Nickel Boys (2024)

ICH, DER AFROAMERIKANER

6/10


© 2024 MGM / Amazon Prime


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: RAMELL ROSS

DREHBUCH: RAMELL ROSS, JOSLYN BARNES, NACH DEM ROMAN VON COLSON WHITEHEAD

CAST: ETHAN HERISSE, BRANDON WILSON, HAMISH LINKLATER, FRED HECHINGER, DAVEED DIGGS, AUNJANUE ELLIS-TAYLOR, ROBERT ABERDEEN, GRALEN BRYANT BANKS U. A.

LÄNGE: 2 STD 20 MIN


Über Regisseur und Autor RaMell Ross muss man wissen: Dieser Mann ruft aus einer Richtung, die dem Mainstream entschieden und mit achtbaren Windspitzen entgegenweht. Nominiert 2019 für den besten Dokumentarfilm-Oscar (Hale County, Tag für Tag) durfte er dieses Jahr nicht nur unter den Nominierten für den Besten Film mitmischen, sondern auch noch unter jenen für das beste adaptiere Drehbuch. Die Academy scheint also offen für Arthouse, das gerne bewährte Sehgewohnheiten sprengt und auch Neues erzählt – nicht immer nur den gleichen, feigen Studio-Schmarrn. Mit Nickel Boys, basierend auf dem Roman von Colson Whitehead, verhindern Diversity-Agenden vehement, dass jemals wieder die Oscars „so white“ werden. Diesmal hatte trotz des „Trumpiarchats“ alles seine politische Correctness – und es ist ja auch nicht so, dass RaMell Ross‘ Film wirklich nur deswegen nominiert wurde, um die Quoten zu erfüllen. Taucht man ein in die Welt der Nickel Boys, wird klar, wie progressiv Kino sein kann. Wie wenig es gefällig sein, wie sehr es immer noch ausprobieren will, auch wenn man sich zugegebenermaßen schwertut, den Stil des Filmes zu absorbieren.

Hier ist etwas Ungewöhnliches im Gange. Eine spezielle Weise, Geschichten zu erzählen, die man vielleicht aus den Werken eines Terrence Malick und ansatzweise von Alejandro Gonzáles Iñárritu kennt. Hier stiftet das Subjektive, Kontemplative, Erratische den Nährboden für einen ohnehin schon langwierigen, gesellschaftspolitischen Problemfilm, der sich dem US-amerikanischen Alltagsrassismus der 60er Jahre annimmt und ihn verknüpft mit der Geschichte einer Freundschaft inmitten einer Welt voller Ressentiments, Repressalien und Freiheitsverlust. Keine leichte Kost, dieses Werk. Erstens schon mal aufgrund seiner visuellen Sichtweise nicht, und zweitens, weil RaMell Ross seine Geschichte niemals auf die leichte Schulter nimmt. Man benötigt also Engagement, um von Nickel Boys unterhalten zu werden. Um ehrlich zu sein: selten lagen Innovation und Konservatismus zu eng beieinander. Der Quotient daraus ist sperriges Kino mit massenhaft Anspruch, verblüffender Optik und einer geweckten Neugierde für ein Experiment, das zu verstehen niemandem leicht fällt.

Der Afroamerikaner wird in Nickel Boys seine Opferrolle niemals los. Das größte Opfer gibt Ethan Herisse als gedemütigter, aber blitzgescheiter Schüler Elwood Curtis, der in der Gunst seines Lehrers steht und die damals ungeahnte Chance wahrnimmt, wirklich etwas zu bewegen. Und dann das: Bei einem Autostopp steigt er nichtsahnend in den gestohlenen Wagen eines Autodiebs. Und wie es das Schicksal so will, beendet das Blaulicht im Rückspiegel nicht nur die Mitfahrt, sondern auch die Chance auf jedwede rosige Zukunft. Elwood gerät in Gefangenschaft und wird an eine dubiose Erziehungsanstalt überstellt, die sogenannte Nickel Academy, die es tatsächlich zwar niemals gab, allerdings an die Dozier School of Boys angelehnt scheint, in welcher ähnliche Zustände geherrscht haben sollen wie im Film. Diese sind schließlich äußerst kriminell, Rassismus und Unterdrückung stehen an der Tagesordnung. Erträglicher wird der auf unbestimmte Dauer angesetzte Aufenthalt durch die Bekanntschaft mit dem Mithäftling Turner (Brandon Wilson). Zwischen beiden entsteht innige Freundschaft – und auch so etwas wie der Geist eines Aufbegehrens gegenüber weißer Gewalt.

Woran man sich niemals so richtig gewöhnen wird, ist die Perspektive des Films. Die Kamera selbst schlüpft in die Rolle des Protagonisten, gewisser Elwood Curtis ist also zumindest anfangs nie zu sehen. Diese First-Person- oder Ich-Methode, die man hauptsächlich aus Computerspielen kennt, sollen den Zuseher tiefer in den toxischen Kosmos eines strafenden, diskriminierenden Amerika eintauchen lassen, als wäre man selbst der Leidgeprüfte. Als gäbe es, so lange der Film läuft, keine Chance, Abstand zu gewinnen. Etwas später wechselt Kameramann Jomo Fray dann doch insofern den Blickwinkel, da er den von Turner einnimmt. Diese Methode entfacht einen suggestiven, bewegten Bildersturm, das nervöse Schlingern einer subjektiven Kamera sorgt für das beklemmende Gefühl der Einengung. Der Erzählung dabei aus Distanz zu folgen, fällt schwer. Ein Grund mehr, warum Nickel Boys so anstrengt. Dazu dieser fragmentierte Szenenwechsel, die kaum stringente Szenenfolge, diese narrativen Lücken dazwischen. Nickel Boys ist eine hart erarbeitete neue Erfahrung, kein Film, dem man bereitwillig folgt, der aber insofern fasziniert, da er Neues versucht. Gefallen muss es einem nicht. Ausschließlich dafür ist Kino ja auch nicht da.

Nickel Boys (2024)

Kraven the Hunter (2024)

OH, THOSE RUSSIANS!

6/10


Aaron Taylor Johnson (Finalized)© 2024 CTMG, Inc. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: J. C. CHANDOR

DREHBUCH: RICHARD WENK, ART MARCUM, MATT HOLLOWAY

CAST: AARON TAYLOR-JOHNSON, FRED HECHINGER, RUSSEL CROWE, ARIANA DEBOSE, ALESSANDRO NIVOLA, CHRISTOPHER ABBOTT, LEVI MILLER U. A.

LÄNGE: 2 STD 7 MIN


Das US-amerikanische Publikum macht sich mittlerweile eine Hetz daraus, das Sony’s Spider-Man Universe oder kurz SSU insofern zu verhöhnen, da es ihm keine Aufmerksamkeit schenkt. Warum genau ist das so? Liegt das wirklich an den schlechten Drehbüchern dieser Filme? Liegt es daran, dass Spider-Man zu hundert Prozent dem Mauskonzern gehört und Sony zum Resteverwerter degradiert wurde, der mit mehr oder weniger unbekannten Nebenfiguren Vorlieb nehmen muss, die im Grunde allesamt Antagonisten des einzig wahren Helden sind, des freundlichen Burschen aus der Nachbarschaft? Was soll Sony nur tun, wenn genau jene übrigbleiben, die man auch nicht unbedingt beim Turnunterricht als erstes in die Mannschaft wählt?

Sony versucht, das Beste daraus zu machen, schließlich sind diese Lizenzen kostenintensiv und man will Potenzial nicht verschleudern, wenn es nicht unbedingt sein muss. Das Zugpferd beim Restlessen ist natürlich Venom – den Burschen kennt man, neben dem Green Goblin womöglich der markanteste Bösewicht in Marvels Parallelwelt, die sich längst schon damit geoutet hat, nicht zur Zeitlinie des MCU zu gehören. Portale gehen auf und zu, Spider-Man ist niemals in Sicht und wird auch (fast) nie erwähnt. In dieser Welt gibt es ihn nicht, da gibt es nur die Schurken, die aber keine Schurken mehr sind, denn wer will schließlich Filme sehen, die sich an den Werten der Gesellschaft abarbeiten? Aus Venom wird also ein Guter, aus Morbius irgendwas dazwischen, Madame Web – nun, die ist da eine Ausnahme, mit ihrer Clique aus Jugendlichen Damen, und letzten Endes und um up to date zu bleiben rückt Kraven the Hunter nach. Auch ein Erzschurke, eine Nemesis für Spider-Man, nur der Lizenz-Deal verbietet es. Kraven mausert sich ebenfalls zu einem nicht ganz so finsteren Finsterling, der noch finstere Gesellen auf der Liste hat, um diese abzuarbeiten und alle, die grundlos Böses tun, über den Jordan zu schicken.

Dass Kraven The Hunter niemanden hinter dem Ofen hervorlockt oder von der hauseigenen Wohnzimmercouch schmeißt, um das laxe Fernsehpublikum, das sowieso damit rechnet, den Film alsbald streamen zu können, ins Kino zu zitieren, war fast zu erwarten. Die Säle bleiben leer, niemanden interessiert ein vom wilden Löwen gebissener Russe und Spross eines neureichen Drogen-Oligarchen, der seinen chamäloiden Bruder vor anderen bösen Russen beschützt. Man könnte vermuten: Vielleicht liegt es an den Russen? An Hauptdarsteller Aaron Taylor-Johnson womöglich nicht, der wird schließlich in ferner Zukunft zum neuen James Bond. Man könnte sich also schon mal an dieses Gesicht gewöhnen. An Fred Hechinger liegt es wohl auch nicht, der Charakterdarsteller hat Charisma und eine ganz eigene Ausstrahlung, das haben wir zuletzt in Ridley Scotts Gladiator II gesehen, da gab er Diktator Caraccala auf verschmitzt diabolische Weise. Und Russel Crowe? Wenn er mal nicht Exorzismus betreibt, schiebt er sich als Nebenfigur in so manchen Möchtegern-Blockbuster.

Also woran liegt es noch? Wohl kaum am Handlungsaufbau. Kraven the Hunter erzählt eine klassische und von daher auch wenig überraschende Origin-Story eines Antihelden mit kleinen logischen Fehlern, die sich dank der Drehbuchautoren von The Equalizer auch ungefähr so anfühlt – stets darauf ausgerichtet, kurzen Prozess mit denen zu machen, die die Schwachen drangsalieren. Es kommt noch afrikanisches Freiwild hinzu, und mit Hochgenuss lyncht Taylor-Johnson niederträchtige Trophäenjäger auf eine Art, die Genugtuung verschafft. Regisseur C. J. Chandor lässt sich viel Zeit für Zwischenmenschliches, fühlt sich kaum gestresst oder gedrängt dabei, seine Figuren auf eine Art ins Geschehen einzuführen, als hätte er alle Zeit der Welt – als hätte ihm das Studio einen weiteren Teil bereits zugesichert. Nur leider hat es das nicht, und leider darf trotz des relativ offenen Endes wohl kaum mit einer Fortsetzung gerechnet werden. Kravens Spuren verlaufen also im Sand – bis dahin aber verdient Kraven the Hunter deutlich mehr Respekt als unisono ausgebuht zu werden.

Das liegt schon allein an mehr als nur solide durchchoreographierten Actionsequenzen, die an Mission Impossible oder in Bond-Manier durchaus unterhält. Dafür beweist Chandor ein wahres Händchen. Und auch wenn Kreaturen wie The Rhino (den ersten eher lumpen Auftritt hatte Paul Giamatti in Spider-Man: Rise of Electro) oder Psychoschurken wie The Foreigner nur als Wegzehrung für einen dauerhungrigen Jäger herhalten müssen: Die Gründe für den Megaflop muss man woanders suchen. Bei unglücklicher Medienberichterstattung oder Vorschussmisstrauen; Mütterchen Russland oder gar beim frappanten Unbekanntheitsgrad einer Randfigur, die längst nicht so viel Teamgeist besitzt wie die Guardians of the Galaxy. Die waren damals wohl auch eher unbekannt. Dafür aber deutlich bunter.

Kraven the Hunter (2024)

Thelma – Rache war nie süßer (2024)

DIE GELD-ZURÜCK-GERIATRIE

4/10


thelma_rache© 2024 Universal Pictures


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE / DREHBUCH: JOSH MARGOLIN

CAST: JUNE SQUIBB, FRED HECHINGER, RICHARD ROUNDTREE, PARKER POSEY, CLARK GREGG, DAVID GIULIANI, BUNNY LEVINE, MALCOLM MCDOWELL, ANNIE O’DONNELL U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Wenn der eigene Enkel zum Liebsten gehört, was Oma noch hat, dann mag die Hiobsbotschaft am anderen Ende der Leitung wohl noch stärker durch Mark und Pein fahren. Denn Daniel hat Mist gebaut. Anscheinend sitzt er irgendwo im Gefängnis und wartet darauf, dass die Großmutter ihn da rausholt. Unsereins weiß natürlich: Bei diesem Anruf handelt es sich unmissverständlich um den berüchtigten Enkel-Trick, wenn wildfremde Gauner so tun, als wären sie Teil der Familie. Im Alter, so zeigen es diverse Fälle, werden manche leichtgläubig oder lassen sich so sehr von ihren Emotionen mitreißen, um um den Problemfall kritisch zu beäugen. Oma Thelma ist so jemand. Sie kratzt ihr Erspartes zusammen, um das Geld dann per Briefsendung an eine ominöse Adresse zu senden. Kurze Zeit später, als die Familie bei Thelma aufschlägt, stellt sich heraus: Das alles war nur Fake. Jetzt könnte man sich an der Nase nehmen und aus den Fehlern lernen. Doch das Geld – schließlich zehntausend Dollar – ist futsch. Wie also zurückholen? Alten trauen Nachfolgegenerationen nichts mehr zu, letztlich geht es nur darum, diese vor den Unannehmlichkeiten einer längst erprobten Welt zu schützen, als wären sie Kleinkinder. Oma Thelma kann also auf niemanden zählen, der nicht ihrer Altersklasse entspricht. Also holt sie sich Hilfe vom alten Ben, der in einer Seniorenresidenz wohnt und einen Scooter besitzt. Mit diesem tuckern die beiden nach Venice, um den Abzockern das Handwerk zu legen.

Das klingt nach einer spritzigen Seniorenkomödie unter kalifornischer Sonne, nach schräger Situationskomik und vielleicht nach ein paar derben Zoten auf Kosten sämtlicher Altersklischees. Letzteres trifft auch tatsächlich zu. Doch von spritzigem Vergnügen kann, und das ist nicht der minimalen PS des elektrischen Rollers zu verdanken, leider keine Rede sein. Die erst mit 61 Jahren ins Rampenlicht gerückte Schauspielerin, bekannt aus Nebraska, About Schmidt und The Big Bang Theory (dort gab sie in einer Episode Sheldon Coopers Oma) ist mit 95 Jahren noch erstaunlich rüstig. Mit wie viel Elan sie hier die Eigeninitiative ergreift, mag einem anfangs noch die Ohren flattern lassen. Allerdings: Trotz ihres resoluten Auftretens ist die Figur der Thelma wenig sympathisch. Irgendetwas fehlt, vielleicht ist es die etwas ruppig vorgeführte Integrität einer Superhelden-Seniorin, die eine gewisse charkterliche Imperfektion vermissen lässt. Durch diese Imperfektion entstünde eine wärmende Vertrautheit, die Thelma nicht hat. Und dann taucht dann auch noch Ben auf, und zwar Richard Roundtree, der Shaft aus den Siebzigerjahren,um mit seiner alten Jugendfreundin durch die Gegend bis nach Venice zu eiern. Auch er charakterlich ein Langeweiler.

Regisseur und Autor Josh Margolin kann für seine Komödie einige Namen gewinnen, darunter Parker Posey und Clark Gregg (Agents of S.H.I.E.L.D.). Fred Hechinger, eben erst als Diktator Caracalla in Gladiator II zu sehen, gibt den Taugenichts Daniel. Sie alle folgen den Routinen eines uninspirierten Drehbuchs, ihnen selbst mangelt es an Esprit und Tiefe. Sogar Clockwork Orange-Milchbub Malcolm McDowell gibt uns die Ehre, und auch er bleibt nur der Handlanger einer recht biederen Story, die zwar eine alte Dame zeigt, wie sie in die Gänge kommt, sich selbst aber von diesem Tatendrang nicht anstecken lässt. Der langweilige Rhythmus des Films und mangelnde Originalität, die sich der Vorhersehbarkeit hingeben wie so manches Spätsemester seinem Schicksal, bescheren einen müden Selbstjustiz-Schwank ohne viel Tiefe und auch ohne hintergedanklicher Metaebene, die mit den Stereotypen des Älterwerdens aufräumen würde. So leicht wäre es gewesen, mehr daraus zu machen.

Thelma – Rache war nie süßer (2024)

Gladiator II (2024)

DIE HAIE DES ALTEN ROM

5/10


gladiator2© 2024 Paramount Pictures


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2024

REGIE: RIDLEY SCOTT

DREHBUCH: DAVID SCARPA

CAST: PAUL MESCAL, DENZEL WASHINGTON, CONNIE NIELSEN, PEDRO PASCAL, FRED HECHINGER, JOSEPH QUINN, TIM MCINNERNY, DEREK JACOBI, ALEXANDER KARIM, LIOR RAZ, RORY MCCANN U. A.

LÄNGE: 2 STD 28 MIN


Jetzt hatte ihm doch glatt dieser Deutsche namens Roland Emmerich den optimalen Drehort weggeschnappt – die Cinecittà-Studios in Rom. Als ob das nicht schon genug des Schlittenfahrens mit einem alteingesessenen Regie-Veteran wäre – die Rede ist von Ridley Scott – will der Master of Desaster, nämlich Emmerich, dem Meister der Massenszenen auch noch die Show stehlen. Der hatte zu dieser Zeit schließlich die auf amazon längst feilgebotene Sandalen-Serie Those About To Die gedreht: Hickhack im Kolosseum oder im Circus Maximus, alles vor den Kulissen antiken römischen Polit-Geplänkels. Ridley Scott wollte das gleiche machen, hat aber woandershin ausweichen müssen, eben nach Malta und nach Marokko, auch keine schlechten Drehorte, da gibt es schlimmeres. Sein Kolosseum kann Scott auch woanders fluten, teilweise auch am Rechner, von dort peitscht schließlich auch das Mittelmeer an die numidische Festung und bringt den Tod auf Schiffen mit sich. Die größte von ihm gedrehte Schlachtenszene, will Ridley Scott schließlich bemerken. Was Besseres hat er, so meint er, noch nicht hinbekommen. Damit hat der Meister seines Fachs schon genug die Werbetrommel gerührt, denn wenn Scott von sich schon so beeindruckt ist, wie beeindruckend kann das Ganze dann fürs Publikum sein, welches die spektakulären Bilder der Schlacht von Austerlitz aus Napoleon noch taufrisch im Oberstübchen weiß. Die hat es schließlich gegeben, als Dreikaiserschlacht steht sie als Gamechanger in den Geschichtsbüchern.

Die Invasion unter Feldherr Justus Acacius hingegen gab es nie. Ridley Scott ist das egal, uns soweit eigentlich auch. Man kann davon ausgehen, dass diese Seeschlachten und Belagerungen ungefähr alle so aussahen wie zu Beginn des Schinkens Gladiator II, dem Sequel des vor einem Vierteljahrhundert das Genre des Historienfilms wiederbelebten Klassikers mit Russel Crowe, der unter den berührenden Klängen von Hans Zimmer den Sand der Arena kosten musste. Er und Joaquin Phoenix als unberechenbarer, charismatischer Diktator lieferten sich ein Duell der Extraklasse. Was war das nicht für ein großes emotionales Schauspielkino, das man bei Gladiator II leider vermisst. Jeder tut hier, was er kann, doch stets für sich, ohne durch ein ausgefeiltes Teamplay Synergien zu entwickeln, die packendes Kino eben ausmachen. Ridley Scott und sein Drehbuch-Buddy David Scarpa, der schon die Filmbiografie des kleinen Korsen verfasste, schicken allerhand vom Schicksal gebeutelte gute und verrückt-sardonische Böse ins Rennen um die Macht, um Ansehen und die Freiheit in einem Weltreich, das damals womöglich in einer ähnlichen Krise festsaß wie heutzutage so manche Supermacht.

Zwei Narren namens Caracalla und Geta (ja, die hat es gegeben) vergnügen sich mit Spielen und wenig Brot für die Untertanen, der spätere Konsul und Gladiatorenmacher Macrinus (hat’s auch gegeben) intrigiert sich an die Spitze und instrumentalisiert dabei den Numider Hanno, in Wahrheit Lucillas und Maximus‘ Sohn Lucius, den es namentlich zwar auch gegeben hat, aber eine völlig andere Rolle spielt. Diese Figuren also schicken Scott und Scarpa auf die Spielwiese ins Zentrum der ewigen Stadt, die auf verblüffende Weise wieder aufersteht und ein authentisches Gefühl dafür vermittelt, wie es damals zugegangen sein muss. Es schieben sich die Massen über das Forum Romanum, es lebt das landwirtschaftlich genutzte Umland, es brennen die Fackeln über den Köpfen einer Menge an aufständischen Bürgern, die in der Düsternis der abendlichen Metropole gegen die Diktatoren demonstrieren. Hier liegen Scotts Stärken, die er egal in welchem Film mit geschichtlichem Kontext stets auf vollkommene Weise ausspielen kann. Wie er das macht, und vor allem, wie effizient (Drehtage gab es lediglich knapp 50), ist erstaunlich. Und ja, da gibt es keinen zweiten, der ihm da das Wasser reicht. Und wenn doch, dann ist es vielleicht eingangs erwähnter Emmerich, der die brachiale Opulenz des Leinwandspektakels zwar nicht ganz so auf Hochglanz poliert wie sein britischer Kollege, aber zumindest weiß, wie er die ausstattungsintensiven Settings wieder kaputtmacht.

Wie bei Gladiator aus dem Jahr 2000 beginnt Gladiator II mit einem Schlachtengemälde, gesteckt voll mit überzeugenden Kulissen und selbstredend ohne historische Akkuratesse. Am Ende sammelt Ridley Scott wieder die Massen, es raubt einem den Atem, wenn die römischen Heere aufmarschieren, auch dort ohne Gewährleistung wissenschaftlicher Genauigkeiten. Experten raufen sich sowieso schon längst die Haare, vorallem, weil Scott hier noch weniger Acht gibt als er es sonst tut. Er nimmt sich aus der Geschichte, was er brauchen kann, und nur anlehnend an Tatsachen setzt er diese Elemente so zusammen, als wäre sie die freie Interpretation irgendwelcher Legenden. Das kann er machen, das tun so manche Serien (Vikings, Last Kingdom) ebenso. Streiten lässt sich darüber angesichts der Fülle an Fehlern irgendwann gar nicht mehr.

Zwischen den bildgewaltigen Szenen dümpelt allerdings ein inspirationsloses Popcornkino dahin, das Talente wie Paul Mescal (u. a. Aftersun), Pedro Pascal und Denzel Washington maximal routiniert aufspielen lässt. Mescal ist dabei erfrischend kaltschnäuzig dank seiner Situation des Kriegsgefangenen, der seine bessere Hälfte von den Römern ermordet weiß. Warm wird man mit ihm nie, auch Pedro Pascal bringt niemanden zum Erzittern. Er ist Figur durch und durch, lebt sie aber nicht. Washington erzeugt die meisten Vibes, während Connie Nielsen mit ihrer ambivalenten Figur der Lucilla völlig überfordert scheint. Sie sucht die flucht im flachen Spiel kolportierter Emotionen. Es scheint, als hätte Emmerich die Regie übernommen, wofür auch Haie bei der nachgestellten Schlacht von Salamis und räudige Paviane blutdürstend Zeugnis ablegen.

Geschichtskino kann Ridley Scott deutlich besser. Warum es ihn nicht losgelassen hat, unbedingt den Gladiator fortzusetzen, der niemals auch nur einmal danach verlangt hätte, mag mir ein Rätsel bleiben. Vielleicht ist es wieder nur das Geld, doch Scott ist mit seiner eigenen Produktionsfirma sowieso der Gunst des Publikums längst erhaben. Man kann nur hoffen, dass das Feintuning bei ihm wieder zurückkehrt, auch die Lust am filmischen Standalone eines Monumentalfilms ohne Drang nach Fortsetzung. Mit dieser Art von Film schließlich tut sich Scott seltsam schwer.

Gladiator II (2024)

Butcher’s Crossing (2022)

MÄNNER FÜR ALLE FELLE

5/10


butcherscrossing© 2022 Splendid Films


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: GABE POLSKY

DREHBUCH: GABE POLSKY, LIAM SATRE-MELOY, NACH DEM ROMAN VON JOHN WILLIAMS

CAST: NICOLAS CAGE, FRED HECHINGER, JEREMY BOBB, PAUL RACI, XANDER BERKELEY, RACHEL KELLER U. A.

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Forrest Gump würde sagen: Nicolas Cage ist wie eine Schachtel Pralinen. Man weiß nie, was man bekommt. Denn Cage, der kann alles und will auch alles spielen, schreckt vor nichts zurück, mag Komödien genauso wie Action, Horror oder Experimentelles, das als Arthouse einem breiteren Publikum wohl nicht so unter die Nase geht. Grund genug für mich, immer mal wieder reinzuschnuppern, wenn der Set-Workaholic mit neuem Content von sich reden macht. Manche dieser Werke finden auch ihr Ziel auf der großen Leinwand, manches erfreut hierzulande nur im Stream.

Schüsse in den Ofen sind Cages Arbeiten längst nicht immer. Cage ist Profi, und als Profi lässt er Genres wie den Western genauso wenig aus. Um sich von seinen bisherigen Figuren auch optisch abzuheben, gibt’s diesmal die Radikalrasur. Narbige Glatze und Dreitagebart, das räudige Äußere eines zwielichtigen Abenteuers aus dem Billigpistolen-Paradies des Italiens der Sechzigerjahre. So lässt sich der in Büffelfell gehüllte und gemächlich einen Whisky schlürfende Klischee-Zampano auch ohne weiteres zu einer Expedition überreden, für die er schließlich keinen müden Dollar locker machen muss, packt doch den aus Boston direkt in die wilde Provinz verschlagenen und auch gut betuchten Studienabbrecher Will Andrews die Lust, eins mit der Natur zu werden und Leuten wie Miller (eben Nicolas Cage) in ein Territorium zu folgen, dessen Boden nur wenige Menschen zuvor betreten haben. Angeblich, so Miller, soll es dort noch die letzten großen Büffelherden geben, und da die Nachfrage für das Fell der Tiere noch größer als das Angebot scheint, lässt sich damit eine goldene Nase verdienen.

So koffert das berittene Team aus vier grundverschiedenen Abenteurern durch feindliches Indianergebiet ohne Indianer, um letzten Endes tatsächlich an einen Ort zu gelangen, wo es vor Rindviechern nur so wimmelt. Miller sollte recht behalten – im El Dorado eines Büffeljägers lässt sich hemmungslos wüten und dem Wahnsinn verfallen. Nicolas Cage findet anfangs geschmeidig in seine Rolle, nur ist diese des Großwildjägers Miller keine, die, wie so oft im Genre des Western, auf eine psychologische Reise in Wechselwirkung mit den Umständen verzichtet. Der anfängliche Grundcharakter der Figur wechselt später nur ungern zum Psychogramm eines blutrünstigen Tier-Killers, der den Hals nicht voll bekommt. Dementsprechend gibt es Response auch von den Co-Charakteren, die weitaus glaubwürdiger agieren als Cage. Sich bedeutungsschwer an den Kopf zu greifen wie seinerzeit Marlon Brando in Apocalypse Now oder den typischen Manierismus des Schauspielers, die da so sind wie das wilde Gestikulieren mit den Armen – es scheint, als hätte Cage die Dimension seiner Figur nicht kommen sehen oder einfach unterschätzt.

Fred Hechinger als der blauäugige Junge vom Land hat, je mehr Cage aufdreht, immer weniger bis gar keinen Text mehr. Es ist, als hätte man auf seine Figur vergessen, dabei fungiert sie obendrein als Erzähler. Das Abenteuer rund um den einbrechenden Winter, für den on location in Montana gedreht wurde, spiegelt sich kaum in der Psychologie der Abenteurer wider. Butcher’s Crossing verliert irgendwann das Gefühl für Zeit und die Fähigkeit, Zeiträume zu vermitteln. Das ambitionierte Vorhaben Polskys, die Beinahe-Ausrottung des nordamerikanischen Büffelbestands zu thematisieren, scheitert zum Teil an genau diesen Knackpunkten, während jene Szenen, die das Töten und Schlachten der Tiere visualisieren, so verblüffend gut gemacht sind, dass einem mulmig wird.

Butcher’s Crossing (2022)

The Woman in the Window

WENN DAS DIE NACHBARN WÜSSTEN

3,5/10


womaninthewindow© 2021 Twentieth Century Fox / Netflix


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: JOE WRIGHT

DREHBUCH: TRACY LETTS, NACH DEM ROMAN VON A. J. FINN

CAST: AMY ADAMS, GARY OLDMAN, JULIANNE MOORE, ANTHONY MACKIE, WYATT RUSSELL, FRED HECHINGER, JENNIFER JASON LEIGH, TRACY LETTS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Wenn ich schon vermute, dass die verschrobene Dame von vis a vis andauernd rüberäugt, werde ich mir a) entweder Vorhänge zulegen oder b) einfach die Jalousien runtertun. Kann ja kein Problem sein. Aber nein: aufgrund eines vagen exhibitionistischen Drangs sieht die Familie von gegenüber, die womöglich einige Geheimnisse birgt, keinerlei Notwendigkeit dazu. Ein höchst obskures Verhalten – und schon mal ein sehr offensichtlicher Fehler im von Schauspieler Tracy Letts verfassten Drehbuch, der auch hier – ohne in den Credits erwähnt zu werden – Amy Adams‘ Therapeuten gibt. Die wiederum leidet als Anna unter Agoraphobie und würde einen Lockdown überhaupt nicht spüren, gäbe es einen. Sie hütet also das Haus, und nicht nur die Wohnung, denn Adams besitzt eine mehrgeschossige Immobilie, in der gerade mal ein Junggeselle (Wyatt Russell aus The Falcon and the Winter Soldier) zur Miete wohnt. Adams Figur wirkt ziemlich durch den Wind – was sie den ganzen Tag macht, weiß keiner. Oder vielleicht doch – nämlich aus dem Fenster sehen und mit Fotoapparat und Binokular das Treiben im Haus gegenüber ausspionieren. Vielleicht ist es, so wie bei James Stewart aus Das Fenster zum Hof, einfach aus einer situationsbedingten Langeweile heraus, die sie vors Fenster bannt. Eine kleine Abwechslung bietet das Auftauchen des Sohnes von gegenüber und auch dessen Mutter, gespielt von Julianne Moore, die so wirkt als wäre sie auf einem glückseligmachenden Drogentrip – dauergrinsend und überdreht. Eines weiteren schönen Tages allerdings beobachtet Anna das Unvermeidliche: einen Mord an just jener Frau, die erst kürzlich zu Besuch war. Das passiert natürlich schön vor dem Fenster, damit die ganze Nachbarschaft das Ereignis mitbekommt. Schockschwerenot, die Polizei muss her! Und schon ist nichts mehr, weder die Wirklichkeit noch sonst was, wie es vorher war. Eigentlich kein Wunder, suhlt sich die Kinderpsychologin außer Dienst doch tagtäglich in einem Mix aus Wein und rezeptpflichtigen Tabletten, die additiven Alkohol grundlegend verneinen.

Hitchcock, schau runter! Wie sehr erinnert dich dieser Film wohl an deinen eigenen? Und für wie gut würdest du ihn finden? Du würdest vielleicht mal auf der Habenseite die wandelbare Amy Adams sehen. Das stimmt – als vom Schicksal gezeichnete, psychisch ziemlich in Mitleidenschaft gezogene Housesitterin wandelt sie durch ihre Gemächer, an der einen Seite die Katze, an der anderen das Weinglas. Die Grundlage für ein Kammerspiel mit doppeltem Boden wäre geschaffen. Auch all die anderen Co-Stars wie Gary Oldman, der gefühlt auch keine Angebote mehr ausschlägt wie seinerzeit Christopher Lee, liefern saubere Arbeit. Wofür sie sich jedoch bemühen, ist ein relativ überschaubares, wenn nicht gar enttäuschendes Soll. Dabei sitzt Joe Wright im Regiestuhl, von welchem man bereits einige souveräne Arbeiten kennt. Im Falle von The Woman in the Window ließe sich noch so gut Regie führen – es würde alles nichts helfen, wenn der Plot nicht will. Denn dieser hier bremst sich selbst aus. Das macht er, indem er nicht nur einen Psychothriller alter Schule erzählt (mit ganz eindeutigen, auch visuellen Referenzen an Hitchcocks Klassiker), sondern auch Amy Adams‘ Leidensgeschichte. Ein knackiger Thriller konzentriert sich auf den expliziten Schrecken seines Verbrechens und den nachhaltig verstörenden Folgen. The Woman in the Window tut sich schon von Beginn an schwer, dramaturgisch aufzuräumen, damit alles seinen Lauf nehmen kann. Stattdessen nimmt er den eigentlichen Storytwist vorweg, irgendwann in der zweiten Hälfte des Films, um dann nochmal einen weiteren, wenig plausiblen Twist zu bemühen, der das längst zum Stillstand gekommene Szenario noch retten soll.

Vor kurzem gab es einen ähnlichen Film – Stunde der Angst mit Naomi Watts. Auch sie psychisch sichtlich angeschlagen, verlässt sie die Wohnung nicht und fürchtet sich vor einem Serienkiller, der in der Gegend sein Unwesen treibt. Hier arbeitet Alistair Bank Griffins ganz bevorzugt mit dem seelischen Dilemma der Protagonistin, während sich der Krimi-Plot begleitend unterordnet. Auch kein Meisterwerk, aber deutlich besser als dieses leider in den Keller krachende Konstrukt eines versuchten Selbstbeweises in Sachen Suspense.

The Woman in the Window