Wurzeln gewährt in Blue Bayou unbedachtem Handeln die Legitimation. Seltsamerweise erscheint es aber, als hätte Antonio nur mit halbem Herzen das getan, was notwendig gewesen wäre, um das Debakel eines verqueren Gesetzes auszubügeln. Vielleicht liegt es ja daran, dass Antonio Zeit seines Lebens gar nicht so genau weiß, wohin er schließlich gehört. Und das Schicksal, wie es auch ausfällt, wohl annehmen wird. Ein schmerzlicher Pragmatismus, der aber Distanz zum Film schafft.

Blue Bayou

Stunde der Angst

JENSEITS DER EIGENEN VIER WÄNDE

5/10


stundederangst© 2021 Koch Films


LAND / JAHR: USA 2019

REGIE: ALISTAIR BANKS GRIFFIN

CAST: NAOMI WATTS, JENNIFER EHLE, EMORY COHEN, KELVIN HARRISON JR., JEREMY BOBB U. A. 

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Mit Summer of Sam verbinde ich selbst nur den gleichnamigen Film von Spike Lee. Der allerdings auf wahren Begebenheiten beruht. Im August des Jahres 1977 war es an der US-Ostküste nämlich brüllend heiß. Und als ob die Hitze nicht schon hätte reichen müssen, lief da auch noch ein ziemlich unberechenbarer Serienkiller herum, der es auf Frauen abgesehen hat – dieser hieß Son of Sam. Und Naomi Watts, die passt da als Schriftstellerin June perfekt in dessen Beuteschema.

In Stunde der Angst (im Original viel treffender und weniger reißerisch: The Wolf Hour) leidet der Star aus King Kong oder Mulholland Drive an massiven psychischen Problemen. Und befindet sich an diesen eingangs erwähnten unsäglichen Hundstagen allein und verlassen in den vier Wänden ihrer verblichenen Oma, um… nun ja… was macht sie da genau – erstmal depressiv vor sich hinzudämmern, den Ventilator laufen zu lassen und viel zu rauchen. Den Fuß vor die Tür, den setzt sie nicht. Warum? Ein Trauma verfolgt sie, etwas scheint passiert zu sein, das mit ihrer Familiengeschichte zusammenhängt und sie deswegen so sehr lähmt. Besuch allerdings bekommt sie, die ehemalige Ikone der zeitgenössischen Literatur. Doch dieser Besuch ist temporär – kaum da, verschwindet er schon wieder. Und was seltsam und gleichsam erschreckend ist: Unbekannte machen sich den Scherz, die Fernsprechanlage zu quälen. Oder läuten da gar keine Unbekannten? Vielleicht ist es ja Sam?

Mit Naomi Watts in einem Film hat man schon einiges auf der Habenseite. Lässt sich sonst noch was dazu holen? Zumindest nichts, was einen waschechten Psychothriller ausmacht. Denn Stunde der Angst verkauft sich als solcher, ist aber keiner. Eine Mogelpackung der Verleiher, könnte man sagen. Doch wie sonst hätte sich das Werk gut bewerben können? Als Mystery-Drama vielleicht. Das Phantom an der Fernsprechanlage sorgt schon zumindest ansatzweise für ein mulmiges Gefühl. Denn was dieser Film ganz gut hinbekommt, ist Atmosphäre. Doch immer dann, wenn es ganz danach aussieht, dass die Lage eskalieren könnte, wird einem im besten Wortsinn die Tür vor der Nase zugeknallt. Zum Psychothriller kann sich Alistair Banks Griffins Film somit einfach nie hochschaukeln, dazu fehlt ihm die Beschleunigung. Das mag zwar einerseits enttäuschend sein, andererseits lässt sich zwischen all diesen Hitchcock-Versatzstücken (ich sage nur: Fenster zum Hof) ein Selbstfindungsdrama als sortiertes Kammerspiel zwischen staubigem Interieur entdecken. Wem gefällt, dass Naomi Watts sich selbst einem Lockdown unterzieht und wem der eigene reale noch nicht genug ist, kann sich ja filmtechnisch solidarisch zeigen. Sonst bleibt das, was sich aus diesem Prozedere des Aufraffens gewinnen lässt, eher überschaubar bis ernüchternd.

Stunde der Angst

Brooklyn

ICH WAR NOCH NIEMALS IN NEW YORK

6,5/10

 

brooklyn© 2016 20th Century Fox Deutschland

 

LAND: IRLAND, GROSSBRITANNIEN, KANADA 2016

REGIE: JOHN CROWLEY

CAST: SAOIRSE RONAN, DOMHNALL GLEESON, EMORY COHEN, JIM BROADBENT, JULIE WALTERS, BRID BRENNAN U. A.

 

Am Schönsten ist es doch zuhause – oder nicht? Ich würde dem zustimmen. Die junge Irin Eilis Lacey, die in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts aufgewachsen ist, wohl eher weniger. Zuhause ist nämlich nichts los. Nichts, worauf es für eine junge Frau wie Eilis ankommt: Keine Arbeit, kein Entwicklungspotenzial, keine strahlende Zukunft. Stattdessen eine Art Bigotterie, strenge Konventionen und die Augen und Ohren der lästigen Nachbarschaft sozusagen überall. Da will Frau eigentlich nur weg, am besten nach Übersee, wohin sowieso schon halb Irland ausgewandert ist. Wie es der Zufall so will, legt ihr ein ebenfalls ausgewanderter, befreundeter Pastor die notwendigen Schienen, unterstützt sie sogar finanziell. Nur den Abschiedsschmerz kann er ihr nicht nehmen, da muss Eilis ganz alleine durch. Die Familie zu verlassen ist eine Sache, in Übersee Fuß zu fassen eine andere. Und wie sie feststellen wird: Die amerikanische Gesellschaft ist eine ganz andere, da haben die Wände keine Ohren und es kennt nicht jeder jeden. Was für ein Freiheitsgefühl das sein muss, anonym zu sein. Sich für jeden Handgriff nicht rechtfertigen zu müssen. Zu lieben, wenn man will, und nicht, wen die Nachbarn wollen.

Regisseur John Crowley, der aktuell mit seiner Buchverfilmung Der Distelfink in unseren Kinos startet, hat vier Jahre zuvor mit Brooklyn ein ganz anderes, weniger voluminöses Buch verfilmt, nämlich eines des irischen Autors Colm Tóibín – für alle, die ihn kennen. Zugegeben, die Erzählung über einen Neuanfang im Land der unbegrenzten Möglichkeiten (zumindest war das damals vielleicht so) ist wie ein Film aus den Fünfzigern, der über die Fünfzigerjahre erzählt. Schön ausgestattet, Lokalkolorit pur, allerdings wahnsinnig hausbacken. Wäre da nicht die wunderbare, verletzliche Saoirse Ronan, die wiedermal sehr überzeugend und völlig nachvollziehbar die illustre Entwicklung vom duckmäuserischen, sozial gegängelten Mädchens zur selbstbewussten Frau vollzieht. Ronan passt in die damalige Zeit wie der Nierentisch ins trendige Nachkriegswohnzimmer. Es ist, als hätte die junge Schauspielerin zu gar keiner anderen Zeit gelebt als in den 50ern, und das ist schon eine erstaunliche Konsistenz, was die Erarbeitung einer Rolle betrifft. Mit dieser darstellerischen Dichte ist sie aber nicht allein. An ihrer Seite ein völlig unbekanntes Konterfei, nämlich das von Emory Cohen als italoamerikanischer, unsterblich verliebter Klempner, der das Herz der jungen Irin zwar nicht im Sturm, aber in konsequenter, teils liebevoll ungeschickter Romeo-Manier erobert. Allerdings völlig frei von Arroganz, direkt etwas devot, bescheiden und unsicher lächelnd. Ein einnehmender Charakter, der gemeinsam mit Ronan die besten Momente des Filmes für sich verbuchen kann.

Sonst ist Brooklyn arg konventionell und sehr methodisch erzählt, was nicht heisst, dass das Drama die Zerrissenheit von Ronans Figur nicht ordentlich aufs Tablett bringt. Dafür wiederum hat niemand geringerer als Nick Hornby sein vor allem eben für Drehbücher bewährtes Talent bemüht und die Love- and Life-Story elegant und harmonisch in seine Zeit gebettet. Das verlangt keine Neuinterpretationen oder Ansätze aus anderen Richtungen. Tóibíns Roman verlangt genau das, was Brooklyn letzten Endes als Filmprosa auf die Reihe bekommt. Und das kann eben nur in dafür erforderlichem Konservatismus und in nostalgischem Postkarten-Beige erfolgen, wobei der Streifen von der Empathie Crowleys dem historischen Zeitgeist gegenüber am meisten profitiert. Brooklyn ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr sich ein Regiekonzept auf beiden Seiten der Kamera seiner gewählten Epoche unterordnen kann. Und das ist wiederum kein Fehler. Vor allem dann nicht, wenn ein Zeitbild aus vergangenen Tagen über den Um-, Auf- und Abbruch diverser Zelte in einer sich aufraffenden Nachkriegswelt ausnehmend gut Bescheid wissen will, ohne dabei prahlen zu wollen.

Brooklyn