How to be Normal and the Oddness of the Other World (2025)

REGELN, NACH DENEN SONST NIEMAND LEBT

7,5/10


© 2025 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2025

REGIE / DREHBUCH: FLORIAN POCHLATKO

KAMERA: ADRIAN BIDRON

CAST: LUISA-CÉLINE GAFFRON, ELKE WINKENS, CORNELIUS OBONYA, FELIX PÖCHHACKER, LION THOMAS TATZBER, HARALD KRASSNITZER, DAVID SCHEID, WESLEY JOSEPH BYRNE, FANNY ALTENBURGER, NANCY MENSAH-OFFEI U. A.

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Alles schrill, jeder will, allen war immer klar, dass wir verrückt sind – das mag zwar eine Zeile aus dem von Max Raabe und Annette Humpe verfassten 20er-Revival-Song Ein Tag wie Gold stammen, trifft aber in dieser ausnehmend reizenden Psychokomödie des Österreichers Florian Pochlatko den Nagel auf den Kopf. Wer genau, stellt sich hier die Frage, hat einen an der Waffel? Die junge Frau, die eben erst aus der Psychiatrie entlassen wurde, um nun die kaum machbare Challenge anzunehmen, sich in die Gesellschaft zu integrieren? Oder ist es die Gesellschaft, die keine Ahnung davon hat, dass sie ihren inneren Wahnsinn verdrängt und in steter Ungeduld darauf wartet, einen Grund zu finden, um das verrückte Ding im Kopf endlich rauszulassen. Enthemmt trifft auf verklemmt, der Irrsinn auf Alltagsseduktion. How to Be Normal and the Oddness of the Other World – ein schöner, wagemutig literarischer Titel für einen Film – wirft sich mit einer kreischenden Xenophobie einer nicht mehr vertrauten Normalität gegenüber in den Dschungel einer Realität, die aus faden Fassaden besteht und sich so anfühlt, als wäre Arnold Schwarzeneggers Filmfigur des Jack Slater in Last Action Hero eben erst von der Leinwand gesprungen, um in der asphaltgrauen physischen Härte beim Verknöcheln laut aufzuschreien. Im falschen Film, würde Luisa-Céline Gaffron als psychotische Pia jetzt sagen, der es so ziemlich ähnlich ergeht.

Alles Käse vor den Augen

Völlig fremd in der Welt, die in der nackten Theorie eigentlich die ihre sein sollte, findet sie sich als Migrationsantragsstellerin in ihr eigenes bisheriges Leben wieder, die alle Vertrautheit verloren hat. Beide Eltern sind sowieso neben der Spur, vor allem der Papa (Cornelius Obonya endlich mal im Kino – Zeit wird’s!) will die Psyche seiner Tochter alles andere als an die große Glocke hängen, auch ein Fall von Verdrängung, während er selbst verdrängt, dass es um das firmliche Familienerbe mehr als schlecht steht. Die Mutter – ein Wiedersehen mit Elke Winkens – darf als Fernsehsprecherin nur reißerisches Zeug kommentieren, vom Ende der Welt und von Zombieschnecken. Deftiges Zeug, das zieht natürlich runter. Eine Hilfe sind die beiden also nicht, und es reicht womöglich kaum, das Essgeschirr gegen Plastik zu tauschen, nur, damit Pia nicht auf die Idee kommt, sich wieder zu verletzen. All das stempelt die sensible Dame noch mehr als etwas ab, was andere womöglich als Freak ansehen würden, als Monster mit der Scheibe Gouda vor Augen. Währenddessen suchen Harald Krassnitzer und seine Akte X-Kollegin nach einem verschwundenen Mädchen. Man kann sich denken, wer das wohl sein wird, und währenddessen wird klar, dass es kaum eine Möglichkeit gibt, all den Leuten mitzuteilen, dass Pia noch da ist, dass sie nur anders ist, anders agiert und vielleicht als einzig Vernünftige in dem ganzen Selbstbetrug auch gleichzeitig als einzige ein normales Leben führt, frei von Regieanweisungen, die die Norm oktroyieren.

With a little help from Ed Sheeran

Der Kinosaal ist bis auf zwei Sitze in der ersten Reihe ausgebucht, wer hätte das gedacht bei so einem exzentrischen Stück Psychokino? Bevor aus dem Screening gar nichts wird, wird die Sache mit der Fußfreiheit ganz vorne schöngeredet – und siehe da, im Votivkino, da funktioniert sogar das: Gaffron und ihr Ensemble dringt nun ungefiltert in meine eigene Wahrnehmung. Überdimensionierte Close Ups und das kaleidoskopartige Spiel mit Realität und Imagination fächern sich in mein Hirn und unterstützen die Wirkung des ganzen fiktiven Portraits, das im Grunde auch nicht mehr sein will als eine Bestandsaufnahme, ein Psychogramm, ergänzt durch einen Workshop aus Partys, Liebeskummer und der Vision eines Ed Sheeran, der als heldenhafter Star-Support das Märchen popkulturell erdet. Giffron ist das unverrückbare Zentrum, der Blickwinkel, der Ort der Wahrnehmung, the Eye of the Beholder – keine leichte Sache, so zu tun, als würde man es sich nicht zu leicht machen wollen, einen Menschen mit psychischer Erkrankung zu verkörpern. Ins Klischee soll das Ganze schließlich nicht kippen, und genau das gelingt ihr zu vermeiden, während das ganze Drumherum das Klischee aber durchaus bedienen darf, weil es das ist, was man im Leben „sollen muss“.

Durch die Hintertür der angeknacksten Psyche

Anders als erwartet, lässt Pochlatko seinem Film keinen assoziativen freien Lauf. How to Be Normal… ist alles andere als erratisch oder arrogant artifiziell und hält sich sehr wohl an einem roten Faden fest wie ein in Seenot geratener Seemann am Steuerrad seines Schiffes. Wieder ist es die Figur der Pia, die sich gegen die Assimilierung stemmt und ihr dann wieder nachgibt, die den Notausgang sieht, den sonst keiner sieht. Filme dieser Art gibt es einige wenige, und da wieder einige wenige gute, worunter Pochlatkos Film fällt. Mir fällt auch gerade Terry Gilliams König der Fischer ein: Robin Williams als traumatisierter Obdachloser, der den Heiligen Gral sucht. Giffron sucht auch nach etwas, auch nicht nach einer neuen Ordnung wie Jack Nicholson in Einer flog übers Kuckucksnest, sondern nach eben diesem ureigenen Notausstieg, dessen permanente Erreichbarkeit ein Gefühl von Entspannung liefert. Selbstbestimmung in Zeiten wie diesen sieht vielleicht so aus – oder anders. Man soll sich die Welt machen, wie sie einem gefällt, sagt Pippi Langstrumpf – auch wenn das mit einschließt, dass man dabei verrückt wird.

How to be Normal and the Oddness of the Other World (2025)

I Saw the TV Glow (2024)

TWILIGHT ZONE FÜR SERIENJUNKIES

5/10


isawthetvglow© 2024 Pink Opaque LLC


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE / DREHBUCH: JANE SCHOENBRUN

CAST: JUSTICE SMITH, BRIGETTE LUNDY-PAINE, IAN FOREMAN, HELENA HOWARD, FRED DURST, DANIELLE DEADWYLER U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Das war noch was, als in den Achtzigern und Neunzigern tagtäglich und immer zur selben Uhrzeit die Straßen und Gassen leergefegt waren, wenn auf den wenigen Fernsehkanälen, die man hatte, die Lieblingsserie lief. VHS-Rekorder hatten da noch die wenigsten, später aber dann doch vermehrt, doch als Junkie eines speziellen Formats wollte sich keiner nachsagen lassen, nicht als erster den brandneuen Stoff bereits gesichtet zu haben. Am neuesten Stand zu sein war oberstes Gebot, das wochenlange Warten auf die nächste Folge nur eine Qual. So passiert bei Falcon Crest, Twin Peaks oder Buffy – Im Bann der Dämonen. Letztere ließ Sarah Michelle Gellar groß werden, die toughe Blondine schnetzelte sich sieben Staffeln lang durch Horden von Vampire, Dämonen und sonstigem Gesocks, das aus dem Höllenschlund in der kalifornischen Kleinstadt Sunnydale emporstieg. In I Saw the TV Glow ist es die Serie The Punk Opaque, die sehr stark an den von Joss Whedon erdachten Kult erinnert. Dieser farbintensive Nebel begleitet ein Duo aus zwei jungen Frauen, die nicht viel anderes ihre Mission nennen als Kreaturen aller Art ebenfalls das Fürchten zu lehren wie Buffy, um aber an ein richtig fieses Mondgesicht heranzukommen, dass seine Gegner gerne mal in eine mitternächtliche Dimension sperrt, aus der es kein Entkommen gibt, es sei denn, jemand von außerhalb wappnet sich zur Extraktion. Wie gebannt hängt hier nun Maddy (Brigette Lundy-Paine, u. a. Schloss aus Glas) im Rhythmus des Fernsehprogramms vor der Glotze, und es dauert nicht lang, da gesellt sich der deutlich jüngere Owen (Justice Smith, u. a. Jurassic World, Dungeons & Dragons) hinzu. Beide sind nicht gerade mit einfühlsamen Familien gesegnet, beide sind sich mehr oder weniger selbst überlassen in ihrer Reifung zum Erwachsenen. Die Serie wird zum Zufluchtsort, zur Sucht, zum eigentlich viel besseren Leben. Je mehr die beiden Außenseiter aber diese pinken Nebel inhalieren, je mehr scheinen trostlose Realität und anregende Fiktion zu verschwimmen. Langsam stellen sich Maddy und Owen die Frage, ob nicht ihre Welt die eigentliche Fiktion ist, und The Pink Opaque das echte Leben. Vielleicht, weil sie nicht so kompliziert scheint und klarer erkennbar, worauf es ankommt.

Mystery oder gar Fantasy mit später Coming of Age-Geschichte zu verknüpfen – das ist bekanntlich alles andere als neu. Kein Genre eignet sich besser als das Phantastische, um mit dem komplexen Thema des Erwachsenwerdens einen Deal einzugehen. Die nichtbinäre Person Jane Schoenbrun (We’re All Going to the World’s Fair) sieht in diesem Dilemma, als junger Mensch nirgendwo hinzugehören, eine kaum zu bewältigende Mission, der man am besten mit traumverlorener Lethargie begegnet. Vielleicht genügt es ja, das auf Wohnstraßen applizierte Schwarzlicht-Graffiti zu bewundern, während man auf dem Weg zum nächsten Fernseher noch dazu von sphärischem Licht in allen Pink- und Violetttönen begleitet wird, das sowieso schon den Eindruck erweckt, niemals in der harten, urbanen, rücksichtslosen Realität namens Leben verankert zu sein. I Saw the TV Glow schlurft und schleicht durch eine dem Chemiehaushalt von Teenagern unterworfenen, leicht bis schwer depressive Twilight-Zone, ohne dabei Enthusiasmus und Leidenschaft für irgendetwas zu empfinden. Das mögen die diffus in Szene gesetzten Erwachsenen ihren Kindern Maddy und Owen längst ausgetrieben haben. Der Enthusiasmus springt aber auch nicht auf mich, dem Zuseher über. Das mag vielleicht auch an den traurigen Mix an Musiknummern aus der Independent-Nische liegen, die einzeln gehört als melodisch-melancholische Novemberstimmung wohldosiert funktionieren, in Spielfilmlänge aber die einschläfernde Wirkung eines erratischen Wachtraums, den man schwer beeinflussen kann, da man wie paralysiert im Bett liegt, nur noch verstärken.

Schoenbrun arbeitet mit Symbolen und immer wieder mit den Farben, das unter Schwarzlicht leuchtende Graffiti verschmilzt mit dem ungesunden Licht ausgedienter Röhrenbildschirme. Wie die dargestellte Sucht zweier Suchender, die ihre Welt und Existenz hinterfragen, bleibt I Saw the TV Glow lediglich bei seiner dekorativen Symptombetrachtung, die den Jugendlichen wenig Persönlichkeit lässt. Zu gleichförmig wirken beide, und nicht mal die Zeitspanne von vielen Jahren, die der Film umspannt, lässt bei diesen eine Entwicklung zu. Gefangen im Pink Opaque chillt der unnahbare Selbstfindungstrip in einem immermüden Tal der Ratlosigkeit, die rosarote Brille beschönigt zwar die Optik – das, worauf es ankommt, allerdings nicht.

I Saw the TV Glow (2024)

Harvest (2024)

EIN DORF AM PRANGER

7/10


harvest© 2024 Viennale


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, DEUTSCHLAND, GRIECHENLAND, FRANKREICH, USA 2024

REGIE: ATHINA RACHEL TSANGARI

DREHBUCH: JOSLYN BARNES, ATHINA RACHEL TSANGARI

CAST: CALEB LANDRY JONES, HARRY MELLING, ROSY MCEWEN, ARINZÉ KENE, THALISSA TEIXEIRA, FRANK DILLANE, STEPHEN MCMILLAN, MITCHELL ROBERTSON U. A.

LÄNGE: 1 STD 11 MIN


Als Dorf ist diese willkürliche Anordnung an Höfen, Ställen und Schuppen nur schwer zu bezeichnen. Eine Siedlung trifft es wohl eher, denn Infrastruktur hat dieses Konglomerat an freudlos wirkenden Bauwerken keine. Weder Kirche noch Rathaus noch Läden, weder Exekutive noch sonst eine institutionelle Ordnung lässt sich hier wiederfinden, im Nirgendwo irgendwo auf der Insel Großbritannien, womöglich eher im Süden gelegen, und das Meer ist nicht weit, obwohl Caleb Landry Jones als Walt noch nie dort gewesen war. Dennoch – eines hat die Gemeinschaft gewährleistet: Und zwar den Pranger. Für unruhestiftende Individuen und vorallem Fremde, die sich in näherer Umgebung niederlassen wollen und gleich mal verdächtigt werden, die Scheune des Gutsherrn in Brand gelegt zu haben. In einer Zeit wie dieser ist das Recht auf Verteidigung oder gar ein Prozess nur sinnlose Zeitverschwendung. Die beiden aufgegriffenen Fremden werden an den Pranger gestellt, für sieben Tage. Die Frau hingegen wird vertrieben, sie plant derweil ihre eigene Vergeltung. Inmitten dieser toxischen Gemeinschaft aus Argwohn, Aberglaube und Feigheit geistert Caleb Landry Jones gedankenverloren und vielleicht auch stoned durch die Gegend, nagt am Holz, streift durchs Feld und freundet sich mit einem weiteren Fremden an – einem Kartographen, den Jugendfreund Harry Melling wohl mitgebracht hat, um den Örtlichkeiten in dieser Umgebung endlich einen Namen zu geben. Dieser jedoch ist für viele ein böses Omen. Und es wird sich bewahrheiten: Die Dinge und Orte bei einem Namen zu nennen, ruft den eigentlichen Untergang herbei. In Gestalt eines arroganten Lords, der die Ländereien für sich beansprucht. Und das Volk vertreiben will.

Im Kino lief heuer das dänische Historiendrama Kings Land mit Mads Mikkelsen, der als Pionier das Wagnis eingeht, auf wenig fruchtbarem Moorboden eine fruchtbare Siedlung zu errichten – sehr zum Missfallen eines mächtigen Gutsherrn, der den Boden als sein Eigentum erachtet. Basierend auf Ida Jessens Roman, hat Nikolaj Arcel ein erdig-wuchtiges Epos im satten Realismus einer greifbaren Vergangenheit inszeniert. Die Griechin Athina Rachel Tsangari hat sich für ihr Blut- und Bodendrama eines Romans von Jim Grace angenommen und den Stoff, aus dem historisch-bäuerliche Dramen sind, isoliert, verfremdet und in ein abstrakt wirkendes, zeit- und raumloses Vakuum verfrachtet. Dabei wird besonders Tsangaris visueller Stil zu einer beharrlichen, selbstbewussten Vision. Sie taucht dabei ihre Bilder in Rot, Grün und Blau, die Gewänder der Dorfbewohner sind allesamt farblich aufeinander abgestimmt, dadurch entindividualisieren sie sich und wirken meist wie ein kollektives Bewusstsein. Eingebettet in eine ebenfalls farbreduzierte Umgebung, wirkt Harvest oftmals wie ein bewegtes Gemälde zwischen niederländischer Malkunst aus vorigen Jahrhunderten und einem der Spätromantik folgenden Realismus. Dörfliches Leben mit Mühlrad, Dorffest bei Feuer und dem Umgraben der Äcker. Wie beschaulich und stimmig könnte das alles nicht sein, gäbe es hier nicht diese dysfunktionale Dimension einer gesellschaftlichen Katastrophe.

Immer wieder erinnert Harvest an die Handschrift von Tsangaris Landsmann und Kollegen Yorgos Lanthimos. Wie sehr mag die Autorenfilmerin dabei eklektisch vorgegangen sein? Oder aber beide, Lanthimos und sie selbst, haben diesen Stil der weiten Winkel, der strengen Räume und opulenter Elemente in nüchternem Setting entwickelt haben? Bei Dogtooth oder Alpen hat Tsangari für Lanthimos als Produzentin fungiert – klar ist hier ein reger Austausch künstlerischer Ansichten entstanden. Und so mag auch Harvest aus dieser Ideenschmiede heraus entwickelt worden sein. Formal streng, sperrig und phlegmatisch agieren hier die Figuren. Das mag anstrengen, das mag fordern. Doch es bereichert den Zuseher auf seine seltsam-eigenwillige, experimentelle Art.

Mit Caleb Laundry Jones, zuletzt in Luc Bessons DogMan groß in Szene gesetzt, erhält Tsangari einen Protagonisten, der zwischen den Fronten schwebt, ein exponierter Einzelgänger, der den Lauf der Dinge beobachtet. So geht es dem Publikum ähnlich, es betrachtet Harvest als ein in sich geschlossenes, distanziertes antiquiertes Unikum, das gleichsam erschreckend progressiv erscheint.

Harvest (2024)

Monólogo Colectivo (2024)

ERST DER MENSCH, DANN DAS TIER

2/10


monologocolectivo© 2024 Viennale


LAND / JAHR: ARGENTINIEN, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2024

REGIE / DREHBUCH / KAMERA: JESSICA SARAH RINLAND

MITWIRKENDE: MACARENA SANTA MARÍA LLOYDI, MAJO MICALE, ALICIA DELGADO, JUANITA U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Heureka, ich habe ihn gefunden: Den womöglich missglücktesten Film dieses Jahres, der Zac Snyders Rebel Moon aus dem Vorjahr ablösen wird. Monólogo Colectivo, der sehr wahrscheinlich nur auf der Viennale hierzulande das Licht der Leinwand erblickt und wohl kaum ins reguläre Kinoprogramm aufgenommen werden wird, gibt vor, ein dokumentarischer Film zu sein, welcher die Kommunikation zwischen Mensch und Tier anhand von letzteren in temporärer Gefangenschaft beleuchten will. Will heißen: Lebewesen, die in Rehabilitationszentren und Auswilderungsstätten nur darauf warten, wieder Teil eines Ökosystems zu werden, welches nicht durch Menschenhand erschaffen wurde. Wie mit diesen zerbrechlichen, vulnerablen Tieren umgehen? Filmemacherin Jessica Sarah Rinland will darauf eine umfassende Antwort geben, die abendfüllend ausfallen soll. Erhellende Erkenntnisse, berührende Momente, Information. Nach den ersten Minuten jedoch drängt sich bereits beharrlich der Verdacht auf, im falschen Film zu sitzen.

Was ist hier los? Wir sehen Menschen, die aus altem Pappkarton, alten Zeitungen und Kleister eine Kuppel, einen Globus oder was auch immer errichten – um dieses Konstrukt im Dunkeln der hereingebrochenen Nacht abzufackeln. Schön und gut. Der Zweck und der Sinn bleiben einem, sofern man sich nicht mit argentinischer Folklore auskennt, verborgen. Noch mehr verborgen bleibt der Zusammenhang mit dem eigentlichen Thema. Der Verwirrung folgt aber bald ein Aufatmen, als eine junge Frau, eine Tierpflegerin möchte ich meinen, des Nächtens durch das Gehege von augenscheinlichen Klammeraffen streift. Streicheleinheiten durch die Gitterstäbe des Verhaus gehören da auch dazu. Und wir wissen: Ja, das könnte der Film um und mit Tieren sein. Mal sehen, wie sich das ganze weiterentwickelt.

Zu meiner großen Enttäuschung leider gar nicht. Monólogo Colectivo, dessen Titel sich mir genauso wenig erschließt wie das krude Konzept hinter diesem Machwerk, sättigt sich mit überflüssigem Filmmaterial und verbreitet dadurch eine lähmende Langeweile, die bald schon zu Frustration führt. Eine vage Struktur lässt sich erkennen, ein Schauplatzwechsel, Rinland führt diesen ungefähr zwei bis dreimal durch, für längere Zeit aber verweilt sie in kulturhistorischem Kontext zu einer Zoo-Anlage in einer argentinischen Großstadt, deren Skyline ich nicht erkenne, da Aufklärung ein Fremdwort bleibt. Weder erfahren wir, an welchen Orten wir uns befinden, noch wozu die Pflege der Tiere, mit Ausnahme jener des Zoos, führen soll. Wir erfahren nur sehr rudimentär, wer hier welche Agenden verfolgt, zwischen all der Informationsverweigerung lauschen wir logistischem Funkverkehr, während die Kamera sich weigert, das Wesen der Tiere einzufangen und lieber Belangloses filmt. Es kommt aber noch schöner. Unklar bleibt, welche Prioritäten Rinland hier setzt.

Wichtig sind wohl weniger die Tiere als der Mensch und seine Handwerkerqualitäten, wenn in Mitleidenschaft gezogener Stuck auf alten Zoogebäuden restauriert, Draht geflochten oder über die Seiten antiquarischer Zooaufzeichnungen gepinselt wird. All diese Szenen, die noch dazu quälend lange andauern, haben keinerlei Relevanz für ein Thema, von welchem ich erwartet hätte, dass sich Rinland diesem annimmt. Monólogo Colectivo versagt in erster Linie vorallem in der Auswahl seiner inhaltsleeren Bilder und uninteressanten Informationen.

Erst vor kurzem konnte ich die österreichische Dokumentation Tiergarten über den Zoo Schönbrunn genießen. Genau so macht man Filme über Arterhaltung, Tierliebe und der Sinnhaftigkeit solcher Institutionen für die Erhaltung von Ökosystemen. Hier stellen sich Personen vor, sagen was sie tun, zeigen dieses auch, sprechen zum Publikum. Hier gibt es Stoff und Entertainment, Wissen, das man sich mitnehmen kann. Monólogo Colectivo bietet das alles nicht. Es werden Tiere gefüttert, und zwar auf eine Weise, die diese abhängig vom Menschen macht, statt sie auf die Wildnis vorzubereiten. Es werden Brüllaffen gestreichelt, als wären sie das persönliche Haustier. Diese Sichtweise ist eine zutiefst anthropozentrische, Dialog auf Augenhöhe mit den Arten findet auch nicht mehr statt als anderswo – das macht wütend. Und wieder erfährt man nichts, außer die Tatsache, wie selbstverliebt ein Pseudo-Essay sein kann. Man erfährt auch, dass nicht jeder, der sich Filmemacher nennt, dieses Handwerk auch beherrscht.

Monólogo Colectivo (2024)

Else (2024)

MATERIE IM WANDEL

7,5/10


Else© 2024 WTFilms


LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2024

REGIE: THIBAULT EMIN

DREHBUCH: THIBAULT EMIN, ALICE BUTARD & EMMA SANDONA

CAST: MATTHIEU SAMPEUR, ÉDITH PROUST, LIKA MINAMOTO U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN 


Filme wie dieser sind der Grund, warum ich Events wie das Slash Filmfestival oder das deutsche Fantasy Filmfest (an welchem ich selbst noch nie war, dessen Programm sich aber mit dem Wiener Pendant überschneidet) so liebe. Um es mit den Worten des oft zitierten Forrest Gump zu sagen: Mehr noch als anderswo hat man es hier mit einer gut gefüllten Schachtel unterschiedlichster Pralinen zu tun, deren Geschmack sich erst offenbart, wenn man reingebissen hat. Denn im Genre des Phantastischen muss man den Schritt ins Unbekannte wagen. Jenseits dieser Schwelle gibt es Welten, die es real nicht gibt, die unserer Welt zukünftig ähneln könnten und in einen narrativen Kontext bringen, was wir uns in unserem präfrontalen Kortex alles ausdenken. Dabei gelingt es immer wieder, scheinbar festgefahrene Themenkreise wie das Ende der Welt, Vampire oder Zombie-Pandemien aus ihrem klischeebehafteten Dämmerschlaf zu holen. Neue Vibes braucht diese Art Kunst schließlich immer wieder.

Hier, im Filmcasino in Wien, können Pioniere, Debütanten und völlig autarke kreative Köpfe ihre Erstlingswerke präsentieren oder – ungeachtet des Zaumzeuges eines durch Marketingzwecke eingeschränkten Studios – Nischiges und höchst Sonderbares, Groteskes und Fürchterliches auf das interessierte Fanpublikum loslassen. Eines dieser Highlights auf der Reise in unmögliche und inspirierende Welten ist Else, ein Endzeitdrama der so gut wie gar nicht herkömmlichen Art, wobei sehr wohl erwähnt werden muss, dass der Umstand eines unkontrollierbaren Virus zumindest etwas ist, was der Film vielleicht mit anderen dieser Art gemeinsam haben könnte. Diese Seuche oder was immer das ist scheint zumindest höchst ansteckend, und aus diesem Grund lässt ein Lockdown ein junges Liebespaar in ihren vier Wänden verweilen – genauer gesagt sucht die quirlige Cassandra ihre Partybekanntschaft Anx auf, ein eher introvertierter Einzelgänger, der sich in der Wohnung seiner an Krebs verstorbenen Mutter verbarrikadiert hat. Beide biegen die Tage mehr recht als schlecht hin, doch dass sich bei dieser Katastrophe die Gefahr im Draußen bannen lässt, ist eine Illusion. Und das ist das Ungewöhnliche und regelrecht Absurde und kaum Vorstellbare in Else: irgendetwas auf diesem unserem Planeten bringt Materie dazu, miteinander zu verschmelzen. Dazu zählt der menschliche Körper, und je länger dieser mit den Gegenständen um ihn herum in Berührung verharrt, umso mehr gehen diese in den atmenden Organismus über. Der Mensch wird zur Wand, zum Lacken oder zum Tisch. Alles, was greifbar ist, greift ineinander, in mehreren Phasen – diesem Dilemma lässt sich nur entgehen, wenn man stets die Position wechselt. Eine Challenge, die keiner auf Dauer bestehen kann. Und so kommt, wie es kommen muss: Leblose Materie wird zum lebenden Organismus und umgekehrt. Wie Filmemacher und Virtuose Thibault Emin dieses Szenario auf die Leinwand bringt, ist ein immersives, eigenwilliges, doch letztlich atemberaubendes Erlebnis.

Kein anderer Film hat im Rahmen des Festivals meine Neugier so geweckt wie dieser – wie lässt sich ein solcher metamorpher Wahnsinn ohne Millionenbudget und großem Studio im Rücken umsetzen? Zu welchen Mitteln greift Regisseur Emin? Letztes Jahr hatte eine ähnlich gelagerte Endzeitvision seine Premiere – und zwar Animalia. Hier war es nicht tote Materie, sondern die Tierwelt, die ihre Gene mit jenen der Menschen vermischt hat. Herausgekommen sind diverse Hybride, formschön, elegant und mit hohem computertechnischem Aufwand umgesetzt. Effekte, die Wētā oder ILM wohl nicht besser hinbekommen hätten. In Else sind ganz andere Innovationen am Start. Vor allem Bodypainting und Make-up sind eine Sache, die andere findet ihre Umsetzung sehr wohl auch in animierten Bildern. Beides gemeinsam macht die Katastrophe immens greifbar. Doch das ist nicht alles: Während vor der ersten Phase der Verschmelzung die Welt noch in Farbe erscheint, ändert sich dies in Phase Zwei und Drei, Emin filmt nun in Schwarzweiß und lässt dadurch die Begrifflichkeit einer Welt, wie wir sie kennen, noch mehr verschwinden und verschwimmen. Bei Betrachtung der ersten halben Stunde des Films lässt sich niemals ausmalen, was letztlich folgen oder welches Ausmaß dieser Paradigmenwechsel erreichen wird. Den Wandel der Materie in dieses irgendetwas – eben Else – in einen einzigen, großen Organismus aus allem, was sich greifen lässt, beschreibt das surreal-abstrakte Drama wie eine Symphonie – das Bemerkenswerteste ist das dabei Zurückdrängen des kognitiven Bewusstseins, um instinktivem Empfinden Platz zu machen. Letztlich könnte die Wandlung einen Planeten neu gebären, der dem aus Stanislaw Lems Solaris gleicht. Einem komplexen himmelskörpergroßen, kollektiven Bewusstsein.

Diese Was wäre wenn-Idee auch wirklich umgesetzt zu haben, und zwar so, dass sie nicht lächerlich oder bemüht wirkt, sondern aus einem souveränen Selbstbewusstsein und einer Vision heraus entstanden ist, dafür gebührt Thibault Emin größer Respekt. Mit diesem Debüt hat der Franzose etwas Verblüffendes geschaffen, andererseits aber auch etwas, worauf man sich einlassen muss. Ein inspirierendes Werk, neuartig und pioniergeistig.

Else (2024)

Krazy House (2024)

DER TRITT INS ALLERHEILIGSTE

6/10


Krazy-House© 2024 Splendid Films

LAND / JAHR: NIEDERLANDE 2024

REGIE / DREHBUCH: STEFFEN HAARS & FLIP VAN DER KUIL

CAST: NICK FROST, ALICIA SILVERSTONE, KEVIN CONNOLLY, GAITE JANSEN, WALT KLINK, JAN BIJVOET, CHRIS PETERS, MATTI STOOKER U. A.

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Vom Stilmittel der Sitcom, um den American Way of Life zu demaskieren, war schon Oliver Stone überzeugt. In Natural Born Killers turtelten Juliette Lewis und Woody Harrelson unter dem Gelächter eines gebuchten Konserven-Auditoriums in generischen Einfamilienhaus-Kulissen herum, um dann eine blutige, aber medientaugliche Spur durchs Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu ziehen, ganz im Sinne eines Donald Trump, den man trotzdem wählen würde, hätte er auf offener Straße einen Menschen erschossen. Statt den beiden damaligen Jungstars wuchtet sich diesmal ein gottergebener, erzkatholischer Biblebelt-Hausmann namens Nick Frost (diesmal ohne seinen Partner Simon Pegg) von der Palmsonntags-Zeremonie ins traute Eigenheim zurück, mitsamt der nahe am Burnout nagenden Business-Ehefrau Alicia Silverstone und den beiden Kindern, die zwar Papas christliche Affinität mittragen, mittlerweile aber auf den selbstgestrickten Jesus-Pulli verzichten. Der Patriarch sieht das gar nicht gern, und er wundert sich obendrein, was Sohnemann Adam in seinem Zimmer chemischen Experimenten unterzieht. Die klare Sicht auf die Dinge, die die (allem Anschein nach) amerikanische Familie so umtreibt, wovor sie sich fürchtet und was sie niemals hinterfragt, bleibt Nick Frost alias der gutmütig brummige Bernie, verwehrt. Der konservative Glaube ist alles, und gerade in der Karwoche wird dieser blinde sakrale Gehorsam alles wieder ins richtige Lot bringen. Es sei denn, das Schreckgespenst einer russischen Invasion steht ins Haus. Diese wird verkörpert von drei Pfuschern aus dem weit entfernten, kommunistischen Osten – der Vater samt Nachwuchs. Anstatt den Wasserschaden in der Küche zu beheben, zerstören sie nach und nach die gesamten geheiligten vier Wände. Das alles eskaliert, die Gattin versinkt im Burnout und in der Tablettensucht, Adam frönt dem Crystal Meth und Tochter Sarah lässt sich schwängern. Kein Stein bleibt auf dem anderen, und selbst Holy Fucking Jesus, der Bernie immer mal wieder erscheint, um ihn an seine Demut im Glauben zu erinnern, trägt letztlich nichts dazu bei, die Vorstadt-Apokalypse auch nur ein klein wenig zu vereiteln.

Das niederländische Regie-Duo Steffen Haars und Flip van der Kuil klotzen einen farbenfrohen, derben Gewalt-Exzess vor die Kamera, stets Nick Frost im Fokus bewahrend, der eine Wandlung in drei Etappen durchmacht, die durch ein jeweils anderes Bildformat zumindest den Anschein einer Struktur bewahrt. Blickt man hinter das so bluttriefende wie blasphemische Stakkato grotesker Zustände, erkennt man zwei Autorenfilmer, die durchaus bereit sind, die vom bigotten Westen so stolz gelebten Dogmen und geduldeten Laster von Grund auf zu hinterfragen. Warum der fanatische, evangelikale Gottesglaube, warum die Lust an der Droge, die Sucht nach Tabletten, die Heiligkeit des familiären Vierbeiners, das Feindbild aus dem Osten. Krazy House geht sogar so weit, um Verhaltensmanierismen wie das Kaugummikauen, den Putzfimmel und die heuchlerische Allwetter-Freundlichkeit zu verlachen und auf den gebohnerten Boden zu schmettern. Mit Nick Frost, dessen Zahn- und Zahnlosprothese herrlich irritiert, hat Krazy House gerade aufgrund all der befremdenden Polemik eine Identifikationsfigur zwischen biblischem Hiob und amoklaufendem Normalo gefunden, der in die Fußstapfen eines untätigen Versager-Christus stapft, um all das Übel dieser Welt aus der Bequemlichkeitsblase zu treiben.

In diesem satirischen Enthusiasmus treiben es Haars und van der Kuil so sehr und so unbedingt auf die Spitze, dass am Ende das Chaos zu gewollt erscheint, zu erzwungen verrückt und häretisch – es ist die Inflation bizarrer Einfälle, die sich gegenseitig ihre Wirkung nehmen, die dann nur noch als dauerfeuernde Destruktionsorgie zwar die Hartgesottenen unterhält, die aufgrund ihrer selbstbewussten Gelassenheit gut damit leben können, dass dem Haushund die Birne weggeschossen wird oder der Sohn Gottes dem Hirntod erliegt, letztlich aber weder wirklich aufregt oder vor den Kopf stößt. Ein Schmunzeln ob des reuelosen Rundumschlags mag Krazy House sicher sein. Doch viel mehr als lautstark herumzutrampeln steht dem pseudohämischen Streifen gar nicht im Sinn.

Krazy House (2024)

Naga (2023)

KAMELE ZUM FÜRCHTEN

6/10


naga© 2023 Netflix Inc.


LAND / JAHR: SAUDI-ARABIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: MESHAL ALJASER

CAST: ADWA BADER, YAZEED ALMAJYUL, MIRIAM ALSHAGRAWI, OUMKALTHOUM SARAH BARD, JABRAN ALJABRAN, ALI ALDUWIAN, KHALID SAAD, KHALID BIN SHADDAD, AMAL ALHARBI U. A.

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Filme gibt’s, die, so glaubt man, gibt’s gar nicht. Zumindest nicht in Saudi-Arabien. Und dennoch: Mit Naga, uraufgeführt bei den Toronto Filmfestspielen in der Sektion Midnight Madness und ebenfalls passend gewesen fürs Slash Filmfestival, wäre dieser Streifen nicht auf Netflix erschienen, wird die Gehorsamspflicht gegenüber dem Patriarchat zwar nicht zwingend mit Kamelfüßen getreten, dafür aber bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und so weit ausgereizt, dass man es fast für unmöglich halten würde, das irgendetwas von dem, was hier passiert, jemals noch ein gutes Ende nehmen könnte. Ob es das schließlich tut, darüber verrate ich natürlich nichts. Schließlich ist Naga ein Psychothriller aus der Wüste, in der sich Zeit und Raum verschieben lassen, und zwar so weit, wie es das eigene Unterbewusstsein, zusammengesetzt aus Schuldgefühl, Pflichtbewusstsein, Trotz und Freiheitsdrang, verlangt. In die saudi-arabische Wüste fährt man, um Spaß zu haben. Und zwar so, wie es der Westen tut. Die Wüste ist in Naga ein gesetzliches Niemandsland, oder sagen wir: eine Grauzone, in der die Kontrollorgane des Staates nur leise fiepen oder sich im Sand verlieren, wenn sich die Verfolgung mit dem Streifenwagen nicht lohnt.

Die junge Sarah hat vor, mit ihrem Freund Saad eines dieser geheimen Events, geschmissen vermutlich von einem Krösus ohne Selbstauflagen, aufzusuchen. Doch bei der Sache gibt es mehrere Haken: Erstens hat Sarah lediglich die Erlaubnis für eine Shoppingtour in Riad – ein Abweichen der vereinbarten Norm führt vermutlich zu drakonischen Strafen. Und zweitens muss sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, wenn Papa sie abholt. Dürfte nicht schwierig werden, denkt sich die rebellische junge Dame, sofern geheim bleibt, dass sie statt Shoppen eben Party feiert. Im letzten Licht des Tages geht die Tour inkognito in die Wüste – um immer mehr und mehr aus dem Ruder zu laufen. Dabei spielen Kamele keine untergeordnete Rolle.

Naga bringt zusammen, was ein mit ordentlich Lokalkolorit ausgestatteter Thriller aus Saudi-Arabien, der sich zur bizarren Groteske mausert, an landestypischen Versatzstücken einsammeln kann: Die gesetzlose Wildheit der kargen Landschaften, die Hoffnungslosigkeit im Nirgendwo, das Zweierleimaß-Messen an Moral und natürlich die zweihöckrige Nemesis, die sich inmitten finsterster Nacht auf Sarah stürzen wird, hässlich bis zur Unkenntlichkeit und bedrohlich wie der Weiße Hai. Um diese wohl beste Horrorszene herum rudert Naga wie wild mit den Armen. Autopannen, Verfolgungsjagden, eingesperrt im Kofferraum und ein Wettlauf mit der Zeit. Wenn Meshal Aljaser seinen Suspense-Reißer auf seine Protagonistin und das vermaledeite Auto reduziert, gelingen Naga einzigartige Szenen. Darüber hinaus weiß er anscheinend nicht so recht, zu welchen Stilmitteln er greifen will, um die bizarre Gesamtsituation aus Pech und Kettenreaktion darzustellen. Das eine Mal bleibt die Kamera distanziert und filmt Geschehnisse aus lächerlich großer Entfernung, das andere Mal wirft sich das Auge des Betrachters ins Getümmel. Das sind jede Menge reizvolle Ansätze, Naga spielt mit den Normen und will experimentieren. Das ist ambitioniert, und auch ungewöhnlich. Letztlich stimmt auch die Wahrnehmung der Zeit nicht mehr, und was real ist und was nicht, bleibt ungeklärt. Und irgendwann fragt man sich: Welches ist die schlimmere Furcht – jene vor dem häuslichen Patriarchat oder jene vor einem wütend gewordenen Kamel, das auf Rache sinnt?

Naga (2023)

Perfect Days (2023)

DAS GLÜCK DES URBANEN MENSCHEN

8/10


perfectdays© 2023 The Match Factory


LAND / JAHR: JAPAN 2023

REGIE: WIM WENDERS

DREHBUCH: WIM WENDERS, TAKUMA TAKASAKI

CREDIT: KŌJI YAKUSHO, ARISA NAKANO, TOKIO EMOTO, YUMI ASO, SAYURI ISHIKAWA, TOMOKAZU MIURA, AOI YAMADA, MIN TANAKA U. A.

LÄNGE: 2 STD 3 MIN


Für Wim Wenders braucht man Zeit. Keine große Eile, keine Hummeln im Hintern oder rotierende Gedanken, die den eigenen nächsten Tag planen wollen. Für Wim Wenders sollte man in sich ruhen, den Herrgott mal, sofern dieser nötig ist, einen guten Mann sein und lassen und auf Entschleunigung setzen. Das war bei Wenders‘ Filmen schon immer so. Nur jetzt, in seinem Werk Perfect Days, ist der kontemplative Faktor einer, der das Geschehen bestimmt. Un dieses ist gerade gut genug, um zufrieden auf so manche Tage zurückzublicken, die manchmal nicht viel mehr bescheren als wiederkehrende Rituale und Handlungen, in denen aber sehr viel von dem liegt, was unsereins heutzutage an allen Ecken und Enden im öfter vermisst: Geborgenheit, Sicherheit, Genügsamkeit. Die Freude an kleinen Dingen, an den Himmel am Morgen, an den ersten Kaffee, an sorgsam getane Arbeit oder an das Schmökern im Buch unserer Wahl kurz vor dem Einschlafen: Momente wie diese sind Gold wert, in einer Welt im Umbruch. Sie bieten die Konstante, um nicht den Verstand zu verlieren. Nicht nur Wim Wenders weiß das, auch sein Protagonist Hirayama.

Das Ungewöhnliche in einem ohnehin ungewöhnlichen Film: So wirklich viel über diesen recht wortkargen Einzelgänger erfährt man nie. Hirayama ist ein Mann ohne Biographie. Einer, der im Jetzt verweilt, der keine Vergangenheit hat und auch die Zukunft nicht plant. Hirayama ist allerdings kein Fremder in einer uns fremden Welt wie Tokyo – er ist einer, der aufgrund seines ausgesparten bisherigen Lebenswandels genügend Raum lässt für die Eigeninterpretation eines jeden Betrachters, die nicht ohne persönliches Kolorit vonstatten geht. Diese Reduktion erlaubt einen ungeahnten Zugang zu einer Figur, die nicht mal einen Namen gebraucht hätte, um sich mit ihr zu identifizieren. Meist agiert der in Cannes geadelte Schauspieler Kōji Yakusho ohne Worte, wird geradezu pantomimisch in manchen Szenen. Schenkt seinem gegenüber manchmal nur ein Brummen. Lässt sich dann, als seine Nichte ihn eines Tages überrascht, zu Mehrwortsätzen hinreissen. Auch die sind wertvolles Gut. Denn Hirayama ist mit sich und seinem bescheidenen Leben im Einklang. Alles scheint gesagt. Der Rest ist Schweigen.

Dieses Leben bietet auf den ersten Blick wahrlich nichts Aufregendes. Doch braucht es das? Ist das Abenteuer wirklich das, wofür wir alle hinarbeiten und wofür es sich nur deswegen zu leben lohnt? Die Alternative ist das Glück im Kleinen, das auch nur dann greifbar werden kann, wenn manche Tage misslingen. Hirayama dürfte, so mein Verdacht, ein ganzes, komplett anderes Leben hinter sich gelassen haben. Womöglich war er mal wohlhabend, hatte Erfolg, fand sein Elysium im Materiellen und im gesellschaftlichen Status. Wir wissen: Hirayama ist ein Intellektueller, ein Denker und Planer. Was er allerdings den ganzen Wochentag lang macht: Er putzt die öffentlichen Toiletten der japanischen Großstadt, die. architektonisch betrachtet, jeweils kleine Sehenswürdigkeiten für sich sind. Kloputzen – im Ranking aller Jobs womöglich ganz unten. Tiefer, so meinen andere, würde man beruflich kaum sinken können. Unser Glücksmensch hier sieht das anders. Steht jeden Morgen zur selben Zeit auf, nimmt den Tag mit einem wohlwollenden Lächeln, lauscht den Klängen seines Kassettendecks im Minibus, den er umfunktioniert hat zu einem fahrenden Cleaning Office. Läuft alles gut, hat er nachmittags noch Zeit für Körperpflege, Entspannung und gutem Essen irgendwo in einer der Malls, wo ihn jeder kennt. Alles hat seine Ordnung – und doch ist die Unordnung oft genau das, was die Ordnung erst möglich macht.

Wenders, der eigentlich nur eine Auftragsdoku zu genau diesem Thema machen wollte, nämlich zu öffentlichen Bedürfnisanstalten und ihre baulichen Besonderheiten, lässt seinen liebgewonnenen und bewusst bescheiden lebenden, universellen Stadtmenschen die entscheidenden Faktoren für so manchen Perfect Day erfahren. Dabei stellt sich heraus, dass dieser hohe Anspruch die Summe nicht nur positiver Empfindungen ist. Dazu gehören genauso gut Traurigkeit, Wut, unerfüllte Zuneigung, Selbstlosigkeit und Flexibilität. Nicht zuletzt die Relativierung der eigenen Sehnsüchte und Bedürfnisse, wenn man die Augen offen hält für jene, die einen umgeben. Wenders Film ist eine elegische Erfahrung, innehaltend und überlegt, beobachtend und liebevoll. Er findet nicht nur Gefallen an der Genügsamkeit – er lobt diese sogar, ohne idealistisch zu sein. Er schenkt Hirayama Raum und Zeit und gibt ihm die Chance, im Hier und Jetzt zu verweilen. Selbstzufriedenheit ohne Egozentrik, Selbstfürsorge, ohne an anderen vorbeizugehen. Worauf es ankommt, darüber sinniert Wim Wenders in seinem mit traumartigen Bild- und Klangcollagen strukturierten und von Lou Reed, Velvet Underground, Patti Smith, The Animals oder Nina Simone akustisch unterlegten Reflexion auf die individuelle Erfüllung im schnelllebigen Anthropozän.

Perfect Days (2023)

The Trouble with Being Born

TRÄUMEN ANDROIDEN VON IHRER KINDHEIT?

6,5/10


thetroublewithbeingborn© 2020 eksystent distribution

LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2020

REGIE: SANDRA WOLLNER

DREHBUCH: SANDRA WOLLNER, RODERICK WARICH

CAST: LENA WATSON, DOMINIK WARTA, INGRID BURKHARD, JANA MCKINNON, SIMON HATZL U. A.

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Dem österreichischen Film haftet sehr oft an, trist, problembeladen und sperrig zu sein. Meist sind das Themen rund um soziale Minderheiten und Missstände oder künstlerisches Herumexperimentieren; oft nicht uneitel und verkopft. Manchmal aber hat genau diese Art und Weise, einen Film zu inszenieren, seinen eigenen Reiz. Und vor allem dann, wenn man zumindest die längste Zeit davor Kunststücken dieser Art ausgewichen war und nach regem Eventkino- und Blockbusterkonsum als Filmfan mal wieder etwas nötig hat, das einer gewissen audiovisuellen Überreizung entgegensteuert. Sandra Wollners Science-Fiction-Drama The Trouble with Being Born ist so ein Film. Und für alle, die Science-Fiction lieben, einen Blick wert. Themenverwandt ist Wollners Abschlussarbeit an der Filmakademie mit Werken wie Ex Machina oder A.I. – Künstliche Intelligenz, allerdings deckt dieser hier ein ganz anderes, ungenutztes Spektrum ab, nämlich das des verwirrenden Kunstfilms, der mit Wortspenden geizt und vieles im Vagen lässt, um den Zuseher sehr viel später dessen Interpretation der Dinge zu bestätigen.

Wie Haley Joel Osment in A.I. wird auch das Androidenmädchen Elli mutterseelenallein auf eine Reise geschickt, die scheinbar im Nirgendwo zu enden gedenkt. Anfangs jedoch ist sie Tochterersatz für einen Vater, dessen leibliches Kind seit zehn Jahren als vermisst gilt. Wollner stellt, so wie Maria Schrader in ihrer bemerkenswerten Robotik-Satire Ich bin dein Mensch, die Frage: wie sehr gelingt es dem Menschen, für sein Lebensglück sich selbst auszutricksen, um sich an den dargebotenen Emotionen einer Maschine sattzuempfinden? Anscheinend keine Schwierigkeit im Zeitalter der Medien, die uns andauernd Gefühle als etwas Echtes verkaufen. Eines Tages allerdings verschwindet Elli, ist unterwegs nach irgendwohin, vielleicht dorthin, wo ihre programmierten Erinnerungen sie bringen mögen. Dabei landet sie bei der alten Anna („Toni Sackbauer“ Ingrid Burkhard), die mit so einem Ding erstmals nichts anfangen kann. Doch einen Roboter kann man umprogrammieren. Oder nicht?

Das Künstliche gegen das Natürliche: Sandra Wollner setzt in ihrer Bildsprache einen konsequenten Kontrapunkt, indem sie vollends auf Künstlichkeit verzichtet. Einige Sequenzen geraten enorm dunkel, Gesichter sind dann nur noch kaum zu erkennen. Das macht die ganze Angelegenheit relativ düster und auf eine unaufgeforderte Weise übertrieben schwermütig. Auch lange, wortlose Passagen, in denen unglückliche Figuren unglücklich in die Gegend blicken, erwecken den Eindruck einer inhärenten Unzufriedenheit. Angenehm künstlich und ungekünstelt zugleich mutiert Lena Watson zu einem – wie Wollner selbst zitiert hat – Anti-Pinocchio mit wächsernem Gesicht, der in völlig lethargischem Standby anderen für was auch immer zur Verfügung steht, selbst aber durch eine Art Missbrauch an der Maschine mit seinen Identitäten durcheinander kommt. Dieser ganz eigene Aufstand des Künstlichen ist eine melancholische Robotiade nach Asimov’schen Leeren, die durchaus und eben sehr gerne aus den Randbezirken experimenteller Filmtechniken hätte ausbrechen wollen. Das Potenzial ist klar vorhanden, stellenweise überzeugt das Drama zumindest rückblickend – etwas weniger Distanz hätte das Bewusstsein für verwunschene Roboterseelen durchaus geschärft.

The Trouble with Being Born