In die Sonne schauen (2025)

VEREINT IN DER ZEIT

9/10


© 2025 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2025

REGIE: MASCHA SCHILINSKI

DREHBUCH: MASCHA SCHILINSKI, LOUISE PETER

KAMERA: FABIAN GAMPER

CAST: HANNA HECKT, LEA DRINDA, LENA URZENDOWSKY, LAENI GEISELER, SUSANNE WUEST, LUISE HEYER, FLORIAN GEISSELMANN, GRETA KRÄMER, ZOË BAIER, CLAUDIA GEISLER-BADING, GODE BENEDIX U. A.

LÄNGE: 2 STD 29 MIN


Mascha Schilinski war da. Ganz leger in Mantel, Haube, Schal, als wäre sie lediglich in der Fluktuation der Besuchenden Gast einer Vernissage, dessen Bilder längst nicht die ihren sind. Ob sie ihrem Publikum noch etwas sagen wolle, bevor ihr Film beginnt, stellt die Moderatorin der Viennale nach kurzer Begrüßung die letzte Frage. Einfach treiben lassen, reinfallen lassen, sehen, was kommt, so die Antwort. Nicht das offensichtlich Verworrene hinterfragen, keine Verwandtschaftsverhältnisse, kein Warum oder Weshalb. Einfach wahrnehmen. Dann, nur dann, und das dann garantiert, bekommt In die Sonne schauen Struktur, erkennt man Muster, einen gewissen Rhythmus, dafür sollte man aber seinen Geist öffnen, zulassen, Vorurteile hintanstellen, Erwartungen sowieso gar nicht erst gehabt haben. Und so habe ich mir diese letzten Worte zu Herzen genommen, habe mich zurückgelehnt, die Augen und Ohren geöffnet, meine Sinne auf Empfang justiert, mich sozusagen in eine meditative Vorstufe begeben.

Die Mathematik einer narrativen Sprengung

Das darauffolgende Eintauchen im Schilinskis vielfach prämiertes Opus Magnum – und ja, das ist es auf alle Fälle – ist wie der Besuch in einem fremden Land, das Hineingleiten in einen Fluss, das Erspüren des Waldbodens mit bloßen Füßen. Es riecht nach alten Möbeln, nach Heu, nach Schweiß, nach Tod. Nach Pflaumen, Sommersonne und Blut. Was Ludwig Ganghofer, Ludwig Anzengruber, Franz Innerhofer und Robert Schneider schon immer hätten schreiben wollen, ist Mascha Schilinski mit ihrer Co-Autorin Louise Peter über Jahre hinweg gelungen: Einen Zeit und Raum sprengenden Heimatfilm, der sich von allem bisher Dagewesenen abwendet, um nichts in der Welt einem Genre zugeordnet werden möchte und womöglich selbst durch ein intuitives Erspüren der Dinge und Wesenheiten überhaupt erst entstanden ist. Gleichermaßen aber erfordert eine Struktur wie diese, die in In die Sonne schauen sichtbar wird, fast schon mathematische Genauigkeit. Beides zusammen in ein sich gegenseitig begünstigender Widerspruch, der im Betrachten dieser metaphysischen Chronologie etwas bewegt.

Hin und hergerissen

Pauschalisiert gesehen sind es Emotionen, und zwar nicht nur solche, die sich dem Gezeigten gegenüber wohlwollend verhalten. Mitunter ist es Ablehnung, da ich vermutet hatte, dass Schilinskis Anspruch, Filmkunst zu verwirklichen, diesem Zweck genügt und nicht mehr. Manchmal bin ich wütend, dann verwirrt, verstört – ein Entwicklungsprozess tritt in Gang, der, betrachtet man das Konzept des Films, genau so gewollt war. Das Wechselbad der Empfindungen spiegelt sich in der Gesinnung dieser Frauen, zeitlich auseinandergerissen in vier Epochen, weit voneinander entfernt, physisch vielleicht, aber nicht psychisch, denn da schlagen die vier Episoden ihre Brücken zueinander, ziehen sich gegenseitig an und verschmelzen zu einem ineinander verschachtelten Mosaik aus Szenen, die je nach Lichteinfall einmal nur die einen, dann wieder die anderen Steine sichtbar werden lassen, je nach Schliff, je nach Tonalität.

Diese vier Epochen erscheinen in ihrer Gleichzeitigkeit, von den Jahren des Ersten Weltkriegs über das bittere Ende des zweiten Krieges an den Achtzigerjahren vorbei bis in die Gegenwart. Vier weibliche Persönlichkeiten stehen da an der Schwelle eines Umbruchs, einer Offenbarung, eines Paradigmenwechsels. Schauplatz ist stets ein altmärkischer Vierkanthof, die Zeiten und ihre Lebensweisen können unterschiedlicher nicht sein. Umso auffallend aber das, was die vier Menschen miteinander verbindet – manch Worte, das Vergängliche, die Ahnung von etwas größerem Ganzen, vielleicht den eigenen Ahnen.

Ein Donnern durch die Zeit

Wie klingt der Urknall, hat sich Schilinski gefragt, als sie nach dem Film über die bedeutende Ebene der Klangwelten spricht. Etwas Gewaltiges ist im Gange, das Grundrauschen des Universums, das Dehnen physikalischer Gesetze, die, begleitet von einem gepeinigten Wummern, den Wechsel zwischen den Existenzblasen ermöglicht. Das Experimentelle des Tons findet seine Entsprechung in der experimentellen Visualisierung abstrakter, sinnlicher Wahrnehmungen, zwischen Unschärfen, entsättigten Traumsequenzen und alternativer Visionen.

Das Durchbrechen der vierten Wand führt dazu, dass wir uns angesprochen fühlen, doch vielmehr ist es das Durchbrechen der den Figuren eigenen zeitlichen Dimension, um in eine andere zu blicken, nur einen kurzen Augenblick – um gewahr zu werden, dass die Zeit dich nicht trennt von denen, die da waren und jenen, die noch werden. In die Sonne schauen wird fast schon zu einem Spukfilm, ein Geisterreigen, stets begleitet von einer gewissen folgenschweren, melancholischen Düsternis. Auch der Tod als epigenetischer Übergang in eine andere Existenz ist nicht die einzige Naturgewalt, die Schlussstriche zieht. Da ist noch etwas anderes, diese Gleichzeitigkeit. Zeit ist in Schilinskis Film ein abstrakter Begriff, eine verschiebbare Trennung, ein Kreislauf, wie in Denis Villeneuves Science-Fiction-Film Arrival. Überrumpelt stelle ich fest, dass In die Sonne schauen letztendlich zu einer oszillierenden, ständig in Bewegung befindlichen, bahnbrechenden Erfahrung von Film geworden ist – eine audiovisuelle, symphonische Anordnung als wohl ungewöhnlichstes Werk im Rahmen der Viennale und vielleicht auch des Jahres. Am Ende hat Schilinskis völlig recht mit ihrer Empfehlung. Antennen öffnen, Sinne schärfen, Film hineinlassen. Am Ende, den Boden unter den Füßen verlierend, sieht man klar.

In die Sonne schauen (2025)

Wunderschöner (2025)

DIE TRUGBILDER WEIBLICHER FREIHEIT

7,5/10


© 2025 Warner Bros. Entertainment


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2025

REGIE: KAROLINE HERFURTH

DREHBUCH: KAROLINE HERFURTH, MONIKA FÄSSLER

CAST: KAROLINE HERFURTH, NORA TSCHIRNER, ANNEKE KIM SARNAU, EMILIA SCHÜLE, EMILIA PACKARD, DILARA AYLIN ZIEM, ANJA KLING, GODEHARD GIESE, FRIEDRICH MÜCKE, MALICK BAUER, MAXIMILIAN BRÜCKNER, LEVY RICO ARCOS, SAMUEL SCHNEIDER U. A.

LÄNGE: 2 STD 18 MIN


Wenn sich ein Mann als Frauenversteher deklariert, ist ja das alleine schon ein überheblicher und gleichsam herablassender Begriff – als wären Frauen ein Rätsel, das Mann knacken muss, um von einer Frau das zu bekommen, was diesem vorschwebt ergattern zu müssen. Wenn schon Frauenversteher, dann wären es Frauen selbst, die sich dieses „Prädikat“ aneignen könnten. Und im ganz besonderen Karoline Herfurth. Dabei interessiert sie gleichermaßen, wenn nicht brennender, wie ein Mann vielleicht tickt. Was ihn bewegt, was ihn erregt, was ihn scheitern lässt. Wunderschöner, die Fortsetzung von Wunderschön, lässt sich auch ganz ohne Vorkenntnis des ersten Teils betrachten, schließlich sind es ganz andere Fallbeispiele, die hier erörtert werden. Wunderschöner ist bei Weitem nicht nur ein Frauenfilm, was das Werk in eine Nische drängen würde, wo es gar nicht und vor allem nicht ausschließlich hingehört. Genauso gut will Herfurth alles von Männern wissen und vor allem von dieser Diskrepanz zwischen beiden Geschlechtern, die zu überbrücken proaktive Anstrengungen erfordert – von beiden Seiten, dabei deutlich mehr von Seiten der Frau, denn die ist immer noch die Unterdrückte, Missbrauchte, Diskriminierte, während sich der Mann in seiner Machtposition gefällt.

Während Frauen sich längst schon repositionieren und dabei versuchen, aus ihrem Rollenklischee herauszukommen, haben Männer gehörig viel Aufholbedarf. Das Bequemliche an diesem Patriarchat, dieses Ruhekissen, zieht Herfurth den Männern unter dem Hintern weg. Und veranschaulicht auf schmerzliche, liebenswürdige und tragikomische Weise, und ohne jemals mit dem Finger zu zeigen, dass es in auf- und umbruchsbereiten Zeiten wie diesen keine Selbstverständlichkeiten mehr gibt, dass im Grunde alles, was die geschlechterbezogene Gesellschaft betrifft, obsolet erscheint. Dieses Miteinander wird in Wunderschöner zu einer komplexen Baustelle im Zeitstrahl der sozialen Entwicklung – eine Baustelle, die nicht mal noch als Fundament wahrgenommen werden kann. Was existiert, mag vielleicht ein Team sein. Ein Ensemble aus Schauspielerinnen und Schauspielern, so wie in diesem Fall, um einen Film zu verwirklichen, der die Grenzen dieser Baustelle absteckt. Der zumindest ersichtlich macht, woran gearbeitet werden muss. Um queere Verhältnisse geht es dabei diesmal nicht.

Wunderschöner erzählt in episodenhaften Sequenzen, deren Erzählfäden aber miteinander verflochten sind, von fünf Frauen unterschiedlichen Alters, die selbst erst erkennen müssen, welche Rollen genau sie in diesem System erstens gerade einnehmen und zweitens einnehmen sollten. Sie positionieren sich, erklären sich, behaupten sich – und begreifen erst so richtig, woran es krankt. Fremddefiniert durch den Mann ist der einzige Weg der der Emanzipation, jedoch nicht auf eine kämpferische Art und Weise, die gerne belächelt wird, sondern auf eine ganz natürliche, fast schon geschlechtsunabhängige. Karoline Herfurth als Familienmutter Sonja, die von ihrem Mann getrennt lebt, von welchem sich aber, aus beiderseitigem Interesse, kein Abstand gewinnen lässt, stellt das Zentrum der mannigfaltigen Erzählung. Nora Tschirner als Lehrerin Vicky wartet, bis ihr Partner von einem Selbstfindungstrip endlich heimkehrt. Anneke Kim Sarnau als die wohlsituierte Politikergattin Nadine muss das Fremdgehen ihres Mannes verkraften und setzt sich mit dem Thema Prostitution auseinander. Emilia Schüle als Julie, die gerne beim Fernsehen arbeitet, muss sich einer toxischen Männlichkeit im Betrieb erwehren, die frappant an Weinstein erinnert. Und schließlich Schülerin Lilly, die sich als junge Frau zwar frei fühlt, den Begriff weiblicher Selbstbestimmung aber erst noch überdenken muss. Alle zusammen, und dazu noch einige tragende und wichtige Randfiguren, erschaffen das komplexe und vielschichtige Bild eines Ist-Zustandes, der nicht darauf aus ist, sein Publikum mit neuen Erkenntnissen zu erhellen. Wunderschöner hat keinen Aha-Effekt, allerdings aber, und das ist viel wichtiger, ruft er geduldete Verhältnisse in Erinnerung, die im Argen liegen. Herfurth führt ihr Ensemble mit Sorgfalt, sie weiß im Vorhinein, was und wie sie es sagen will, ohne plattes Betroffenheitskino zu veräußern.

Wunderschöner distanziert sich auch von den aalglatten Tragikomödien eines Schweighöfers oder Schweigers, sogar von den Ensemblestücken eines Simon Verhoeven oder Wortmann. Am ehesten noch erinnert ihre Arbeit an Doris Dörrie zu ihren besten Zeiten, und dennoch ist Herfurths Film noch immersiver, weil sie Emotionen abbildet, die sonst nur innerhalb der vier Wände bleibt. Das ist charmant und aufrichtig, und auch wenn manchmal der Imperativ zur Veränderung fast schon so präsentiert wird wie ein Werbespot für Frauenrechte, so kann es, genauer betrachtet, selbst davon nicht genug geben. Letztlich will auch Herfurth, das alles gut wird, und man fragt sich, ob angesichts dieser offenen Wunden und Problemzonen im Rahmen eines abendfüllenden Spielfilms jemals irgendetwas davon auf heilsame Bahnen gerät. Herfurth gelingt das Kunststück, ihre Ambitionen nicht überzustrapazieren und auch nichts unter Zeitdruck zu überladen. Letztlich staunt man, wie es ihr gelingt, zumindest Hoffnung und Zuversicht zu schöpfen. Und nein, es ist gar nichts gut, das Happy End ist nur ein neuer Status Quo, die Romantik die Vergessenheit eines Moments. Die Probleme bleiben, denn alles andere wäre ein Affront zur Realität.

Wunderschöner (2025)

The Black Hole (2024)

EXKURS IN DIE BALTISCHE TWILIGHT ZONE

8/10


© 2024 Amrion


ORIGINALTITEL: MUST AUK

LAND / JAHR: ESTLAND, FINNLAND 2024

REGIE / DREHBUCH: MOONIKA SIIMETS

CAST: URSEL TILK, LINNA TENNOSAAR, REA LEST, DORIS TISLAR, ANNE REEMANN, EVA KOLDITS, KRISTO VIIDING, JEKATERINA LINNAMÄE, LAINE MÄGI, HANNU-PEKKA BJÖRKMAN U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Erst kürzlich wurde bestätigt, dass in 124 Lichtjahren Entfernung der Planet K2-18b konkrete Anzeichen von Leben birgt. Ihn dafür als einen Ort zu betrachten, um auszusteigen, neu anzufangen und ein besseres Leben zu führen, mag noch etwas verfrüht sein. Vielleicht aber liegt das späte Lebensglück ja im Andromeda-Nebel. Obwohl deutlich weiter weg als K2-18b, wäre diese Vorstellung noch realistischer. Warum? Weil nicht wir dorthin müssen, sondern weil jene, die dort leben, zu uns kommen. Mag ja sein, dass sich dafür eine Mitfahrgelegenheit ergibt, ganz so wie beim jungen Peter Quill, dem späteren Star Lord der Guardians of the Galaxy. Doch von Marvel ist der kuriose Episodenfilm The Black Hole dann doch weiter entfernt als gedacht. Hier kommen ausnahmsweise mal nicht die Amerikaner in den Genuss einer Begegnung der dritten Art, sondern ganz normale Leute aus dem schönen Estland.

Ehrlich gesagt: Wie oft hat unsereins schon einen estnischen Film gesehen? Die Anzahl dieser Produktionen lässt sich an einer halben Hand erfassen. Doch was sich rar macht, kann, wenn es entdeckt wird, ungeahnt gut werden. Ausfindig machen lässt sich The Black Hole im Rahmen des frühlingshaften Slash ½ Filmfestivals, einer dreitägigen Vergnügungsreise in die Tiefen des fantastischen Genres, zu welchem auch Perlen aus dem Festival Crossing Europe, das jährlich in Linz abgehalten wird, dazustoßen können. The Black Hole ist so eine, und Regisseurin Moonika Siimets lässt dabei scheinbar verlorene Seelen des tristen estnischen Alltags dem Übernatürlichen, Paranormalen, Fremdartigen begegnen, wovon aber am Absonderlichsten gar nicht mal das Auftauchen tentakelbewährter, schleimiger Intelligenzbestien im wahrsten Sinne des Wortes ist, sondern vielleicht ein in krachlederne Tracht gezwängter Ur-Österreicher, der den Staubsauger des Jahrtausends an die nichtsahnende Mama bringen will, die daheim ihren introvertierten Sohn verköstigt, der wiederum eine sinnliche Femme fatale vergöttert, die ihr eigenes Süppchen kocht.

Derlei Dinge passieren, und auch die beiden reiferen Damen, die sich, so wie alle anderen hier auch, einfach nur danach sehnen, gebraucht zu werden, willigen gar ein, sich physikalisch scheinbar unmöglicher Experimenten zu unterziehen, die den Aliens hoffentlich die richtigen Erkenntnisse zur Spezies Homo sapiens bringen. Siimets bedient sich dabei den literarischen Vorlagen aus der Kurzgeschichtensammlung von Armin Kõomägi and Andrus Kivirähk. Ihr Film vermengt dabei drei dieser Stories miteinander, die jeweils inhaltlich aber nur wenig miteinander zu tun haben, dafür aber auf kluge Weise von einer Erzählung zur anderen überleiten – das muss auch chronologisch gar nicht akkurat sein, und genau durch diese zeitliche Aufhebung bekommt The Black Hole noch einen zusätzlichen dramaturgischen Drall, der dieses Filmerlebnis zu etwas Besonderem macht. Diese Wertschätzung erlangt die baltische Twilight Zone aber ganz alleine durch einen ungehemmt skurrilen, lakonischen Humor, der finnische Urstände feiert – gerade als Österreicher muss man sich mehrmals auf die gar nicht ledernen Schenkel klopfen, wenn das eigene Land so karikiert wird. Zwischen diesem schrägen Irrsinn gibt es aber immer wieder zarte Nuancen von Sehnsucht, Liebe und dem angenehm warmen Gefühl der Zugehörigkeit, und obwohl The Black Hole auch seine düsteren, gewalttätigen Seiten hat – die makabre Komik im Stile alter Jack Arnold-Filme, schmerzfreier Body-Horror, Portalreisende und kuschelige Arachniden, die nur begrenzt Spinnenangst hervorrufen, sind auf liebevolle, herzblutende Weise mit- und untereinander arrangiert.

Im Subtext lässt sich herauslesen, wie sehr Siimets ihre Gestalten gar nicht mehr so gerne in eine ungewisse Zukunft entlassen will, doch auch hier muss irgendwann Schluss sein, wie bei jedem kinematographischen Werk. Und The Black Hole weiß genau, wo das urbane Märchen sein Ende findet, und das nicht, ohne überall eine durch und durch und betont feministische Zuversicht zu streuen. Die Welt scheint nur darauf zu warten, dass das Paranormale über sie hereinbricht. Und wenn es nur ein Apfelkuchen ist, der den Andromeda-Nebel ein bisschen näher heranrücken lässt.

The Black Hole (2024)

Horizon: Eine amerikanische Saga – Kapitel 1 (2024)

WILDWESTROMANTIK ALS LEBENSGEFÜHL

7,5/10


horizon© 2024 Tobis


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: KEVIN COSTNER

DREHBUCH: KEVIN COSTNER, JON BAIRD

CAST: KEVIN COSTNER, SIENNA MILLER, GEORGIA MCPHAIL, SAM WORTHINGTON, LUKE WILSON, THOMAS HADEN CHURCH, ABBEY LEE, ISABELLE FUHRMANN, ELLA HUNT, JENA MALONE, MICHAEL ROOKER, WILL PATTON, DANNY HUSTON, TOM PAYNE, TATANKA MEANS U. A.

LÄNGE: 3 STD 1 MIN


Vier Kapitel soll sein epochales Gesamtkunstwerk umfassen, das erste ist derzeit im Kino zu sehen, das zweite soll zwar nicht in den USA (wo es eigentlich hingehört) über die große Leinwand flimmern, dafür aber bei uns hier in Europa, und zwar schon Anfang November. Ich muss sagen: Darauf freue ich mich sehr. Und auch mag es klug sein, nicht zu viel Zeit zwischen den Teilen verstreichen zu lassen, damit man nicht vergisst, wer hier genau mit seinem Schicksal hadert, es herausfordert, annimmt oder als Geschenk überreicht bekommt, von höheren Mächten, die den nordamerikanischen Kontinent zur Zeit der Sezessionskriege fest im Griff haben. Da mag der Gott der weißen Männer und Frauen ebenso sein Wörtchen mitzureden haben wie all die Götter und gottgleichen Wesen der uramerikanischen Indigenenmythologie. Zu diesem Zeitalter der Anarchie, der Pionierabenteuer und dem freien Spiel der Kräfte mag Kevin Costner seine Meilen über Meilen weite Spielwiese gefunden haben, die er, seit er mit dem Wolf getanzt, liebgewonnen hat und bis heute ehrt, bewundert und für andere sichtbar macht. Dabei will er nicht nur das Schicksal eines einzelnen Mannes in den Fokus rücken, wie er es mit seiner Figur des John Dunbar gemacht hat, sondern gleich ein ganzes Ensemble, das unterschiedlicher nicht sein kann.

Vom verbissenen Apachen über das snobistische Ehepaar im Planwagen bis zum Jungen, der nach einem Überfall der Apachen auf die Siedlung Horizon alles verloren hat, bis zur Witwe und trauernden Mutter (Sienna Miller) mit ihrer einzigen verbliebenen Tochter, die dem First Lieutenant schöne Augen macht. Alles, wirklich alles ist in Horizon: Eine amerikanische Saga gepackt wie all das, was man braucht, verstaut in einem Planwagen, will man gen Westen ruckeln, zu einer Zeit, in der die gerechte Ordnung so fern schien wie nie zuvor und nie mehr danach. Ganz obendrauf: Kevin Costner selbst, als aufgeräumter, moralisch durchgepeilter Pferdehändler, der rein zufällig auf die Prostituierte Marigold (Abbey Lee) trifft, die ihn in ein Dilemma hineinreitet, welches wohl sein Leben grundlegend verändern wird. Hier im Westen, hier gibt es nämlich nicht nur das klassische, fast schon stereotype Narrativ der Cowboys gegen die Indianer, wie wir es seit den frühen kitschigen und wenig reflektierten Westernfilmen kennen. Hier gibt es auch Weiße gegen Weiße, hier geht’s um Blutrache, Familie und Ehre. Hier gibt es alles, was das Herz des Westernfans begehrt. Und gleichzeitig nichts, was das Herz des Westernfans nicht kennt oder so noch nicht gesehen hätte. Was jeder artverwandte Groschenroman mit sich führt oder Der mit dem Wolf tanzt ohnehin schon so tiefgreifend gut und reflektiert erzählt hat.

Costner liegt nichts daran, einen anderen Blickwinkel auf die uramerikanischste aller Zeitalter einzunehmen. Er bleibt bei seinem Opus Magnum ein Nostalgiker und Wildwest-Romantiker. Sein Neuversuch eines John Ford-Manierismus gipfelt in einer abgöttischen Liebe und Begeisterungsfähigkeit für uramerikanische Landschaften, die atemberaubender nicht sein können. Auf diesen weiten Flächen dann Dramen, die man so oder anders gut kennt, die einem vertraut vorkommen, die vor allem aber dadurch, dass sie die äußerst kurzweilige Laufzeit von drei Stunden untereinander aufteilen müssen, gewinnen. Horizon: Eine amerikanische Saga – Kapitel 1 wird so zum Episodenfilm, der seine fiktiven Biografien aber durchmischt wie die Spielkarten vor dem Zocken im Saloon. Ein erster kluger Schachzug. Der nächste: Costner weiß um dieses Pathos, welches er lostreten wird. Er weiß aber, wie er es zügeln kann. Und setzt es so punktgenau und planerisch ein wie zum Beispiel James Cameron in seinem Untergang der Titanic. Pathos ist per se nichts Schlechtes, nur will diese filmische Eigenschaft immer mehr mitmischen als sie guttut. Bei Horizon kippt das Wildwest-Bilderbuch nur gelegentlich in hausbackenen Kitsch, insbesondere die Romanze zwischen Miller und Sam Worthington will nicht so recht gelingen.

Das aber ist Jammern auf hohem Niveau. Denn Horizon gelingt das Kunststück vorallem im Casting. Keine noch so kleine, angeteaserte Nebenrolle aus dieser ganzen illustren Schar an Charakteren mag so uninteressant sein, dass man sie für überflüssig hält. Das Schicksal aller hat Relevanz, weckt die Neugier und den Wunsch, zu wissen, was ihnen allen des Weiteren widerfährt. Horizon fühlt sich in seiner melodramatische Wucht so an wie Fackeln im Sturm, setzt alles richtig, hält die Spannung, macht Zwischenmenschliches greifbar. Vielleicht sind das alles Klischees, vielleicht schwelgt Costner zu sehr in Tradition. Doch es ist das, was den Film so packend macht. Ein Wunder, dass in den USA Costners Herzensprojekt niemand sehen will. Vielleicht ist das Genre auf diese Art schon übersättigt. Doch wenn schon – der Qualität dieser Arbeit tut das keinen Abbruch. Mehr davon!

Horizon: Eine amerikanische Saga – Kapitel 1 (2024)

Kinds of Kindness (2024)

DIE DROGE MENSCH

8/10


kindsofkindness© 2024 Searchlight Pictures


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2024

REGIE: YORGOS LANTHIMOS

DREHBUCH: YORGOS LANTHIMOS, EFTHYMIS FILIPPOU

CAST: EMMA STONE, JESSE PLEMONS, WILLEM DAFOE, MARGARET QUALLEY, HONG CHAU, JOE ALWYN, MAMOUDOU ATHIE, HUNTER SCHAFER, YORGOS STEFANAKOS U. A.

LÄNGE: 2 STD 45 MIN


Jetzt hat er mich – jetzt hat mich Yorgos Lanthimos endlich mal so richtig überzeugt. Zugegeben: The Favourite war gut, top besetzt. Poor Things sowieso ein Hingucker und Emma Stone, nunmehrige Haus- und Hofschauspielerin des griechischen Meisters, am Zenit ihres Schaffens. Doch irgendetwas war dabei zu viel. Vielleicht zu viel Pomp, zu viele Schnörkel. Vielleicht sogar zu harmlos und mit schrägem Weitwinkel visuell in die obszöne Groteske getrieben. Dabei liegt Lanthimos Stärke scheinbar in sachlichen, surreal-philosophischen Miniaturen – in makabren Anekdoten über die Unzulänglichkeiten des menschlichen Daseins. Mit Kinds of Kindness – zu deutsch: Arten der Freundlichkeit bzw. Arten der Güte – schraubt der Autorenfilmer seinen Firlefanz zurück auf null, denkt wieder vermehrt um die Ecke und lässt sich von absurden Überlegungen leiten, die das eine ins andere führen. Doch einfach laufen lassen, wie David Lynch das gerne tut, ohne auch nur den geringsten Anspruch dabei zu hegen, eine Idee schlüssig auszuformulieren – das tut Lanthimos ganz bestimmt nicht. Seine Fragen wollen eine Antwort, oder zumindest als Frage im Raum stehen, auf welche diverse Antwortszenarien abprallen können, ohne dass die Frage selbst Schaden dabei nimmt.

Roy Andersson, der schwedische Exzentriker mit seinen endzeitlichen Episodentableaus, die so wirken, als hätte Wes Anderson seine ganze Leichtigkeit verloren, macht sich in seinen Werken ähnliche Gedanken wie Lanthimos. Über das Leben, über die Erbärmlichkeit des Menschseins. Über die Unendlichkeit. Oder den Tod. So denken also Lanthimos und sein Co-Autor Efthymis Fillipou, der für A Killing of a Sacred Deer in Cannes den Drehbuchpreis gewonnen hat, ebenfalls über das Leben nach. Und weniger über das Sterben. Dafür aber vermehrt über die schier unbegrenzten Ausdrucksformen menschlicher Abhängigkeiten. Sie überlegen, wie eine Person sich wohl verhalten muss, wenn es auf Dauer die einen gibt, die über jedes kleine Detail im Leben der anderen bestimmen. Dabei sind Freiheit, Souveränität und Widerstand natürliche Verhaltensmuster, um einem Fremddiktat zu entgehen. Jesse Plemons ist so ein Kerl, er spielt Robert, der von seinem Boss Raymond aka Willem Dafoe unentwegt bevormundet wird. Robert fügt sich ganz gut in die Rolle des devoten Universalbediensteten wie ein pawlowscher Hund. Bis das, was der Chef verlangt, plötzlich zu weit geht. In der zweiten Episode schlüpft das Ensemble aus Plemons, Dafoe, Emma Stone, Margaret Qualley und Hong Chau in neue Rollen, diesmal geht’s um Vertrauen und Paranoia und ein bisschen was von den Body Snatchers geistert durch ein beklemmendes Szenario voller blutiger Einfälle. Im dritten Gleichnis mögen Stone und Plemons auf der Suche nach einem Medium sein, welches Tote zum Leben erweckt. Ausgesandt werden sie von Omi, dem Guru einer obskuren Sekte, der sich die Freiheit herausnimmt, mit jedem seiner Mitglieder sexuell zu verkehren. Sex spielt auch diesmal wieder eine große Rolle, in all seinen Spielarten, vom flotten Vierer bis zum Missbrauch. Sex ist sowieso ein Spiel der Abhängigkeiten, ein Spiel der Macht und ein Mittel zur Zerstörung.

Kinds of Kindness schafft es in all seinen drei wirklich auf den Punkt formulierten Episoden, die so surrealen wie distanziert betrachteten Geschehnisse auf eine Weise abzurunden, das man am jeweiligen Ende die bittersüße oder bitterböse Pointe so genussvoll in sich aufnimmt, als würde ein glockenheller Gong auf das Grande Finale eines Zaubertricks hinweisen. In eleganter Coolness und ohne jemals den entspannten Lauf seiner Geschichte überholend, lotet Lanthimos immer mal wieder die Grenzen zum Horror, zum perfiden Psychothriller aus, um dann wieder die Dramödie des Menschseins zu feiern. Der Grieche folgt beharrlich den Konsequenzen seiner Geschichten. Er weiß, was er tut, wann er es tut und vor allem: warum er es tut. Kinds of Kindness ist präzise und bravourös, gespenstische Klavierkompositionen verzerren die bizarre Versuchsanordnung noch mehr. Vieles bleibt kryptisch, nicht alles macht Sinn. Auf der spiegelglatten Metaebene rutschen Stone, Plemons und Co durch Träume und Albträume, ohne Halt zu finden. Diese drei Escape-Szenarien funktionieren jedoch, wie sie sollen. Auswege gibt’s nur bedingt oder auch gar nicht.

Trotz der erheblichen Länge von fast drei Stunden hat Kinds of Kindness alles aufgeboten, was es braucht, um eine Filmerfahrung zu gewährleisten, die verblüfft, irritiert und packt. Lanthimos‘ messerscharfer Stil passt hier perfekt, und den Mensch als seine eigene Droge vorzuführen, für die es keinen Entzug gibt, liegt ihm am meisten.

Kinds of Kindness (2024)

Eureka (2023)

FRAGMENTE ÜBER DAS VERSCHWINDEN

7/10


eureka© 2023 Grandfilm


LAND / JAHR: ARGENTINIEN, FRANKREICH, PORTUGAL, MEXIKO, DEUTSCHLAND 2023

REGIE / DREHBUCH: LISANDRO ALONSO

CAST: VIGGO MORTENSEN, CHIARA MASTROIANNI, SADIE LAPOINTE, ADANILO R, JOSÉ MARIA YAZPIK, ALAINA CLIFFORD, VIILBJØRK MALLING AGGER, RAFI PITTS U. A.

LÄNGE: 2 STD 27 MIN


Ein Mädchen verschwindet. Genau genommen die Tochter des dänischen Landvermessers Gunnar, der im späten neunzehnten Jahrhundert in Argentinien weilt. Gespielt wird dieser verzweifelt suchende Mann, der sich in der argentinischen Raumzeit verliert, von „Aragorn“ Viggo Mortensen. Die Rede ist dabei aber vom Film Jauja von Lisandro Alonso, der 2014 ebenso auf der Viennale lief wie letztes Jahr das neueste Werk des Argentiniers: Eureka. Auch in diesem überlangen Werk, welches zwar anmutet wie ein Episodenfilm, es bei genauerer Betrachtung eigentlich nicht ist, gibt Mortensen jemanden, einen abgewrackten Revolverhelden mit schweißnasser Stirn, der seine Tochter sucht. Er durchquert dabei die Prärie und geht dabei über Leichen, das alles gefilmt in 4:3 und in Schwarzweiß. Die Mission des Mannes wird dabei von einem nordamerikanischen Indigenen beobachtet, der frühmorgens seine Trommel ertönen lässt und dabei auf die Welt blickt. So beginnt ein Film, der sich willig dazu entschlossen hat, sich selbst treiben und seine Geschichten zerfransen zu lassen, ohne dem narrativen Dogma nachzugeben, alles auserzählen zu müssen. Bei Eureka braucht man getrost auf gar nichts warten. Denn alles hat kein Ende, und falls doch, dann ist es das vorläufige des Verschwindens.

Es ist ja nicht nur Mortensens Filmtochter, die fehlt. Im gewichtigen Mittelteil des avantgardistischen Werks befinden wir uns im Pine Ridge Reservat in South Dakota während eines klirrend kalten Winters. Der trostlose Ort ist nur noch ein Schatten seiner Begrifflichkeit. Sozialen Missstand gibt es an allen Ecken und Enden, und schon wieder verschwinden Menschen wie zum Beispiel die kleine Mackenzie, die niemand gesehen haben will. Lisandro Alonso verfolgt dabei Lakota-Polizistin Debonna, die für Recht und Ordnung sorgt während der langen Winternacht und nicht nur von dieser sozialen Verwahrlosung, sondern auch von ihren Kollegen bitter enttäuscht ist. Ihre Nichte Sadie (faszinierend: Sadie Lapointe) arbeitet im Jugendheim, um den desorientierten Nachwuchs mit Sport und Spiel auf dem rechten Weg zu halten. Was mit diesen beiden Frauen passieren wird, bleibt offen. Auch sie verschwinden, auf ihre jeweils ganz eigene Art. Zuletzt findet sich Eureka im brasilianischen Dschungel der Siebzigerjahre wieder: Ein Goldwäscher, nach einer Bluttat geflohen von seinem Stamm, muss sich seiner Tat stellen. Auch er ist auf der Suche. Vielleicht nach Absolution, vielleicht nach einem sicheren Leben. Die Allegorie des Verschwindens macht auch hier nicht Halt, in dieser letzten Episode.

So seltsam das alles auch klingt: Eureka ist seltsamer. Wer die Filme des Thailänders Apichatpong Weerasethakul (u. a. Memoria) kennt, wird ungefähr erahnen können, was es zu bedeuten hat, wenn ich meine, dass Alonso in seinen verharrenden, teils unerträglich langen Einstellungen die Essenz des wahrgenommenen Moments, des Daseins, der Existenz einfach nur durch stoische Betrachtung intensiviert. Tatsächlich gelangt er dadurch in die Tiefe, und je länger man hinblickt, um so mehr verändert sich das Bild. Oder es blickt das Bild, frei nach Nietzsche, geradewegs zurück. Das Transzendente dringt in die entbehrungsreiche Wirklichkeit, der Aminismus der Indigenen spielt dabei eine wesentliche Rolle, denn Eureka ist schwer mysteriös. Wonach Alonso genau auf der Suche ist, das könnte vieles sein. Kulturelle Identität, Geschichte, Familie, Stammbaum. Eine sichere Zukunft? Schließlich wissen wir: Eureka, vermutlich von Archimedes ausgesprochen, kommt aus dem Griechischen und heisst so viel wie Ich hab’s gefunden. Letztlich aber bleiben alle diese Figuren im Film auf der Suche nach etwas Verschwundenem, das auf unerklärliche Weise plötzlich nicht mehr da ist oder da sein will.

Unbefriedigender Existenzialismus als zerfranstes Geduldsspiel, das sich seinem Fluss hingibt, egal, welche Bahnen er nimmt: Gefunden hat in Eureka niemand etwas. Doch vielleicht ist es die Lösung aller Probleme, in einem gewissen kapitulierenden Pragmatismus den Abgesang zuzulassen.

Eureka (2023)

Loriots große Trickfilmrevue (2023)

NICHT FÜRS KINO, FÜR’S FERNSEHEN LEBEN WIR

5/10


loriot© 2023 Studio Loriot


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2023

REGIE: PETER GEYER, LORIOT

BUCH: LORIOT

PRODUKTION: BETTINA UND SUSANNE VON BÜLOW

LÄNGE: 1 STD 19 MIN


„Die Ente bleibt draußen!“ – Kenner des Oeuvres von Loriot wissen, dass der mit rotweißer Badehaube ausgestattete, distinguierte Herr Müller-Lüdenscheid nicht allein in der Wanne seines Hotelzimmers hockt. Ihm gegenüber Hr. Dr. Kloibner, der sich erstmal wundert, warum beide im Trockenen sitzen. Natürlich ist dieser Sketch ein fast schon zeitloser Klassiker. So wie der Kunstpfeifer. Oder der zum Sprechen erzogene Hund, der gerne seine Zunge zeigt. Zum laut drauflos brüllen und nicht mehr halten können vor Lachen – dafür sind diese Anekdoten nicht gedacht. Was sie anregen, ist leises Schmunzeln. Ist das Wundern ob so mancher verblüffender Eigendynamik, die aus einem nichtssagenden Gespräch entsteht und dann zu einem Disput führt, aus dem es kein Zurück mehr gibt.

„Hermann, was machst du gerade?“ – Das ist auch so ein Knüller. Und spricht so manchem Ehegatten vielleicht aus der Seele. Vicco von Bülows Töchter Bettina und Susanne haben es nun geschafft, gemeinsam mit Regisseur Peter Geyer (der eigentlich nicht viel tun hat müssen, außer vielleicht, das Material ordentlich aufzumotzen) eine Reminiszenz an das zeichnerische Schaffen ihres Vaters ins Kino zu bringen. Vereint wurden 31 der besten Trickfilme, die damals, in den Siebzigern, so manch goldenen Moment der Fernsehunterhaltung schufen. Die Ambition dahinter ist lobenswert. Die Umsetzung ist es nicht. Denn da fehlt so einiges, um nicht nur als Aneinanderreihung sämtlicher, ohnehin fertiger Nummern das Publikum zu plätten. Loriots große Trickfilmrevue erweckt den Eindruck, als hätten Bülows Erbinnen nicht ganz verstanden, welchem Medium sich der Meister des subversiven und feinen Verbalhumors eigentlich verschrieben hat. Wie seine Trickfilme am besten funktionieren, nämlich im Austausch mit seinen Live-Act-Sketches. Und was ein zweidimensionaler Bildstil, der mit großen Farbflächen arbeitet, auf großer Leinwand für eine Wirkung hat.

Loriot lebte fürs Fernsehen. Dort gehören seine Cartoons auch hin. Genau dafür sind sie gemacht, und dafür ist der simple Stil seiner Figuren auch geeignet. Nicht alles muss auf die große Leinwand. Und nicht alles ist auf der großen Leinwand gleich besser. Sitzt man im Kino etwas zu weit vorn, können geballte 80 Minuten lang dicknasige Karikaturen, die zeitgeistigen Dialogwitz von sich geben, ordentlich anstrengen. Nein, das haut nicht hin. Des Weiteren sind seine kurzen Animationen eben deswegen kurz, weil sie Teil eines Konzepts sind, das mit Bülow und Partnerin Evelyn Hamann vor der Kamera die beste Balance gefunden hat. Und drittens: Ja ist es denn nicht ohnehin wenig verwunderlich, warum Loriot Zeit seines Lebens nur zwei Kinofilme gedreht hat? Warum nur? Weil sein Humor im Kurzen und Knappen am besten funktioniert. Weil der Overkill – sprich: die dichte Aneinanderreihung immer des Ähnlichen – die feine Klinge abstumpfen lässt. Vieles ist dabei längst in der analogen Dekade des 20. Jahrhunderts hängen geblieben. Manche seiner Nummern wirken stark veraltet, andere, die das soziale Verhalten urbaner Bürgerinnen und Bürger aufs Korn nehmen, sind immer noch gut.

Hätten die Bülows nur daran gedacht, ihren Vater, den Altmeister, zu Wort kommen und ein bisschen aus dem Nähkästchen plaudern zu lassen. Das wäre die Chance gewesen, dem ganzen Experiment auch eine biographisch-dokumentarische Note zu verleihen. Letzten Endes bleibt die Nummernrevue uninspiriert aufbereitet – und Hermann, Müller-Lüdenscheid und Dr. Kloibner in der Diskonter-Auslage sitzen.

Was sie da wohl wieder zu meckern hätten? Loriot würde es wissen.

Loriots große Trickfilmrevue (2023)

The House

DER ALBTRAUM VOM EIGENHEIM

8,5/10


thehouse_02© 2022 Netflix


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2022

REGIE: EMMA DE SWAEF & MARC ROELS, NIKI LINDROTH VON BAHR, PALOMA BAEZA

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): MIA GOTH, CLAUDIE BLAKLEY, MATTHEW GOODE, MARK HEAP, MIRANDA RICHARDSON, STEPHANIE COLE, JARVIS COCKER, HELENA BONHAM CARTER U. A.

LÄNGE: 1 STD 37 MIN


Dieses Jahr ist nicht nur im Kino bereits reichlich beeindruckend. Netflix zieht mit, und hat einen Animationsfilm im Sortiment, der einem die Sprache verschlägt. Der Episodenreigen mit dem schlichten Titel The House feiert die gute alte Methode der Stop-Motion mit Puppen aus Filz und Fell, deren feine Fasern sich bei jeder Bewegung anders positionieren und der ganzen geschmeidigen Animation das gewisse rustikale Etwas aus den frühen Tagen des DDR-Sandmännchens verleihen. Mit The House bekommt Perfektionist Wes Anderson, der mit Isle of Dogs die Akkuratesse einer solchen Methode auf die Spitze getrieben hat, ernsthafte Konkurrenz. Und wenn man glaubt, mit diesem Trickfilm vergnügliche Familienunterhaltung zu verorten, irrt gewaltig. The House ist düster, beängstigend und so surreal wie seit David Lynch’s Traumgespinste selten ein Film. Dabei ist Dreh- und Angelpunkt dieser absurden Szenarien lediglich ein stattliches, neoklassizistisches Gebäude mit einem kleinen Türmchen in der Mitte, das einmal Menschen, einmal Mäuse und dann wieder Katzen beherbergt, die als klassische Tierfabelfiguren mit ihren eigenen vier Wänden in Clinch gehen.

In Geschichte Nummer 1, inszeniert vom belgischen Animationsduo Emma de Swaef & Marc Roels, schaut eine aus ärmlichen Verhältnissen stammende Familie einem geschenkten Gaul sicherlich nicht ins Maul, als sie in besagtes Haus einzieht. Doch besser, sie hätten es angesichts diverser obskurer Begebenheiten lieber doch gemacht. Geschichte Nr. 2, inszeniert vom Schweden Niki Lindroth von Bahr, lässt im selben Haus einen Mäuserich als Grundstücksmakler, der die Immobilie an die Maus bringen will, an seine Grenzen gehen. Denn die, die sich als einzige für dieses von Ungeziefern heimgesuchte Gemäuer interessieren, sind auch nicht das, was sie scheinen. Zu guter Letzt dann die wohl zuversichtlichste Anekdote von Paloma Baeza, die womöglich ihrer Liebe zu Katzen Tribut zollt. Denn da versucht eine miezende Hausherrin inmitten stetig steigenden Hochwassers all ihre Räumlichkeiten zu renovieren, um doch noch Mieter anzulocken. Womöglich vergeblich – oder doch nicht?

Häuser, die ein Eigenleben führen oder ihre Bewohner zur Verzweiflung treiben, gibt es viele in der Filmwelt. Erst kürzlich klapperten Giebel und Fensterläden in Disneys Encanto fröhlich vor sich hin. Doch Gotte behüte, wenn die Villa mal einen schlechten Tag hat wie zum Beispiel in Roman Polanskis Der Mieter. In Hinterholz 8 oder Geschenkt ist noch zu teuer sind Häuser der Granit, an dem sich motivierte Selfmen die Zähne ausbeißen. In diesen Gutenachtgeschichten hier führt es den Bewohner noch tiefer in die metaphysischen Eingeweide seltsam verwunschener Bauten und scheinbar eleganter Räumlichkeiten. In The House findet nichts eine Erklärung, verschwinden Räume und Treppen, krabbeln Käfer aus allen Ritzen, ist das Ende der Sesshaftigkeit nur bedingt ein neuer Anfang. In detailverliebter Ausstattung Marke Puppenküche und mit auf den ersten Blick zwar herzigen, aber letzten Endes befremdlichen Filzköpfen geraten die Gutgläubigen in einen Sog unheilbringender, höherer Mächte und erinnern an die bis zum großen Knall ausgearbeiteten Visionen eines Eugene Ionesco oder Gert Jonke, die die Sehnsucht nach dem bürgerlichen Wohlstand und heimeliger Glückseligkeit hinters Licht führen – dorthin, wo es finster genug ist, um sich auszumalen, was gar nicht sein kann.

Vor allem aufgrund dieser Rätselhaftigkeit der punktgenau ausformulierten Kurzgeschichten ist The House ein zauberhaft unbequemes Faszinosum, das gegen den Strom gefälliger Feelgood-Plots schwimmt und die Begrifflichkeit des Wohnens, gerade zur Zeiten der Pandemie wieder wichtig geworden, in schwarzgezeichnetem Wohlwollen für den Bewohner und seiner Psyche hinterfragt.

The House

The French Dispatch

DAS KLEINGEDRUCKTE IM FILM

5/10


frenchdispatch© The Walt Disney Company Germany


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, USA, FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: WES ANDERSON

CAST: BILL MURRAY, OWEN WILSON, BENICIO DEL TORO, LEA SEYDOUX, ADRIEN BRODY, FRANCES MCDORMAND, TILDA SWINTON, TIMOTHÉE CHALAMET, MATHIEU AMALRIC, EDWARD NORTON, WILLEM DAFOE, SAOIRSE RONAN, CHRISTOPH WALTZ U. A. 

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Die Gefahr, Wes Andersons Filme mit anderen zu verwechseln, geht gegen null. Werke wie diese nachzudrehen, erfordern außerdem viel zu viel Kleinarbeit. Der Einzige, der an diese Art des Filmemachens noch rankommt, ist der zumindest phonetisch namensgleiche Schwede Roy Andersson (zuletzt mit Über die Unendlichkeit im Kino). Beide verbindet die Liebe zum Tableau, zum akkuraten Arrangement, und zum genau kalkulierten, punktgenauen Auftreten der Figuren, die dann genauso punktgenau wieder die Bühne verlassen. Doch um ehrlich zu sein, findet im Gegensatz zu Wes Anderson Namensvetter Roy den richtigen Ausgleich zur visuellen Exzentrik – er reduziert das gesprochene Wort und lässt stattdessen seine Arrangements sprechen. Der andere Anderson hingegen tut das nicht, oder sagen wir: immer weniger. Sein neuestes Werk The French Dispatch begeht überdies den Fehler, keine durchgängige Geschichte zu erzählen, sondern in sich abgeschlossene Miniaturen zu errichten, die das Kleinteilige nochmal zerkleinern und sich als vollgestopfte Setzkästen in dafür vorgesehene Setzkästen sortieren. Eine Fülle, in der sich Menschen mit Sammlerwut vielleicht zurechtfinden können – alle anderen, die gerne sammeln, das aber nicht exzessiv betreiben, sind versucht, manches in diesem Film gar nicht mehr wahrnehmen zu wollen.

Die Handlung eines solchen Streifens lässt sich auch kaum in ein paar Sätze packen. Einerseits tut sich auffallend viel, andererseits sind das Ereignisse, die aufgrund ihrer durchaus eitlen, artifiziellen Darstellung auf der Stelle treten. Die Basis dieser Episodensammlung bildet das Verlagshaus der Zeitschrift The French Dispatch in der fiktiven französischen Stadt Ennui-sur-Blasé. Chefredakteur und Gründer Arthur Howitzer (gespielt von Bill Murray) ist eben verschieden. Seinem letzten Willen nach soll es der Verlag seinem Gründer gleichtun. Für eine letzte Ausgabe finden sich eine Handvoll Journalisten ein, die für Howitzer geschrieben haben – vom radfahrenden Reporter bis zum Schreiberling für kulinarische Kostbarkeiten. Bevor diese allerdings einen Nachruf formulieren können, zeigt uns Wes Anderson, wer von diesen Leuten genau was zu Papier gebracht hat, jeweils anhand eines Artikels. Der Film „liest“ sich dann auch dementsprechend, hat insgesamt 75 Seiten und behält seine vage rote Linie dadurch, dass zwischendurch immer wieder Szenen aus dem Verlagshaus durchsickern, die Howitzer beim Lesen des eben inszenierten Geschriebenen zeigen.

Wie schon im Film Grand Budapest Hotel, der zumindest eine stringente Geschichte erzählt und dadurch auch deutlich griffiger erscheint, stehen auch hier namhafte Stars allein schon für einen Cameoauftritt Schlange. Die Liste ist lang, und leicht lässt sich der eine oder die andere übersehen, weil der andauernde Kommentar aus dem Off niemals Ruhe gibt. Das sind gewaltig viele Worte, und gleichzeitig aber gewaltig viele detailreiche Bilder, die auch noch beachtet werden wollen. Kaum glaubt man, mit all dem Input à jour zu sein, bröckeln die Episoden ins Tausendste. The French Dispatch ist ein Film, der dazu verleitet, einiges, nach eigenem Ermessen für nicht sonderlich relevant Befundenes in Klammer zu setzen. Anderson treibt es auf die Spitze, denn sein exzentrisches Herumblättern ist nicht nur ein verfilmtes Magazin mit all seinen Beiträgen, sondern auch mitsamt des Glossars, den Fußnoten und dem Quellennachweis, den das Publikum auch noch lesen muss.

The French Dispatch

Me, We

DIE QUADRATUR DER NÄCHSTENLIEBE

6/10


mewe02© 2021 Filmladen


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2021

BUCH / REGIE: DAVID CLAY DIAZ

CAST: VERENA ALTENBERGER, LUKAS MIKO, BARBARA ROMANER, ALEXANDER SRTSCHIN, ANTON NOORI, THOMAS OTROK U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Angesichts der Lage in Afghanistan ist das Thema wieder in aller politischer Munde: wie den Menschen helfen, die dem Taliban-Regime entfliehen wollen? Aufnehmen? Ablehnen? Überhaupt keine Hilfe leisten, weil das Boot voll ist? Bei der Sache mit der Hilfe – mit dem sogenannten Altruismus oder dem Beistehen des schwächer Aufgestellten – ist die Bereitschaft der anderen meist eine, die sich mit dem eigenen Ego vereinbaren lassen soll. Mit zu viel Selbstlosigkeit würde man die Komfortzone der eigenen Existenzblase verlassen. Wer will das schon? Wer kann das schon? Wer hat nicht schon genug Probleme? Alles interessante Fragen, die der aus Paraguay stammende Filmemacher David Clay Diaz in seinem vierteiligen Episodenfilm aufwerfen will, dabei aber mit diesen vier Teilen ordentlich durcheinander gerät. Was aber die Relevanz seiner Arbeit zumindest inhaltlich nicht schmälert. Denn da sind starke Momente dabei, die allesamt den gleichen Schluss ziehen.

Wir haben in einer Episode die diesjährige Buhlschaft aus Salzburg, Verena Altenberger, die als freiwillige Helferin nach Lesbos reist, um sich gestrandeten Flüchtlingen aus dem nahen Osten anzunehmen. Wir haben andererseits Lukas Miko als Leiter in einem österreichischen Asylantenheim, der mit einigen Insassen so seine Probleme hat. In erster Linie mit einem Afrikaner, der die errichtete Harmonie vehement stört. Andernorts gibt es einen jungen Österreicher (vielversprechend: Alexander Srtschin), der sich mit einigen Freunden zusammentut, um als „Schutzengel“ junge Mädchen sicher nach Hause zu eskortieren. Zu guter Letzt holt sich eine liberale Single-Frau mittleren Alters – einfach, weil es andere auch tun – einen Flüchtling ins Zuhause. Wer weiß, wofür dieser noch gut sein kann.

Alle vier Ansätze sind mal grundverschieden. Altenbergers Figur der um alles in der Welt helfen wollenden Mittelschichts-Bürgerin sucht in ihrem Tun genauso eine Selbstbestätigung wie der junge Österreicher, der den Helden der Nacht spielt. Lukas Miko als erfahrener Heimleiter müsste mit dem provokanten Afrikaner Aba eigentlich gut umgehen können. Dennoch scheitert er an seinem Ich-Konzept und hütet sich davor, das, was er bisher erreicht hat, aufs Spiel zu setzen. Auch Barbara Romaner als die alleinstehende Lady will nicht länger alleine sein, darüber hinaus entspricht es dem Trend. Alle vier nutzen, völlig unbewusst oder auch zum Teil bewusst oder aber auch nur verdrängt, die Not der anderen, um das eigene Ego auf variable Weise zu bereichern. Dabei allerdings sei ihnen auf alle Fälle zugestanden, dass sie ihr Tun aus einer hehren Bereitschaft heraus umsetzen. Clay Diaz gibt der Bedeutung des Altruismus wieder seinen Ursprung zurück – demnach lässt sich dieser ohne Eigennutz und biographischem Kolorit kaum ausleben. Am Elegantesten schließt Altenbergers Griechenland-Episode dabei den Kreislauf des Helfens und vertauscht beinahe schon die Rollen.

In Me, We – dem kürzesten Gedicht überhaupt und von Muhammad Ali – steckt ganz schön viel Selbstreflexion, zumindest Reflexion für den Zuseher, der als Dritter klar sieht, wonach all die helfenden Hände greifen wollen. Me, We sagt ja im Grunde auch schon alles – und hinterlässt mit dem fehlenden You die größte Lücke.

Lücken gibt es auch im szenischen Konzept des Films – und das ist der eigentliche und einzige Stolperstein. Während andere, wie zum Beispiel Jim Jarmusch, ihre Episoden in ihrer kompakten Gesamtheit ins Werk einbinden, sieht Clay Diaz einen Vorteil darin, seine Geschichten zu zerschnipseln und all diese kurzen Szenen abwechselnd zu arrangieren. Das Ergebnis ist ein ruheloser, durchaus enervierender Zickzackkurs durch vier Episoden gleichzeitig, die mit dem, was sie auszusagen hätten, unter mehr Bedachtsamkeit wirksamer gewesen wären.

Me, We