Welcome Home Baby (2025)

NICHT NUR DIE KIRCHE IM DORF LASSEN

5/10


© 2025 Lotus Film / Petro Domenigg


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2025

REGIE: ANDREAS PROCHASKA

DREHBUCH: CONSTANTIN LIEB, DANIELA BAUMGÄRTL, ANDREAS PROCHASKA

KAMERA: CARMEN TREICHL

CAST: JULIA FRANZ RICHTER, REINOUT SCHOLTEN VAN ASCHAT, GERTI DRASSL, MARIA HOFSTÄTTER, GERHARD LIEBMANN, INGE MAUX, LINDE PRELOG U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Es ist wieder soweit! Nach einem kurzen Vorgeschmack im Frühling, der sich Slash ½ nennt, senken sich mit der herbstlichen Düsternis auch allerlei bizarre Visionen, krude Ideen und verrückte Innovationen aus der Filmbranche auf die Wienerstadt hernieder. Für zehn Tage beschert das Filmcasino und das METRO Kinokulturhaus Genreliebhabern und solchen mit Hang zu Schrecklichem Gustostückerln aus der Independent-Sparte, darunter auch manches, dass nicht ganz so nischig ist, sich aber genauso anfühlt. Wie zum Beispiel der neue Film von Andreas Prochaska, österreichischer Vorreiter und Experte, was vor allem Filme betrifft, die nicht nur auf Subventionen aus der Filmförderung angewiesen sind, weil sonst keiner ins Kino geht.

Bei Prochaska schrauben sich Besucherzahlen in die Höhe, was vielleicht auch daran liegen mag, dass in seinen Filmen Emotionen getriggert werden, die nicht gleich in erster Linie einen auf gesellschafts- und weltpolitische Betroffenheit machen. Was Prochaska kann, das ist Entertainment, das ist griffig-spektakuläres Mainstreamkino mit Hand zum Autorenfilm, bestes Beispiel wohl Die unabsichtliche Entführung der Frau Elfriede Ott – ein Knaller unter den österreichischen Komödien, böse, schelmisch und auf intellektuelle Weise infantil genug, um ordentlich abzukassieren. Neben diesem Ausflug ins Komödienfach musste man Jahre zuvor nur bis drei zählen, schon war man tot: Ein Horrorthriller und sein Sequel sorgte damals, in den 10er Jahren des neuen Jahrtausends, für Furore. Nicht zu vergessen Tobias Moretti und Sam Riley in der Corbucci-Westernhommage Das finstere Tal. Alles Genrefilme: klar konturiert, famos strukturiert, und handwerklich sowieso erste Liga.

Landfluch gegen Landflucht

Sein neuestes Werk, Eröffnungsfilm des eingangs erwähnten herbstlichen SLASH Festivals, kommt dabei deutlich vom Weg ab und holt sich die dörfliche Diabolik aus In 3 Tagen bist du tot wieder ans Set – nur diesmal geht Prochaska noch einen Schritt weiter und orientiert sich an Parametern, die in Stephen Kings Pennywise-Kleinstadt Derry, Lynchs Twin Peaks und in Zach Creggers neuestem Streich Weapons – Die Stunde des Verschwindens zu finden sind. Eine gute Überdosis Mystery injiziert der Filmemacher seinem undurchschaubaren, schleichenden Alptraum, der sich über weite Strecken nicht erklären lässt und der sich, je weiter Schauspielerin Julia Franz Richter (u. a. Rubikon) darin versinkt, immer unmöglicher scheint, dass dieser jemals entwirrt werden könnte. Von der ersten Sekunde an setzt Prochaska auf eine phlegmatische, skeptische Düsternis, die noch durch die desolate Ohnmacht einer durch eine Autobahnbrücke unterjochte Dörflichkeit unterstrichen wird.

Hier, im österreichischen Nirgendwo, soll die im Kindesalter weggegebene Judith den Nachlass ihres verstorbenen, aber unbekannten Vaters übernehmen – ein altes, mehrstöckiges Jagdhaus, in dem es zu spuken scheint und doch auch wieder nicht, in dem so scheinbar gutmütterliche Gestalten wie Tante Paula darauf warten, das verloren geglaubte Dorfmitglied wieder in ihre Arme zu schließen. Doch Obacht: die phänomenale Gerti Drassl ist diesmal nicht so herzlich und aufopfernd, wie sie anfangs scheint. Selten zuvor hat Drassl eine so perfide Rolle verkörpert wie hier. Die Finsternis steht ihr gut, auch Maria Hofstätter schickt mitunter Seitenblicke, da läuft es einem kalt über den Rücken. Und Inge Maux – Ihr Grinsen ist gespenstisch. So tragen diese drei Frauen und noch viel mehr von der Sorte Mensch dazu bei, dass sich Judith zusehends unwohl fühlt, und mehr darüber wissen will, warum sie seinerzeit im Stich gelassen wurde. Das Stochern im Vergangenen bringt eine diffuse Verschwörung an die Oberfläche, die sich kein einziges Mal deklariert, sich niemals zur Gänze offenbart und in der Mutmaßung und reinen Theorie verharrt, ohne dass Welcome Home Baby jemals für Klarheit sorgt.

Symbolism Overkill

Ein Umstand, der als ein höchst unbefriedigender zumindest anfangs ein freudloses Mysterydrama prägt, angereichert mit traumartigen Visionen über Ertrinken, Schwangerschaft und Feuertode im Wald und mit der leisen Metapher auf drohende Landflucht. Mit Symbolik weiß Prohaska nicht wirklich umzugehen, lieber macht er Nägel mit Köpfen. Bei einem polanskischen Suspense-Horror wie diesem entgleiten ihm die Versatzstücke, poltern viel zu viele Genre-Imitate durchs Bild, und als wäre das nicht schon genug, füttert er sein unklares Treiben mit versteckten Gängen, Totenköpfen und hexischem Treiben. Dieses Zuviel an bigotter Tarnung, Verwunschenheit und symbolistischer Traumata beschert Prochaska keine eigene Handschrift mehr, das meiste wirkt auffallend arrangiert, wenig originär, sondern inspiriert durch andere Vorbilder wie Rosemary’s Baby oder Aris Asters Midsommar. Ein zuviel kann folglich auch übersättigen, und ist man übersättigt, wird man müde, und so zieht Welcome Home Baby in behäbiger, viel zu entschleunigter Bedrohlichkeit, die den Verve von In 3 Tagen bist du tot vermissen lässt, hin zu einem überladenen Folk-Horror-Brimborium, das sich in seiner behaupteten Metaphysik nur noch übernimmt.

„Wie ist es, auf der anderen Seite?“, fragt im Flüsterton die bettschwere Linde Prelog – einer der unheimlichsten Momente des Films. Nun, das werden wir nie erfahren. Alles hier schöpft doch nur aus diesseitigen Quellen.

Welcome Home Baby (2025)

Resurrection (2022)

MIT DEM TRAUMA SCHWANGER GEHEN

6/10


resurrection© 2022 IFC Films


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: ANDREW SEMANS

CAST: REBECCA HALL, TIM ROTH, GRACE KAUFMAN, MICHAEL ESPER, ANGELA WONG CARBONE U. A. 

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Wer mit Filmen wie Rosemaries Baby, Ekel oder Darren Aronofskys mother! nicht viel anfangen konnte, und wem diese obskuren und völlig kranken Sinnbilder rund um Geburt, Abhängigkeit und Paranoia einfach zu viel sind, um sich nach dem Arbeitsalltag auch noch interpretieren zu müssen, dem sei von Resurrection so ziemlich abgeraten. Dabei würde man anfangs gar nicht vermuten, es mit einem Film zu tun zu haben, der mit Vernunft überhaupt nichts am Hut hat, obwohl es zuerst den Anschein hat, dass zumindest Rebecca Hall als Protagonistin Margaret mit beiden Beinen im realen Leben steht, ist sie doch Chefin eines Pharmaunternehmens mit schickem Büro in einem Glas- und Stahlgebäude und einer adrett eingerichteten Wohnung samt fast volljähriger Tochter. Es scheint alles seine Ordnung zu haben, bis eines Tages ein Mann aufkreuzt, der Margaret in Schockstarre versetzt: Dieses Individuum namens Dave, dargestellt von Tim Roth auf gewohnt phlegmatische, aber niemals zu unterschätzende Art, hat vor mehr als zwanzig Jahren Margarets Leben zur Hölle gemacht. Irgendetwas muss da gewesen sein, und es hat mit einem Jungen namens Ben zu tun, der allgegenwärtig scheint. Dieses Baby ist es auch, welches Margaret plötzlich in ihren Albträumen erscheint. Und dieser Dave ist es, der eine ganz eigenartige Wirkung auf die sonst resolute Geschäftsfrau hat, die immer mehr und mehr den Boden unter ihren Füßen und somit die Kontrolle über ihr Leben verliert. Ist es Hörigkeit, die Margaret so abhängig macht von diesem Kerl, der eigentlich gar nichts proaktiv von ihr will? Ist es neurolinguistisches Triggern? Hypnose? Welche Macht hat Dave über Margaret, dass er sie zwingt, barfuß zur Arbeit zu laufen? Zumindest scheint es so, als wäre Tochter Abby in größter Gefahr. Die allerdings kennt sich vorne und hinten nicht aus. So wie wir als herumrätselndes Publikum, dass das, was Tim Roth so von sich gibt, einfach zu absurd findet, um ihm nur eine Sekunde lang ernst nehmen zu können.

Zu lachen gibt’s trotz der völlig bizarren Umstände allerdings nichts. Je mehr Worte man über dieses ungesunde Wechselwirken aus Diktat und Hörigkeit verliert, umso bedauernswerter wäre das. Auf Resurrection sollte man sich einlassen – und eine Prämisse hinnehmen wollen, die gänzlich aus Symbolismen besteht. Je länger der Film dauert, umso weniger hat das Ganze mit der Realität zu tun, doch nicht bildlich. Wieder fällt mir Roman Polanskis Ekel ein. Wahn wird zur Wirklichkeit, doch wovon nährt sich dieser? Von unbewältigten Traumata, von Schuldgefühlen und vom tiefsitzenden Schmerz einer Mutterfigur. Hinzu kommt die Angst, dass sich das ganze Unglück wiederholt. Autorenfilmer Andrew Semans bezieht in seinem subtilen Horror niemals wirklich Stellung. Er schafft auch keine Klarheiten oder enthüllt seine Metaphern, die sich dann zu einer Metaebene bekennen würden, die vielleicht für das Trauma eines plötzlichen Kindstodes oder gar einer Fehlgeburt stünden. Semans lässt alles offen und lädt ein zur Spekulation. Er erklärt nichts, sondern deutet nur an. Resurrection ist die Chronik einer ins Chaos mündenden, seelischen Belastung und spielt mit Themen, die sich mitunter sogar in Edward Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf zutage treten und so sensibel sind, dass sie in ihrem seltsam-phantastischen Kontext auf fahrlässige Art verstörend wirken könnten. Allerdings braucht man, um dieses Interpretationsvakuum zu schaffen, ganz schön viel Mut. Eine Eigenschaft, die sich nur das Independentkino leisten kann, ohne Rücksicht auf Verluste.

Resurrection (2022)

Thelma

WÜNSCH DIR WAS!

7,5/10

 

thelma© 2017 Thimfilm

 

LAND:  NORWEGEN, FRANKREICH, DÄNEMARK, SCHWEDEN 2017

REGIE: JOACHIM TRIER

CAST: EILI HARBOE, KAYA WILKINS, HENRIK RAFAELSEN, ELLEN DORRIT PETERSEN U. A.

 

Das Leben ist kein Wunschkonzert, das wissen wir. Oft läuft’s nicht so, wie man will, und meist anders, als man denkt. Wenn das Leben aber doch ein Wunschkonzert ist, was dann? Was, wenn die geheimsten Wünsche plötzlich wahr werden? Eines aber vorweg – Wünsche können gern auch zum Nachteil für andere werden. Das ist das weniger gut, so sehr es auch schön sein mag, Wünsche erfüllt zu sehen. Selbstlos sind diese selten. Gerne erinnere ich mich an das Meisterwerk von Andrei Tarkowski: Stalker, nach einem Roman der Strugazki-Brüder. In diesem Science-Fiction-Szenario gibt es eine kontaminierte Zone, in der die geheimsten Wünsche, auch wenn sie sich der Wünschende noch nicht bewusst gemacht hat, wahr werden können. Allerdings: besser, an einen Ort zu gehen, der dieses verheißungsvolle Wunder vollbringen kann als dieser Ort selbst zu sein. Die merkwürdige Thelma nämlich, die ist so ein „Ort“. Ein sehr geheimer noch dazu. Keiner weiß davon, dass mit der jungen Norweger Studentin etwas nicht stimmt. Außer die Eltern natürlich. Die sind an den rätselhaften Skills ihrer Tochter schon mehr schlecht als recht verzweifelt. Und hoffen, dass, wenn Thelma ihr eigenes Studentenleben beginnt, diese schlummernden Kräfte nicht aktiviert. Zufällig vielleicht, weil sie selbst nicht weiß, was mit ihr los ist.

Wer weiß das schon so genau in Joachim Triers Mysterydrama. Ähnlich wie So finster die Nacht oder When Animals Dream wählt der Streifen die harmonische Balance zwischen dem Paranormalem und einem konventionellen Coming-of-Age-Drama. Dabei macht der Mix erst aus den beiden Komponenten etwas angenehm Ungewöhnliches – einen Film mit jeder Menge Suspense, surrealen Einsprengseln und vor allem einer einnehmenden Protagonistin, der Schauspielerin Eili Harboe (u. a. The Wave) so einige verwirrende, rätselhafte und faszinierende Facetten abgewinnen kann. Leicht darzustellen ist die Person der Thelma nicht. Wie denn auch – Thelma ist im Begriff erwachsen zu werden, hat womöglich die Pubertät hinter sich oder ist gerade mittendrin. Lernt die erste Liebe kennen und vor allem Selbstverantwortung, Wird von niemandem beobachtet, nur von sich selbst, und hat Zeit, ihren Körper, ihre Skills und ihre Leidenschaften zu entdecken. Das ist an unkalkulierbarem Abenteuer sowieso schon genug. Aber da kommt noch die Sache mit den Wünschen dazu, und die unkontrollierte Gabe, nicht nur Dinge zu bewegen, sondern auch den Willen anderer zu steuern. Marvel-Kenner würden jetzt sagen, Thelma ist eine Mutantin, und sollte schleunigst zu Xavier an die Mutantenschule, um ihre Kräfte unter Kontrolle zu bekommen. Dark Phoenix kann davon ein Liedchen singen. Thelma singt lieber weniger als das sie träumt. Oder Visionen hat, versetzt mit Ängsten. Das kann zum Horror werden – und wird es manchmal auch, aber relativ dezent, in gruseligen Spitzen, die den Prozess einer Abnabelung oder einer Emanzipation vom Elternhaus symbolistisch verklärt. Thelma ist manchmal wie das sehnsüchtige Gedicht über eine junge Dame. Und zwar einer, die sich zu klein für eine Welt fühlt, die vieles oder auch zu wenig von ihr will. Wer bin ich, wer kann ich sein – wer möchte ich sein? Fragen, die sich junge Menschen ab einem gewissen entwicklungstechnischen Wendepunkt sowieso immer stellen. Die aber in Thelma mit den Mitteln des Phantastischen elegant herausgeklopft werden. Dieser Symbolismus, der erinnert in diesem Film manchmal an die Bildnisse von Edvard Munch oder an die Stücke Henrik Ibsens, der ganz viel mit manifestierter Metaphorik gearbeitet hat. Es ist eine andere Art des Expressionismus, weniger visuell, dafür aber mehr narrativ.

Thelma ist demzufolge ein klassisch skandinavisches Werk, düster-melancholisch, verträumt und manchmal explizit. Das Konzept fasziniert, so wie der ganze Film, und er schließt seinen aufregenden Bogen der Geschichte in einer zerstörerischen Befreiung (die gerne mit Stephen Kings Carrie verglichen wird), die das Grauen aber nicht entwurzelt und das, was ohnmächtig macht, zu kontrollieren versucht. Ein Vorhaben, das fasziniert und gleichermaßen mitreisst.

Thelma

Birds of Passage

DAS ÜBEL MIT DER WURZEL

7,5/10

 

birdsofpassage© 2018 Ciudad Lunar, Blond Indian, Matea Contreras

 

ORIGINAL: PÁJAROS DE VERANO

LAND: KOLUMBIEN 2018

REGIE: CIRO GUERRA, CRISTINA GALLEGO

CAST: CARMINA MARTINEZ, JHON NARVAEZ, JOSÉ ACOSTA, NATALIA REYES, GREIDER MEZA, JOSE VICENTE COTES U. A.

 

Eine karge Ebene, über die der Wind weht. Dürre Bäume. Man möchte meinen, man wäre in der Sahelzone. Falsch gedacht. Dieses Ödland ist Kolumbien. Wobei ich bei Kolumbien in erster Linie an dichte Wälder denke, bis an die Küste. Die Hütten der Wayuu allerdings, die stehen dort, wo Touristen womöglich kaum hinkommen. Nämlich an der Halbinsel La Guajira im Norden des Landes, direkt an der Grenze zu Venezuela. Wer die Wayuu eigentlich sind? Ein indigenes Volk mit Prinzipien, strengen Regeln und Ritualen. Und mit einem schier grenzenlosen Glauben an eine höhere, fast schon prophetische Bedeutung der Dinge. Kommt bekannt vor? Zumindest wenn man ans Römische Reich denkt, da waren die sogenannten Auguren jene, die aus allem was sie sahen, hörten oder in die Finger bekamen, die Zukunft lesen oder zumindest erahnen konnten. Soweit ich weiß, wurde selbst Cäsar davor gewarnt, an den Iden des März im Jahre 44 v.Chr. den Senat aufzusuchen. In den Wind schlagen lässt sich sowas recht einfach. Und in den Wind, der da an der Halbinsel unablässig weht, schlagen auch die Wayuu sämtliche Omen, wenn es um Profit geht. Den entdeckt nämlich in den 60er Jahren ein in die Sippe der Wayuu eingeheirateter junger Mann namens Rapayet, der einigen Amis Marihuana verkauft. Die wollen bald mehr, und so wird das grüne Gold, wie es im Untertitel des Filmes heißt, Zankapfel sämtlicher Clans, die alle ein Stück vom Kuchen wollen und bald lästige Konkurrenz mit bewährtem Blei der Einfachheit halber auszuschalten gedenken. Irgendwie rauft man sich zusammen, auch wenn man sich nicht ausstehen kann und die Ehre der Familie ständig im Weg ist. Die wird dann auch, nachdem alle Jahrzehnte später in ihrem Reichtum förmlich ertrinken, allen zum Verhängnis – und eine bittere Tragödie nimmt ihren Lauf.

Birds of Passage – das sind die Zugvögel, die übers Land Richtung Süden ziehen. Das sind aber auch Seelenträger Verstorbener, die keine Ruhe finden. Der stelzende Graureiher ist ein Symbol, dass den ganzen Film frequentiert und Verrätern nicht von der Seite weicht. Stets stakst das Federvieh über Lehm- und Teppichboden, erinnernd an den Blutzoll, der dem Perpetuum Mobile der Gewalt erst den Anstoß gegeben hat. Der Kolumbianer Ciro Guerra, der schon mit der bemerkenswerten Dschungelodyssee Der Schamane und die Schlange den künstlerischen Aspekt des Schwarzweißfilms wieder zu neuen Sphären erhoben hat, reist nun vom Amazonas in die eigene Heimat und gräbt so tief es geht in der kolumbianischen Erde, um das grüne Übel an der Wurzel zu packen und die kriminelle Genesis des Drogengeschäfts von der Stunde Null an zu erzählen. Auch für Birds of Passage findet Ciro Guerra epische Bilder, die auf den ersten Blick so gar nichts mit irgendeiner Art des Suchtmittel-Business zu tun haben. Wenn das Wayuu-Mädchen Zaida vom Mädchen zur Frau wird, und das im Rahmen einer penibel durchexerzierten Initiation, dann erinnern die wallenden, vom Wind gebauschten roten Gewänder an die Bildsprache von Tarsem Singh, wie aus einem surrealen Märchen, das aber bei näherem Hinsehen nur scheinbar so anmutig und verzaubernd wirkt. Das rote Tuch – eine weitere Metapher, vielleicht für das vergossene Blut, das den heiligen Boden tränkt, der für das im wahrsten Sinne des Wortes fatale Joint Venture unerlässlich ist. Die Leichen aber, die hier den Weg pflastern, säumen wie Mahnmale die Landschaft. Was wir sehen ist nicht das Töten, sondern den Tod, das Resultat eines unlösbaren Konflikts, dazwischen gezogene Waffen, traditionelle Gesänge, und entrückte Visionen, die genauso zu deuten sind wie alles andere. Birds of Passage ist eine flirrende, womöglich nach eigenen filmischen Ritualen streng komponierte Oper um Gewalt, Reichtum und die Geißel ethnisch bedingter Zwänge. Und ein verlustreiches Lehrstück über die Institution Familie als Grundstruktur für das finstere Wesen der Kartelle, wie Pablo Escobar sie später mal regieren wird.

Birds of Passage

Glücklich wie Lazzaro

DER EWIGE KNECHT

8/10

 

lazzaro© 2018 Filmladen

 

LAND: ITALIEN, FRANKREICH, SCHWEIZ, DEUTSCHLAND 2018

REGIE: ALICE ROHRWACHER

CAST: ARDIANO TARDIOLO, NICOLETTA BRASCHI, SERGI LÓPEZ, ALBA ROHRWACHER U. A.

 

Da steht er und lächelt, umgeben von Bäumen, im Hintergrund die Stadt, und ein Wolf zu seinen Füßen. Das Plakat zu Alice Rohrwachers Film ist ein Gemälde, naiver oder phantastischer Realismus, doch für letzteres wäre es zu real, einzig der Wolf sollte hier nicht sein. Und auch Lazzaro, der abgebildet ist, sollte nicht hier sein, denn er scheint wie eine Gestalt aus längst vergangenen Zeiten. Wie eine Ikone, ein Heiligenbild, etwas völlig entrücktes. Lazzaro existiert gar nicht wirklich, er ist ein Mythos, ein Mysterium – oder doch nicht? Das zu ergründen ist ein Versuch, der sich letzten Endes lohnt, denn Glücklich wie Lazzaro zählt zu den außergewöhnlichsten Werken der letzten Zeit, ein humanistisches Märchen von den Hierarchien unserer Gesellschaft.

Adriano Tardiolo, der den flötenspielenden Knecht auf dem Gut der Marchesa de Luna spielt, ist selbst eigentlich ein Laie. Einer, der nie irgendwo Schauspielerfahrung gesammelt hat, ein Naturtalent also, den Regisseurin Rohrwacher entdeckt hat. Tardiolo scheint in seiner Rolle wirklich nicht von dieser Welt zu sein, und als Lazzaro ist er einer, der tut was man ihm sagt. Ein Knecht in seiner reinsten Urform, ein Befehlsempfänger und Erfüllungsgehilfe. Einer ohne Rechte. Über ihm: die Tabakbauern des Ortes, allerdings selbst einem erbarmungslosen Feudalismus erlegen. Sklaven, wenn man so will, die für die Herrin ernten, und selbst immer verschuldet bleiben. Das erinnert an die Gesellschafts- und Wirtschaftsformen des Mittelalters, bevor die Bauern im 14. Jahrhundert den Aufstand probten. Die Einwohner des Bauerndorfes Inviolata allerdings tun das nicht, sie können nicht auf sich herabblicken, ihren Zustand des Schuftens und Dienens nicht aus der Distanz betrachten. Anfangs fragt man sich, in welcher Zeit Glücklich wie Lazarro eigentlich spielt. Alles sieht sehr verdächtig nach dem vorigen Jahrhundert aus, doch der Schein trügt. Die verhängte Isolationshaft der Marchesa hat Lazarro und seine Mitbewohner aus der Zeit katapultiert. Und die Zeit, die spielt weiterhin verrückt, vor allem, was das Schicksal des Lazzaro betrifft. Denn ihm widerfährt, ähnlich dem Lazarus aus der Bibel, eine unergründliche zweite Chance, die ihn auf eine Reise schickt, und bei der ein Wolf keine unwesentliche Rolle spielt.

Rohrwacher hat hier eine Parabel ersonnen, anfangs noch in romantischem Realismus, die von Meistern und Dienern erzählt. Von den Unterdrückten und Ausgebeuteten, und von dem Umstand, dass es immer einen Stärkeren gibt, der den anderen nötigt, zu dienen. Ihre metaphysische Reise ist gleichsam ein antikapitalistisches Manifest, worin Lazzaro wie der kleine Prinz Antworten sucht auf Fragen, die er nie stellen wollte, auf Menschen trifft, mit denen er stets verbunden war, die aber bemüht sind, aus ihrer Abhängigkeit von damals auszubrechen in ein autarkes Lebenskontrukt. Was sie finden ist Armut, und die Reichen von damals, die haben ebenfalls alles verloren. Der Film ist wie die Essenz eines politischen Umbruchs, der am Umsetzen kommunistischer Ideen scheitert, weil das Wesen des Menschen es einfach unmöglich macht, diese umzusetzen. Glücklich wie Lazzaro ist ein enorm gesellschaftspolitischer Film, der seine Sichtweise in eine poetisch-irreale Märtyrerchronik bettet. Dabei fasziniert in erster Linie eben Adriano Tardiolo als Lazzaro, der als Fels in der Brandung Zeiten und Gezeiten über sich hinwegziehen lässt, bis er selbst die alte Ordnung wiederherstellen will. Was sagt das über die Zukunft des Menschseins aus? Rohrwachers Film erinnert durchaus an die thematisch verwandte Kleinbürgertragödie Dogman des Italieners Matteo Garrone – auch dort sieht sich der ewig unterdrückte Hundefriseur der Willkür von Stärkeren ausgeliefert, bis er selbst das Blatt wendet. Doch wofür? Glücklich wie Lazzaro ist noch mehr Lehrstück als Dogman, fast schon von der Art eines Theaters des Berthold Brecht oder Max Frisch, die die gutgläubige Illusion eines besseren Menschen erschaffen, um sie dann zu zerschlagen.

Rohrwachers Film ist ein höchst bemerkenswertes Beispiel dafür, was das Kino noch für eine erzählerische Kraft haben kann, und noch so viel perspektivisches Neuland verborgen hält, dass durch Glücklich wie Lazzaro wieder ein Stückchen mehr erschlossen wurde.

Glücklich wie Lazzaro