Der Herr der Ringe: Die Schlacht der Rohirrim (2024)

IM PULSSCHLAG VON TOLKIENS WELT

8/10


schlachtderrohirrim© 2024 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA, JAPAN 2024

REGIE: KENJI KAMIYAMA

DREHBUCH: PHOEBE GITTINS, ARTY PAPAGEORGIOU, JEFFREY ADDISS, WILL MATTHEWS, BASIEREND AUF DEM ROMAN VON J. R. R. TOLKIEN

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): BRIAN COX, GAIA WISE, LUKE PASQUALINO, MIRANDA OTTO, LAURENCE UBONG WILLIAMS, LORRAINE ASHBOURNE, SHAUN DOOLEY, BILLY BOYD, DOMINIC MONAGHAN U. A.

LÄNGE: 2 STD 14 MIN


Ich muss gestehen: Die Kunstform des japanischen Anime-Films und ich haben so unsere Annäherungsprobleme, obzwar ich mit so manchem aus dem Kinderprogramm der Achtziger aufgewachsen bin: Biene Maja, Heidi, Perrine, Niklas – alles Produktionen unter anderem aus den Studios der Nippon Animation, bis auf Heidi, die gehörte Zuiyo Enterprise. Hinterfragt haben wir die Darstellung der Figuren und den Zeichenstil damals natürlich nicht, die großen Münder, die großen Augen, das war alles selbstverständlich, obgleich etwas befremdend im Gegensatz zu anderen Animationsserien, die das nicht ganz so hatten. Den Stil des Anime muss man mögen – oder auch nicht. Franchises wie One Piece oder Dragon Ball können mich nicht abholen, die ganzen Klassiker, von Chihiros Reise ins Zauberland über Mein Nachbar Totoro bis hin zu Akira – sie alle stünden noch auf meiner Watchlist, würde ich es in Betracht ziehen, mich mit diesem Genres trotz meiner Verschnupftheit gegenüber seiner Machart auseinanderzusetzen. Vielleicht muss man andere Franchises bedienen, die Fans ganz anderer Welten längst liebgewonnen haben. Wie wärs mit Star Wars? Da gibt es die Anthologieserie Star Wars Visions auf Disney+. Zahlreiche Künstler des Anime haben dort Versatzstücke der weit entfernten Galaxis neu- und nachinterpretiert. Ein Experiment, das nur bedingt aufgeht. Anders verhält es sich da schon mit Mittelerde und allem, was vor, nach und während der Ringkriege so passiert sein mag.

Den Versuch wagt diesmal Kenji Kamiyama, der bei Star Wars Visions mit seiner Episode The Ninth Jedi bereits vertreten war. Und verarbeitet eine Erwähnung aus den Anhängen der Herr der Ringe-Romane von J. R. R. Tolkien zu einem schicksalhaften Epos rund um die Völker von Rohan, angesiedelt ungefähr zweihundertfünfzig Jahre vor der Sache mit dem einen Ring, und eingebettet in die für Kenner und Fans bereits vertraute, wohlbekannte und griffige alte neue Welt der weiten Täler, Grassteppen und unwirtlichen Gebirgszüge, in deren zerklüfteten Flanken sich so manche aus Menschenhand erbaute Burg aus den Schatten quält. Eine davon ist uns wohlbekannt. Damals nannte man sie Hornburg, nach den heldenhaften Taten eines Königs namens Helm Hammerhand treffend Helms Klamm getauft. Eine Festung sondergleichen, eine unbezwingbare letzte Bastion, aus der es, wird sie mal belagert, kaum ein Entkommen gibt. In Der Herr der Ringe – Die zwei Türme grölte vor den Mauern die unzählbare Meute blutdürstender Orks unter der Führung des sinistren Zauberers Saruman (der auch hier einen kleinen Cameo-Auftritt absolviert – mit der Stimme Christophers Lees). Jahrhunderte früher war es eine Handvoll Dunländer, die sich die Kampfeslust der Bergvölker zu eigen machen, um sich die Herrschaft der Provinz Edoras unter den Nagel zu reissen. Heerführer Wulff, emotional geblendet, rachelüstern und beleidigt wie ein kleines Kind, will Helm Hammerhand, der seinen Vater auf dem Gewissen hat, samt seiner Sippschaft vom Boden Mittelerdes tilgen. Hammerhands Tochter, die rothaarige und pferdeliebhabende Héra, hat Wulff einst den Laufpass gegeben, umso mehr wuchert die Kränkung in des Gegners einfachem Gemüt. Es kommt, wie es kommen muss, die Schlacht der Rohirrim wird in diesem Anime-Abenteuer ausgetragen werden, bildet aber nicht den Höhepunkt des Films, sondern darf vielmehr als Rad des Schicksals die Parameter neu verteilen.

Mit viel Gespür für die Seele von Tolkiens Welt und einer Lust am Erzählen von Märchen und Legenden, als würde man als Hobbit am Lagerfeuer irgendwo in den Wäldern des Auenlandes sitzen und erfahrenen Reisenden bei ihren genüsslichen Vorträgen an den Lippen hängen, so wirkt Der Her der Ringe: Die Schlacht de Rohirrim auch auf mich. Anders als die von den amazon studios ins Leben gerufene Serie beweist der Stoff, aus dem die epische Fantasy erstanden sein mag, das Zeug dazu, auf der großen Leinwand viel besser zu funktionieren als auf dem Abspielgerät des Streamers. Der Herr der Ringe gehört ins Kino, Der Herr der Ringe funktioniert nur dann, wenn die Geschichte den Mut hat, weitestgehend stringent erzählt, anstatt andauernd von Nebengeschichten zerrissen zu werden. Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht leidet darunter, zu viele Schauplätze auf einmal zu bespielen. So funktioniert das Erzählen von Legenden nun mal nicht. Wenn es hochkommt, können zwei Erzählstränge parallel laufen, um einander zu ergänzen. Frodos Odyssee zum Schicksalsberg auf der einen, die Abenteuer der übrigen Gefährten auf der anderen Seite. Die Schlacht der Rohirrim besinnt sich auf den Erzählstil von Mittelerde und macht somit alles richtig. Schafft dadurch auch Atmosphäre und elegantes Pathos, vermengt sein großes Drama mit Howard Shores Gänsehaut-Klängen und nachhaltigen Wendungen, die diesem Teil Mittelerdes eine glamouröse Bedeutung verleihen, die wiederum in den späteren Filmen ihren Widerhall findet.

Meine vom Fotorealismus verwöhnten Augen gewöhnen sich überraschend schnell an den Stil des Anime. Siehe da, die reduzierte Mimik der Gesichter schafft Spielraum für die eigene Imagination der Heldinnen und Helden, die Geschichte ist der Optik untergeordnet und kann sich entfalten. Kamiyamas Film gerät dadurch zum leidenschaftlichen Herrscherinnendrama und legt den Grundstein für so starke Figuren wie Thronerbin Éowyn, die im Grande Finale der Ringe-Trilogie dem Hexenmeister den Feminismus erklärt. In einem Guss erzählt und eingebettet in das große Mysterium der Kerngeschichte des dritten Zeitalters, spürt das Franchise endlich wieder den Pulsschlag von Tolkiens Welt.

Der Herr der Ringe: Die Schlacht der Rohirrim (2024)

Hagen – Im Tal der Nibelungen (2024)

EIN HELDENMÖRDER ERHEBT DIE STIMME

7/10


hagen© 2024 Constantin Film


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2024

REGIE: CYRILL BOSS & PHILIPP STENNERT

DREHBUCH: CYRILL BOSS, PHILIPP STENNERT, DORON WISOTZKY

CAST: GIJS NABER, JANNIS NIEWÖHNER, DOMINIC MARCUS SINGER, LILJA VAN DER ZWAAG, ROSALINDE MYNSTER, ALESSANDRO SCHUSTER, JOHANNA KOLBERG, JÖRDIS TRIEBEL, JÖRG HARTMANN, BÉLA GABOR LENZ, EMMA LOUISE PREISENDANZ U. A.

LÄNGE: 2 STD 15 MIN


Was für Großbritannien die Artus-Sage, ist für Kontinentaleuropa wohl die Urmutter aller Königsdramen: Die Nibelungensage. Doch anders als in der griechischen Antike sind die nordischen Götter nicht ganz so präsent und lenken die Schicksale der Sterblichen, sondern schicken uralte Wesen in eine nicht näher verankerte historische Realität, die zwischen Attila dem Hunnenkönig und dem Niedergang der Burgunder angesiedelt ist. Es sind dies Drachen, Zwerge, Walküren. In diesem metaphysischen Dunst aus Legende und geschichtlichen Fun Facts streiten Siegfried, der Universalheld, später missbraucht durch den Nationalsozialismus als germanische Symbolfigur, und Hagen, der fiese Recke, angestachelt durch die betrogene Walküre Brunhild, um Gunst und Ansehen. Das Regieduo Cyrill Boss und Philipp Stennert, die sehr erfolgreich Julia Jentsch und Nicholas Ofczarek als ungleiches Ermittlerduo in Der Pass mit dem Grauen in den Alpen konfrontierten, wollen dem Parade-Antagonisten mit der Augenklappe nicht die Origin-Story eines Finsterlings angedeihen lassen. Hagen von Tronje soll rehabilitiert werden, soll sagen und zeigen können, was ihn letztlich bewegt haben soll zu dieser schrecklichen Tat, nämlich Siegfried den Speer in den Rücken zu rammen, genau dorthin, wo das Lindenblatt die sonst durch Drachenblut unverletzbar gewordene Haut undurchdringbar machte. Vielleicht aber war zwar nicht alles, aber vieles ganz anders?

Fantasy-Autor und Vielschreiber Wolfgang Hohlbein, der „Konsalik“ der fantastischen Literatur, hat mit Hagen von Tronje die Vorlage für einen Film geliefert, den kaum mehr etwas mit Richard Wagners getragenem Opern-Bombast oder Fritz Langs Stummfilmversion verbindet. So sehr die nihilistische Sage der Nibelungen die ganze dunkle, große Tragödie heraufbeschwört und im Grunde den gesamten Cast über die Klinge springen lässt, so leicht kann das Drama aus Intrige, Verrat und Rache im Zuckerwasser der Schwülstigkeit versinken, kann der wildromantisch-mittelalterliche Ritterfest-Kitsch sintflutartig über sein Publikum hereinbrechen. Vieles könnte schiefgehen bei einem relativ frei interpretierbaren Stoff wie diesem, der politisch längst instrumentalisiert wurde. Zum Glück haben Boss und Stennert genug Inspiration genau dort gesammelt, wo das magische Mittelalter, und sei es auch noch so sehr nicht von dieser Welt, erwachsen wurde: Game of Thrones. Der mehrstaffelige Straßenfeger wird zum Musterbeispiel, wie geerdet, straff und schnörkellos Königsdramen inszeniert werden können. Auch Vikings oder The Last Kingdom – Formate, die historisch nicht akkurat, aber dramaturgisch und visuell enorm innovativ vom frühen Mittelalter im Norden Europas berichten – beeinflussen nun auch das Kino Deutschlands. Hagen – Im Tal der Nibelungen gefällt sich in moderater Düsternis, erdigen Bildern und vor steingrauen Kulissen. Entschmückt, entkitscht und dem Fantastischen zugeneigt, findet das Regieduo im wahrsten Sinne des Wortes sagenhafte Bilder für diesen uralten Stoff, ihr Höhepunkt gipfelt in der Darstellung der isländischen Walküren und deren Festungen – internationalen Vorbildern steht die Bildwelt dieses Streifens um nichts nach.

Sind Setting und Ausstattung mal auf der Habenseite, gibt Hagen – Im Tal der Nibelungen den ikonischen Figuren stets die passenden Gesichter. Gijs Naber verkörpert das titelgebende Schwergewicht so selbstsicher, da kann kommen was will. Als Konterpart und Sparringpartner: Jannis Niewöhner als eine erfrischend unpathetische Interpretation eines ambivalenten Haudraufs, der durch Intuition seinen Status sichert. Das strahlende Licht, dass Siegfried im Laufe der Kulturgeschichte immer mit sich brachte, ist hier nun erloschen. Umgekehrt weicht die Finsternis allerdings auch von Hagen, beide Charaktere werden in ein graues, altes Licht getaucht, dass Zwerg Alberich als geheimnisvolle Spukgestalt zu erklären versucht. Kriemhild, Brunhild, selbst König Gunter: Auch da gelingt das Casting einwandfrei.

Kritik muss sich Hagen – Im Tal der Nibelungen vielleicht dahingehend gefallen lassen, dass der Film einige Zeit benötigt, um erst so richtig in die Gänge zu kommen. Verhalten und zaghaft öffnet sich die Büchse der Pandora der Burgunder, Längen schleichen sich ein. Man merkt auch eines: Hagen – Im Tal der Nibelungen will beides – als Serie und als Film funktionieren. Ein kniffliger Spagat, denn beide Medien verlangen unterschiedliche Konzepte. 2025 soll aus diesem Film hier eine sechsteilige Serie werden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese noch besser funktionieren wird als auf der Leinwand. Denn ein Kinofilm ist das Sagen-Schmuckstück zumindest nicht in erster Linie, auch wenn es einen Bildersturm entfesselt, der für den Homescreen fast zu schade ist. Eine Sehnsucht, die auch Game of Thrones ertragen musste.

Hagen – Im Tal der Nibelungen (2024)

The Lost King (2022)

DER KÖNIG UND ICH

8/10


thelostking© 2023 X Verleih


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2022

REGIE: STEPHEN FREARS

DREHBUCH: STEVE COOGAN, JEFF POPE

CAST: SALLY HAWKINS, STEVE COOGAN, HARRY LLOYD, JAMES FLEET, MARK ADDY, LEE INGLEBY, LEWIS MACLEOD, BENJAMIN SCANLAN, ADAM ROBB U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Ein Pferd, ein Pferd, ein Königreich für ein Pferd! Es wird wohl kaum jemanden geben, bei dem es da nicht klingelt. Ein Zitat, das bereits die Jahrhunderte überdauert hat und weitere überdauern wird, aus einem Theaterstück, dem es ebenso ergeht: Richard III. William Shakespeare hat den letzten Plantagenet-Monarchen als buckligen, ekelhaften Thronräuber hingestellt, der die Nachkommen seines Bruders – zwei Prinzen – in den Tower schloss. War dem wirklich so? War Richard III. wirklich bucklig, wirklich so grausam zu seinen Neffen, und wirklich ein Thronräuber? Vieles, so denkt sich die in einem Callcenter arbeitende und unter ME leidende Philippa Langley nach dem Besuch einer Aufführung besagten Stückes, könnte auch nur die hetzerische Darstellung der Tudors gewesen sein, die für etwas mehr als ein Jahrhundert den Thron besteigen werden. Vieles mag vielleicht nur eine subjektive Schlussfolgerung ob eines nicht ganz gefälligen Äußeren gewesen sein. So, wie Philippa selbst stets übervorteilt wird, da sie in Stresssituationen Schwierigkeiten hat, sich zu konzentrieren oder meist übermüdet zur Arbeit kommt. Dabei steckt so viel mehr in ihr selbst als von allen anderen angenommen. Es steckt die plötzliche Mission in ihr, die sterblichen Überreste eines verunglimpften Herrschers zu finden, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Der Ex-Ehemann, Steve Coogan, hält das für einen schlechten Scherz. Die Fangemeinde um King Richard, zu welcher Philippa bald zählen wird, begegnet diesem Enthusiasmus zwar mit Wohlwollen, aber aus der Distanz. Denn so ein irres Vorhaben, das kann niemals Früchte tragen.

Und dennoch ist es so passiert. Im Jahre 2012 wurden auf dem Parkplatz eines Sozialzentrums irgendwo in Leicester der Leichnam des verlorenen Königs gefunden, und das nur, weil Philippa Langley in selten gesehener Beharrlichkeit sämtliche Hürden zu überwinden imstande war. Als Durchschnittskonsument(in) ohne akademischen Abschluss, wenig Einfluss und schon gar keinem elitären Netzwerk bis in die höheren Kreise von Wissenschaft und Politik wird man wohl sehr schnell das Handtuch werfen – oder solch eine Schnapsidee, vernüftig, wie man ist, vom Tisch wischen. Doch wo ein Wille, da ein Weg, das zeigt Stephen Frears in seiner neuen True Story mit erfrischender Begeisterung für seine zerbrechlich scheinende Heldin, die allerdings so viel Power in sich trägt, um die gesellschaftliche Ordnung umzukehren. Akademiker und Universitäts-Kapazunder sehen sich bald in einer Philippa untergeordneten Rolle. Sally Hawkins verkörpert die treibende Kraft hinter dem Abenteuer Archäologie nicht, als wäre sie ein weiblicher Indiana Jones mit der für Harrison Ford so typischen unverhohlenen Dreistigkeit, sondern wie jemand, der sich von seiner Intuition leiten lässt. Demotivierende Niederlagen sind der Nährboden für neue Ideen. Improvisation, Flexibilität und vor allem Ehrlichkeit führen Philippa bis jenseits der Grenzen des Möglichen. Verletzlich und doch unerschütterlich hetzt Sally Hawkins als unscheinbare, kleine Amateurin von Pontius zu Pilatus, strahlt mitunter natürlich so einige Verbissenheit aus, die man ihr am liebsten ausreden würde  – doch dieses Abenteuer eines weiblichen „Bilbo Beutlins“, der auf dieser unerwarteten Reise über sich hinauswächst, ist so packend erzählt und dabei noch so wahrhaftig, dass man am liebsten selbst gleich mit anpacken würde, um den Asphalt schneller aufzureißen als es letztlich geschieht.

Mit dabei und nur für Hawkins Charakter sichtbar: Richard III. himself als junger König, meist wortlos, aber für Fragen offen. Ob diese Visionen Philippa tatsächlich heimgesucht haben, wage ich zu bezweifeln. Um die Gedankenwelt der zweifachen Mutter aber entsprechend zu illustrieren, ist dieses Stilmittel tatsächlich eines, das tiefer in die Materie hineinführt, das den verschollenen König nicht auf einen Haufen Knochen oder Shakespeares Interpretation reduziert, sondern eine die Geschichte beeinflussende Person daraus macht, die vielleicht ganz anders war als in unserer Wahrnehmung verankert.

Mit The Lost King entsteht die völlig unprätentiöse, unkitschige und aus ganzem Herzen rekapitulierende Chronik einer unglaublichen Geschichte. Eine, für die Professor Jones wohl alles geben würde. Eine, die aber kein draufgängerischer Akademiker, sondern die gute Seele aus der Nachbarschaft erzählen darf. Weil die Kraft des Willens zwar schwer, aber doch, so laut nach einem König rufen kann, bis dieser sich bequemt, unter all den Erdschichten hindurch die Hand zu heben. Frears begeistert sich selbst für seinen Film und begeistert auch sein Publikum, indem er zwischen Biografie, hautnaher Geschichte und gelebter Archäologie fürs Volk selbst Shakespeare-Banausen in seinen Bann ziehen kann. Weil es um mehr geht als nur um erdverkrustete Gebeine. Es geht um Respekt, Vorurteile und dem Kampf gegen die Arroganz der Privilegierten.

The Lost King (2022)

Macbeth (2021)

DIE PARANOIA EINES THRONRÄUBERS

7/10


macbeth© 2021 Apple+ 


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: JOEL COEN

CAST: DENZEL WASHINGTON, FRANCES MCDORMAND, BRENDAN GLEESON, HARRY MELLING, COREY HAWKINS, RALPH INESON, KATHRYN HUNTER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Sind die Werke von William Shakespeare tatsächlich immer noch zeitlos? Oder hat die Bühnensprache aus dem frühen 17. Jahrhundert nicht auch irgendwann ein Ablaufdatum? Wie ist es wohl passiert, dass Shakespeare als das Non plus Ultra rezitierter Textgröße einem witterungsbeständigen Monument gleich allen Jahrhunderten trotzt und ein jeder, der auch nur irgendwas mit Schauspiel oder Theater zu tun hat, sich zumindest einmal an dem Engländer mit der Halskrause ausprobieren will? Jetzt gehört auch noch Joel Coen (und zwar ohne Bruder Ethan) zu denen, die vor den sperrigen Königsdramen einen Hofknicks machen. Und dreimal darf geraten werden, welches Drama wohl zum Zug kommt. Ganz klar, Macbeth – der schottische Königsmörder und der Wahnsinn. Wenn man den mal ordentlich adaptiert, kann man so gut wie alles inszenieren. Sogar Theater.

Dabei ist Macbeth irgendein schottischer König aus dem ganz finsteren 11. Jahrhundert, einer, der sich, angestachelt von seiner Gattin – der berühmt berüchtigten Lady Macbeth – hochgemordet und das Land aber für einige Zeit zumindest gar nicht mal so Caligula-like regiert hat. Es herrschte Frieden und Wohlstand – wer hätte das gedacht? Der Thronerbe des verblichenen Königs Duncan hat da aber außerhalb der Regimentsgrenzen bereits die Messer gewetzt, um sich seinen Anspruch zurückzuholen, war dieser doch wohlweislich vor den Häschern Macbeth’s geflohen. Er wird heimkehren, es wird Krieg gegeben haben – Macbeth wird bald Gespenster gesehen und sich in einen paranoiden Wahn hineingesteigert haben – während getötet wurde, wer ihn auch nur schief angesehen hat.

Es ist klar, wie es ausgehen wird, nicht umsonst ist das Stück eine Tragödie. Die Macbeths werden am Ende ihrer blutigen Karriere wohl nicht mehr atmen. Dabei lässt sich die Handlung ja, wenn man sich genug konzentriert, aus den hochgestochen arrangierten Textbrocken, die so schönmalerisch und in bildhafter Umschreibung Gemütszustände mit allem möglichen vergleichen, dann doch extrahieren. Das bedarf aber – bei Shakespeare eben einmal mehr, einmal weniger – ganz schön viel Aufmerksamkeit, was letzten Endes weniger Genuss als Erarbeitung darstellt. Dem lässt sich allerdings aus dem Weg gehen. Vor allem dann, wenn Macbeth schon aus Theater und Kino zur Genüge bekannt ist. Viel anders als in den letzten 400 Jahren wird’s nicht mehr. Die Verpackung drumherum allerdings schon. Coens Film ist einer, der schließlich visuell funktioniert – der altbekannte Klassiker ist dabei nur der librettoartige Unterbau, um sich an den darstellenden Künsten zu probieren. 

Und so hat Joel Coen das ganze geblümt-schwere Szenario als expressionistisches Schattentheater auf eine grenzenlos scheinende, gleichermaßen aber hermetisch abgeriegelte Bühne gesetzt. Noch mehr von der Realität entfremdet wird das Ganze durch manchmal kontrastreiches, manchmal weichgezeichnetes Schwarzweiß. Nichts, gar nichts dringt von außen, von einer pandemiegequälten Jetztzeit, in die archaische Psychopolitik eines schottischen Wüterichs, der in einer nebelverhangenen Traumwelt sein Schicksal sucht. Wenn die drei Schicksalskrähen auf dem Schlachtfeld erscheinen, erinnert dies frappant an die Werke Ingmar Bergmans (u. a. Das siebente Siegel). Hätte dieser Shakespeare inszeniert, wäre sein Film Coens Interpretation vermutlich recht ähnlich.

Dass hier Reminiszenzen zu finden sind, liegt somit auf der Hand: Die Liebe zum alten, klassischen Studiofilm lässt geometrische Kulissen, wie wir sie aus den Theatern dieser Welt kennen, Licht durch finstere Torbögen gleißen, manches erscheint wie mit Tinte gezeichnet, manches ist selbstbewusstes Retrokino aus der Hochzeit skandinavisch-deutscher Schauer- und Stummfilmdramen, die auch Dave Eggers in Der Leuchtturm freudvoll angehimmelt hat. Auf ähnliche Weise bringt die lettische Mystery November das Metaphysische in eine von Mythen überforderte Welt. Damals allerdings hätte es unter Bergmans Regie wohl kaum einen schwarzen Macbeth gegeben.

Mit dieser Art und Weise des Inszenierens flackert die Erinnerung daran, dass es sowas wie eine Filmhistorie gibt, auch wieder auf. Das symbolistische Bedeutungskino, von der Bühne auf den Screen und wieder zurück, strengt zwar mitunter an, trifft aber mit seinen akkuraten, expressionistischen Bildarrangements durchaus den Schöngeist. 

Macbeth (2021)

Die Königin des Nordens

GAME OF THRONES IN ECHT

8,5/10

 

koenigindesnordens© 2021 Zuzana Panská / SF Studios

 

LAND / JAHR: NORWEGEN, SCHWEDEN, DÄNEMARK, ISLAND, TSCHECHIEN 2021

REGIE: CHARLOTTE SIELING

CAST: TRINE DYRHOLM, MORTEN HEE ANDERSEN, SØREN MALLING, JAKOB OFTEBRO, BJORN FLOBERG, THOMAS W. GABRIELSSON, AGNES WESTERLUND RASE U. A. 

LÄNGE: 2 STD 1 MIN


Nein, bei dieser Königin des Nordens handelt es sich nicht um Sansa Stark – Kenner und Freunde der High-Fantasy-Reihe von George R. R. Martin wissen, wen ich damit meine. Doch man braucht längst keine entrückten Welten mehr, will man ähnliche Charaktere in der europäischen Geschichte finden. Natürlich sind historische Persönlichkeiten, noch dazu aus dem dunklen Mittelalters, nur fragmentarisch umschrieben. Also werden die Lücken gefüllt – wie bei der Restauration eines altertümlichen Artefakts, mit der Billigung künstlerischer Freiheit.

Statt Sansa Stark behauptet sich also Margarethe I. über große Teile Skandinaviens – es ist dies die Kalmarer Union, bestehend aus Dänemark, Schweden und Norwegen. Jemals was von Margarethe I. gehört? Ich jedenfalls nicht, und umso dringender schien es mir, mein Allgemeinwissen in Sachen europäischer und dezentraler Geschichte aufzufüllen. Es ist zwar ungefähr klar, was zu dieser Zeit rund um Deutschland und Österreich alles passiert ist – der Norden hingegen stand zumindest bei vielen Gelegenheiten nicht am Programm. Die charismatische Erscheinung der Königin – einnehmend, differenziert und in ihrem Verhalten vollkommen nachvollziehbar dargestellt von Trine Dyrholm – hinterlässt also beim nordischen Adel einen gehörigen Eindruck. Und selbst die Briten denken darüber nach, einer Heirat mit Thronfolgerin Philippa und Margarethes Adoptivsohn Erik zuzustimmen. Als das Bündnis zwischen Briten und der Kalmarer Union kurz davor steht, besiegelt zu werden, taucht plötzlich ein Mann auf, der steif und fest behauptet, Margarethes tatsächlicher Sohn Olav zu sein. Dieses scheinbar inszenierte Schicksal wird die gesamte nordische Politik durcheinanderbringen, während der deutsche Orden bereits die Zähne fletscht.

Ridley Scott hat mit seinem ungewöhnlichen Mittelalterdrama The Last Duel schon alles richtig gemacht. Die Dänin Charlotte Sieling kann das sogar noch besser: Ihr historischer Politthriller könnte bereits jetzt schon eines der filmischen Highlights dieses Jahres sein und sich einen Platz in meinen Bestenlisten gesichert haben. In seiner Düsternis, seiner Intensität und in der Entwicklung der Charaktere, für die es normalerweise ganze Serienstaffeln braucht, Sieling dies aber innerhalb von zwei Stunden lückenlos hinbekommt, ist Die Königin des Nordens eines der besten historischen Dramen der letzten Jahre. Warum? Es gibt zuerst mal einen dicken, roten Faden – das ist die Charakterstudie der Margarethe, die zwischen Familiensinn und dem Wohl der Union so sehr zerrissen scheint, dass sie gar im stürmischen Regen gegen die tosenden Wellen anbrüllen muss. Es ist der etwas dünnere, aber sich ebenfalls durchziehende zweite rote Faden über König Erik – auch er kein Böser und kein Guter, eine gekränkte, aber ehrliche Persönlichkeit. Morten Hee Anderson bietet ganze Breitseiten an inneren und äußeren Konflikten. Um die beiden herum das Geflecht aus Intrigen und Feindseligkeiten, das Zerreißen politischer Lager und unvorstellbarste Konsequenzen, die eine Mutter nur ziehen kann. Unterlegt mit einem wohldosierten dramatischen Score gerät der Norden Europas zu einem unwirtlichen zweiten Westeros, zu einer shakespear’schen Bühne, auf deren Boden Opfer gebracht werden müssen, ohne die Politik anscheinend niemals funktionieren kann.

Die Königin des Nordens

Ophelia

EIN JEDI AM KÖNIGSHOF

5/10

 

OPHELIA_D1_051517_DSC9651.NEF© 2018 Koch Films

 

LAND: USA, GROSSBRITANNIEN 2018

REGIE: CLAIRE MCCARTHY

CAST: DAISY RIDLEY, GEORGE MACKAY, NAOMI WATTS, CLIVE WOWEN, TOM FELTON, DAISY HEAD U. A. 

 

Mit dem letzten Drittel der Star Wars-Saga ist sie als Rey Namenlos in die Filmgeschichte eingegangen: Daisy Ridley. Ja tatsächlich, da hatte sie das letzte Wort, in einer starken Heldinnenrolle, die zumindest mich vollends überzeugt hat. Da Star Wars jetzt vorbei ist, und sie auch womöglich niemals wieder in die Rolle eines Jedi schlüpfen wird, erscheint nun eine bereits zwei Jahre alte, aber immerhin eine ganz andere Produktion, um die Schauspielerin auch gleich rollentechnisch anders zu positionieren, sonst wiederfährt ihr Gott behüte das gleiche wie Mark Hamill, der nach dem Hype der Originaltrilogie im Filmbiz nur noch schwer Fuß fassen konnte. Ihre neue Alternativrolle ist aber auch nichts, was man nebenbei spielt. Es hat mit Shakespeare zu tun, und noch dazu gleich mit einem seiner berühmtesten und massentauglichsten Stücke neben Romeo und JuliaHamlet. Aber keine Sorge, die Interpretation der Geschichte des verhinderten Dänenprinzen ist kein weiterer wortgetreuer Aufguss in vielleicht modernem Gewand. Diese Geschichte hier wird ganz anders erzählt. Und da sind wir wieder bei Daisy Ridley, die sich eine nicht weniger schillernde Rolle als ihre Rey hernehmen muss: die der Ophelia. Was mir dabei immer gleich einfällt, ist das berühmt Zitat: „Geh in ein Kloster, Ophelia!“ Ja klar, letzten Endes wird sie das tun, aber bis dahin passiert so einiges Tragisches, diesmal aber aus Sicht des weiblichen Sidekicks. So etwas Ähnliches gab es auch schon, nur nicht aus der Sicht einer Frau, sondern aus der Sicht der beiden Haudegen Rosenkranz und Güldenstern, nach einem Theaterstück von Tom Stoppard (siehe Shakespeare in Love). Doch diese beiden bekommt man in dieser Verfilmung kaum zu Gesicht. Denn die Kamera, die ist voll und ganz auf Daisy Ridley gerichtet.

Aus gutem Grund, denn sie macht eine außerordentlich gute Figur. Mit ihrer roten Mähne, leicht dauergewellt (erinnert ein bisschen an Cate Blanchetts Version der Elizabeth I.) und meist in grünem Kleid. Weiters ein heller Blick, nonkonform und mit Sinn für Humor. Klar, dass Hamlet voll drauf abfährt. Den spielt übrigens der Soldat aus Sam Mendes Kriegsfilm 1917 – George MacKay. Doch den Irrsinn und den Rachedurst dieses Bühnenhelden, so wie wir ihn kennen, den hat er nicht. Wäre aber nicht so tragisch, all diese Intrigen mitsamt dem Niedergang eines Königshauses ist schon tragisch genug, und außerdem handelt Claire McCarthys Kostümschinken ja vermehrt von Ophelia. Ein bisschen duckmäuserisch ist diese angesichts der dominanten Blaublüter innerhalb der herrschaftlichen Mauern schon, doch mit Sicherheit ist das dem Steckbrief der Rolle geschuldet. Auf Abruf und nur nicht auffallen, das kann Daisy Ridley auch gut, doch spätestens aber, wenn der an die Macht geputschte Clive Owen mit Javier Bardem-Gedächtnisfrisur handgreiflich wird, geht der Star Wars-Star ein bisschen aus sich heraus, obwohl –  der gespielte Wahnsinn will auch ihr nicht so recht gelingen. Was zum Rest des Films passt. Denn Ophelia, nach der Vorlage eines Liebesromans von Lisa Klein, bemüht sich sichtlich, nicht ganz so gestelzt seine Anweisungen aus dem Regie-Off durchzuführen. McCarthys Film ist ein Spielen nach Vorschrift, ein bisschen wie ein Sommertheater auf irgendeiner Ruine, wo nebenbei noch Gefrorenes geschleckt oder Spritzer gerunken werden. Nachher flaniert man gemütlich durch den lauen Abend, ohne Eile. Oder trifft die Stars noch auf ein Autogrammstündchen. Gegen diese volkstümliche Attitüde sprechen natürlich all die üppigen Requisiten, und auch diese besonders illustre Besetzungsliste, in die sich auch noch Naomi Watts reinschummelt, und zwar in einer Doppelrolle. Blass bleiben sie fast alle, blass und leicht verloren, und kein bisschen gewillt zu improvisieren.

So lässt sich irgendwie verstehen, dass Ophelia fürs Heimkino allemal reicht. Da sind ganze Regentschaften zwischen diesem und Filmen wie Shekhar Kapurs Elizabeth. Für Fans von Daisy Ridley allerdings ist Ophelia fast ein Muss. Ob die ganze klassische Tragödie aus der Sicht von Hamlets Flamme wirklich so einen erfrischenden Perspektivwechsel darstellt, bleibt aber fraglich.

Ophelia

The King

SCHLACHTEN, DIE GESCHICHTE MACHTEN

8/10

 

theking© 2019 Netflix

 

LAND: GROSSBRITANNIEN, UNGARN, AUSTRALIEN 2019

REGIE: DAVID MICHÔD

CAST: TIMOTHÉE CHALAMET, JOEL EDGERTON, SEAN HARRIS, BEN MENDELSOHN, LILY-ROSE DEPP, ROBERT PATTINSON U. A.

 

Issos, Actium, Dürnkrut oder Hastings – Wendepunkte der Geschichte, mit Schwert, Schild und Kriegsgerät erzwungen. Hätte die jeweils andere Partei gewonnen, hätten wir eine gänzlich andere Gegenwart und wäre Europa nicht zu dem geworden, was es ist. Kriege also, die waren die Politik der Antike, des Mittelalters und weit darüber hinaus. Statt Wahlduelle im Fernsehen Schlachten, die Geschichte machten. Zu eingangs erwähnten Eckpfeilern aus Tod und Verderben gesellt sich die alles andere als unter ferner Liefen geschlagene, legendäre Schlacht von Azincourt am 25. Oktober 1415: England gegen Frankreich, mit der die zweite Phase des bis 1453 andauernden 100jährigen Krieges begann. Unter flatterndem Banner und mit Gottes Segen: Heinrich V. Widerspenstiger Prinzensprössling und später König wider Willen – idealistisch, besonnen und klug, leider aber auch leicht beeinflussbar. Mit der Schlacht bei Azincourt schrieb der junge Mann aufgrund seiner taktischen Asse im Ärmel wie Langbögen und Kriegern in leichten Rüstungen schwarze Zahlen, denn mit dem Gemetzel im herbstlichen Schlamm, das bis heute als strategische Ausnahmeerscheinung zur Schlachtenanalyse gilt, hat sich England zumindest für kurze Zeit den Westen Europas unter den gerissen. Der Australier David Michöd (u. a. The Rover mit Robert Pattinson) hat für seinen Heinrich V. besetzungstechnisch die absolut richtige Wahl getroffen: Timothée Chalamet brilliert mit mediävalem Undercut und verbissenem Trotz als die puristische Version einer shakespeareschen Theatergestalt, frei von Versen und pathetischem Gehabe, was ihn aber nicht davon abhält, Gänsehaut erzeugende Schlachtenreden zu halten. An seiner Seite ein so bäriger wie bärtiger Joel Edgerton, nicht minder originär – und als Antagonist (zumindest aus der Sicht der Briten) der mittlerweile enorm wandelbare Robert Pattinson in wohl einer seiner besten Nebenrollen.

Da der Cast bis in ebensolche hinein eine charakterlich völlig autarke Dramatis Personae um sich geschart hat, bedarf es nur noch eines geharnischten Sprungs von den Schiffsplanken bis zu festgestampftem Boden packenden Geschichtskinos, die Michöd mit The King mehr als gelungen ist. Tatsächlich darf der Streamingriese Netflix stolz sein, mit diesem brandneuen Schlachtenepos endlich mal wieder den fahrig produzierten On-Demand-Einheitsbrei hinter sich gelassen und neben Alfonso Cuarons Roma die bislang beste Produktion in seinen Bauchladen aufgenommen zu haben. Dem fast zweieinhalb Stunden langen Film (dessen Laufzeit man ihm nicht anmerkt) gelingt es, die wuchtige, aufgewühlte, spannende Intensität historischer Meisterwerke wie Elizabeth von Shekhar Kapur mühelos zu erreichen. Und das, weil Michöd sich eigentlich nur auf eines konzentriert – auf die penible Rekonstruktion eines nachhaltigen Kräftemessens, mit dem Anspruch, so detailliert wie möglich auf all die Wägbar- und Unwägbarkeiten der beiden Parteien in dieser Konfrontation einzugehen. Michöd und Edgerton haben da ein ausgezeichnetes, zwischen Vorgeschichte und Höhepunkt perfekt abgestimmtes und ausgewogenes Drehbuch entworfen, dass seinen Charakteren genauso viel Luft lässt wie den Blut- und Boden-Fakten der epochalen Schlacht. Und selten zuvor, nicht mal in Game of Thrones, hat man jemals gesehen, wie sich von Kopf bis Fuß geharnischte Ritter wie hier auf der vom Regen morastigen Wiese bei Azincourt den Rest geben. Das ist ein Blechsalat, den muss man gesehen haben, das ist ein Kampf, der letzten Endes keine Gefangenen macht. Dabei lässt Michöd expliziter Gewalt kaum Spielraum, und wenn, dann nur, wenn unbedingt nötig. Der Film ist zwar brutal, weil mittelalterliche Schlachten eben brutal sind, doch gerät die Gewalt nicht zum Selbstzweck, sondern bleibt archaische Notwendigkeit, wenn es darum geht, dem frechen, überheblichen Dauphin Frankreichs wortwörtlich den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

Wer eine Leidenschaft für Geschichte hat, wer das späte Mittelalter in seiner kühnen, kalten, bitteren Rauheit und seinem Kalkül aus Vergeltung, Bestrafung und Barmherzigkeit unter Freunden faszinierend genug findet, der sollte um The King keinen Bogen machen. Sondern lieber den Bogen spannen – um irgendwie dabei zu sein, in einem Gefecht, das mit urtümlichen, gemäldeartigen Bildern und erdigen, kargen Kontrasten in ein Damals lädt, wo Könige noch an vorderster Front waren. Und wir hintendrein.

The King

Der König der Löwen (2019)

AUDIENZ IN GRZIMEKS TIERWELT

7,5/10

 

koenigderloewen© 2019 Walt Disney Germany

 

LAND: USA 2019

REGIE: JON FAVREAU

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): DONALD GLOVER, JAMES EARL JONES, BEYONCÉ, CHIWETEL EJIOFOR, SETH ROGEN U. A. 

 

Vor ein paar Monaten erst lief die Realverfilmung eines fast schon antiken Klassikers aus dem Hause Disney in den Kinos – Dumbo. Tim Burton hat sich dafür auf den Regiestuhl gesetzt und ist die Umsetzung in dämmerungslichterner CGI-Optik und mit gänzlich anderer Geschichte angegangen. Darin eingebettet: ein famos animierter Elefant mit Riesenohren, von dessen ledriger Haut beim Schaumbad echte Bläschen perlen. Für den Sommer gibt es dann einen Blockbuster, der erstens mal das dem neuen Dumbo wohlgesonnene Publikum als auch Liebhaber pittoresker Großwildsafaris in die Kinos zu locken vermag: Die – sagen wir mal – reale Unplugged-Version von Der König der Löwen, ohnehin wohl erfolgreichster Zeichentrickfilm, mittlerweile auch schon über 20 Jahre alt und nicht nur zuletzt durch Elton Johns Circle of Life ein Augen- und auch Ohrenschmaus. Da sowieso eigentlich jeder Löwen mag, und Kinder sowieso auf Tiere stehen, und des weiteren viel zu wenige Universum-Dokus auf großer Leinwand laufen, ist diese marktanalytische Milchmädchenrechnung fast schon deppensicher. Von voreingenommener Skepsis mal abgesehen, da Der König der Löwen aus 1994 natürlich seine Fangemeinde hat und nicht so mir nichts dir nichts nachverfilmt werden kann. Dafür muss die nun brandaktuelle Interpretation alle und vielleicht auch ganz neue Stückchen spielen.

Neue spielt sie zwar nicht, aber alle. Zumindest mal optisch. Da würde ich gerne einen Blick hinter die Kulissen werfen, Teil des Produktionsteams sein, und wenn auch nur als Hospitant, um zu sehen, mit welchen Informationen die Hard- und Software arbeitet, um Bewegung, Physiognomie und Beschaffenheit diverser Tierarten so naturgetreu nachzubilden. Gut, es gibt einige Maler, die haben das schon lange praktiziert, allerdings unbewegt. Fotorealistische Bildnisse von Geparden, Antilopen, Tigern und so weiter. Wo zwei Blicke oft nicht reichen, um zu erkennen, dass es sich bei diesen Bildern um Gemälde handelt. Warum sollte das ein Computer nicht auch hinbekommen? Mit den nötigen Informationen zu Anatomie und Bewegung kann da schon gut und gerne eine Welt entstehen, die unserer sehr nahe kommt, und die sich so anfühlt, als säßen wir bei Bernhard Grzimek im Zebraflieger oder irgendwo im Busch, um waschechtes Wildlife zu beobachten. Als wäre wieder Dienstagabend und Universum würde sich einmal mehr einer beliebten Region unserer Erde widmen, nämlich dem Rift Valley. Wäre es notwendig gewesen, die Natur nachzugenerieren, nur weil die Technik es kann? Nicht, wenn keine Fabel erzählt werden will.

Diese ist ein Königsdrama in einer menschenlosen Welt, irgendwo zwischen Shakespeares Hamlet und Serengeti darf nicht sterben, und sogar eine Brise Black Panther ist dabei, im Grunde ja auch ein Spiel der Throne. Mit dieser genialen Animationstechnik lässt sich eben der böse Löwe Scar als böser Löwe darstellen, mit Narbe, sinistrem Augenspiel und fettiger Mähne. Wie man einen Bösen eben darstellt. Als zoologisch versierter Talent-Scout hätte man womöglich lange suchen müssen, um einen solchen Löwen tatsächlich zu finden. Scar in seinem Charakter und seiner machtgierigen Egomanie wie einst Richard III ist sowieso ein Highlight des Films, wenn nicht das Highlight überhaupt. Und dass ein Erdmännchen auf einem Warzenschwein sitzt, ist auch nur dann möglich, wenn die Einsen und Nullen dahinter menschliches Verhalten dulden. Also warum nicht Fotorealismus im Kino, warum nicht mit der Magie des Kopierens einer vertrauten Natur uns alle zum Staunen bringen? Mich hat es erstaunt, und es ist wie geglückte Illusionskunst, auch wenn ich mir das Making Of zumindest ansatzweise erklären kann. Das Drama selbst? Gut überschaubar, nicht auf Dichtheit getrimmt, nicht kompliziert, sondern angenehm geradlinig, wie in Disneys alten Klassikern. Wenn dann das opernhafte Finale auf der Felsenzunge hoch über der Savanne seinen Anfang nimmt, dann sind das mächtige Szenen, eines Königsdramas würdig, in denen der Tod an der Tafel sitzt, und wo das in Nacht getauchte Land vor Flammen lodert. Die sich windenden Muskelpakete der kraftstrotzenden Monarchen wirken wie schwerelos scheinende Skulpturen barocker Steinmetzkunst, ineinander verschlungen und fauchend, immer dann, wenn der Wind die Mähnen bauscht. Das ist großes Kino.

Weniger groß ist der Versuch, mit der Bildgewalt musikalisch mitzuziehen. Zumindest in der deutschsprachigen Synchro – und die auch nur, um den Nachwuchs nicht unnötig anzustrengen – liegt der Verdacht nahe, Helene Fischer am Mikro zu haben, das macht das Ganze deutlich weniger erdig und vielleicht auch etwas seifig, theoretisch ließe sich Elton Johns Welthit auch anders interpretieren. Wenn nicht unbedingt notwendig, dann empfiehlt sich Der König der Löwen im englischen Original ungeschaut eher als auf deutsch, und hätte ich den Film auf Englisch gesehen, wäre der Genuss einer ohne Abzüge, die ich fairerweise bringen muss, um meine Wertung zu erklären. Als Wildtierfotograf und Tierliebhaber aber sehe ich mich emotional ertappt und muss zugestehen, dass Disney auch diesmal wieder gezeigt hat, wo die Benchmark derzeit liegt, nämlich erstaunlich hoch, und wieder ein bisschen höher als bei Dumbo, vor allem, wenn der Vergleich zum realen Vorbild fehlt. Hätten wir den, wäre womöglich immer noch Luft nach oben. Aber ich denke, daran wird gearbeitet.

Wer sich noch an Jean-Jacques Annauds Der Bär erinnern kann, weiß vermutlich noch, wie die animalischen Darsteller da gelitten haben. Für solche Geschichten müsste man heutzutage kein Lebewesen mehr nötigen – das machen die vielen Superhirne vor den Monitoren, die so etwas zaubern wie Der König der Löwen. Traurig wird es dann, wenn das reale Pendant zu solchen Filmwelten irgendwann nicht mehr ganz so prächtig strahlt, und wir nur noch im Kino sehen dürfen, wie der Soll-Zustand solcher Habitate eigentlich auszusehen hat. Dann bekommt das ganze einen zynischen Nachgeschmack, und spätestens dann sollte Disney aufhören, solche Filme zu drehen. Filme nämlich vom Trouble in Paradise, inkognito und fernab unserer Beobachtung.

Der König der Löwen (2019)

Macbeth (2015)

IM NEBEL DER DICHTUNG

6/10

 

macbeth© 2015 Studiocanal

 

LAND: GROSSBRITANNIEN 2015

REGIE: JUSTIN KURZEL

CAST: MICHAEL FASSBENDER, MARION COTILLARD, DAVID THEWLIS, PADDY CONSIDINE, JACK REYNOR U. A.

 

So eine Witterung ist gut für die Nebenhöhlen. Morgens raus auf auf die baumlosen Ebenen des schottischen Hochlands und den dichten Bodennebel mal so richtig durchziehen lassen. Obendrein ist Feuchtigkeit auch noch gut für die Haut. Wenn man da nicht auch noch gleich in eine Schlacht verwickelt werden müsste, die Heerführer Macbeth gegen die Widersacher des schottischen Königs Duncan auszutragen hat. Da gibt die feuchtkalte Luft auch optisch einiges her, vor allem, wenn das Licht im flachen Winkel auf die in Superzeitlupe heranstürmenden Schotten trifft. Bei so viel Grazie von Mord und Totschlag fangen Anhänger der LARP-Gemeinschaft (Live Act Role Play) womöglich das Träumen an. Das ist in Szene gesetztes Mittelalter, da reicht die hauseigene Digicam, sofern man die Schlachten nachstellen will, auch nicht mehr aus. All die schmerzverzerrten Gesichter wie aus der Zeit gefallene Fotografien, fast schon bis zum Stillstand verlangsamte Leiber im diffusen Dampf, gestaffelt bis zur erahnbaren Spukerscheinung, ganz vorne der Hauptakteur dieses blutgetränkten Dramas, welches keine andere Tragödie sein kann als die des Usurpators Macbeth, auf immer verewigt von William Shakespeare. In der Hand das Schwert. Diese Waffe aus Stahl, die ist längst mehr als nur ein Werkzeug, um zu töten. Das wissen wir seit Excalibur. Seit Balmung. Seit Bilbo´s Stich. Wenn die Klinge im feuchten Boden steckt, leicht vibrierend, dann ist etwas Weltbewegendes passiert. Solche Szenen, die sind ikonisch und eignen sich bestens für ein Theater wie dieses.

Justin Kurzel, der sich später in ähnlich vergeistigter Manier an die Videospielverfilmung Assassins Creed herangewagt hat und für manche zu oft Stimmung mit packender Geschichte verwechselt hat, erarbeitete sich den Beweis seines Könnens mit einem zentnerschweren Brocken Literaturgeschichte. Macbeth inszeniert und spielt man einfach nicht nur so. Das will ins richtige Licht gerückt werden. Und am besten noch in den originalen Versen eines Shakespeare erzählt werden. Da passt die sphärische Bilderflut in den gestreuten Farben des Fegefeuers natürlich bestens dazu. Und Macbeth kann noch so klassisch und unkritisierbar sein – es ist die Geschichte eines von vielen Tyrannen, die sich an die Macht intrigiert und getötet haben, in wütender Barbarei geherrscht und dann schmählich untergegangen sind. Die blutige Tragödie aus dem sehr frühen 17. Jahrhundert lebt natürlich in erster Linie zumindest gegenwärtig von den wohlklingend ausformulierten Worthülsen, die die Chronik einer finsteren Regentschaft in eine atemberaubende Sprache kleiden. Das todessehnsüchtige Intrigenspiel als solches ist aber in Zeiten detailverliebter Mittelalterdystopien wie Game of Thrones zwar nach wie vor ein dankenswerter Einstand, auf den Filmemacher und Romanschreiber respektvoll zurückblicken – in Anbetracht der Erwartungshaltung der Genre-Fans bleibt Macbeth grob umrissen, auf die Eckpfeiler der Historie reduziert und viel zu getragen, um emotional mitzureißen. Da macht es auch keinen großen Unterschied, ob das Königsdrama rein fiktiv oder historisch fundiert ist. Das mag für eingefleischte Schotten vielleicht relevant sein, für alle anderen ist das Schicksal von König Macbeth und seiner besseren Hälfte, die Lady selbigen Namens, ungefähr genauso fern wie Westeros.

Dennoch beschert uns Regisseur Kurzel einen wuchtigen Augenschmaus zwischen Schattentheater, flackerndem Kerzenlicht und feuchtkalter Ödnis – Szenerien, die die Möglichkeiten einer Theaterbühne geschickt erweitern (es sei denn, wir haben es mit Bühnen wie jener des Wiener Burgtheaters zu tun, die eigentlich fast schon alles kann). Michael Fassbender in Kriegsbemalung und als gekröntes Haupt ist vielleicht nicht die absolut ideale Wahl für so ein irrsinniges Machtmonster wie Macbeth, da fehlt mir dann doch der Wahn des Alleinherrschers, dafür ist Fassbender zu folgsam und zu sehr verliebt in seine Verse, die er da sprechen muss. Das kann bei Schauspielern, die Shakespeare über alles stellen, relativ leicht passieren. Marion Cottilard hingegen ist erwartungsgemäß entrückt wie es die Rolle auch vorschreibt, ihr Zwiegespräch mit dem verstorbenen Nachwuchs ein schauderhaftes Highlight.

Macbeth ist also nicht ganz die unvergessliche Interpretation des Barock-Dichters mit Halskrause, wobei Sir William wohl zufrieden wäre mit all den Tänzen aus Licht und Schatten, die seine Worte zweifelsohne effektiv verstärken.

Macbeth (2015)